Protocol of the Session on May 23, 2007

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fordere Sie, die selbsternannte Koalition der Erneuerung, auf, sich konsequent umzubenennen in Koalition der Kinderrechtsverletzung, Koalition der Elternrechtsverletzung

(Zurufe von CDU und FDP – Ralf Witzel [FDP]: Hilfe!)

und in Koalition der Zwangszuweisung.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich fordere Sie auf, den Prognoseunterricht aus dem Schulgesetz zu streichen und Kindern den diskriminierungsfreien Zugang zu allen Bildungschancen und Bildungslaufbahnen im Alter von neun Jahren nicht zu verwehren.

Die schwarz-gelbe Übergangs- und Sortierphilosophie hat sich selbst nach ihrer eigenen Logik ad absurdum geführt. Knapp 40 % der Kinder, die durch den Prognoseunterricht mussten, können nun entgegen der von der Grundschule ausgesprochenen Empfehlung die Schulform nach ihrer Wahl besuchen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es entspricht auch den bisherigen Ergebnissen der Bildungsforschung, dass mindestens 40 % der Empfehlungen die Potentiale der Kinder nicht richtig beurteilt haben.

Was heißt das in der Konsequenz für die 189.000 Grundschulempfehlungen, die in diesem Jahr ausgesprochen worden sind? Mehr als 75.000 Kinder sind damit nach Ihrer Philosophie vielleicht in der falschen Schulform gelandet. Aus der Studie wissen wir doch sehr genau, dass die Grundschulempfehlungen nur sehr bedingt belastbar sind.

(Beifall von den GRÜNEN)

Am perfidesten in der ganzen Angelegenheit ist aber, dass Sie sich aufschwingen und laut rufen, Sie müssten die Kinder vor bestimmten Schulformen bewahren, die ihnen nicht zuzumuten seien, Sie müssten ihnen Misserfolge ersparen. Es ist ein Trauerspiel.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Es ist ein Trauerspiel, dass Sie offensichtlich und mit unerschöpflicher Beharrung daran festhalten, dass sich Kinder den Schulen

(Ralf Witzel [FDP]: Traurig ist, wie Sie die Kinder scheitern lassen!)

und besonders den verschiedenen Schulformen anzupassen haben. Anders herum ist es richtig: Die Schulen müssen lernen, die Kinder mit ihrer Vielfalt und Verschiedenheit wertzuschätzen, aus der Vielfalt und Verschiedenheit einen Mehrwert für Kinder und für das Lernen zu schöpfen.

Ich sage ganz klar: Es ist ein Trauerspiel, dass sich ein Wissenschaftlicher wie Prof. Bos zum Steigbügelhalter eines verqueren Selektionsmechanismus macht, zumal Herr Bos auf direkte Nachfrage in einer Diskussion mit dem Kollegen Tillmann zugeben musste, der durch ihn mit zentralen Aufgaben gefütterte Prognosenunterricht

würde die Prognosesicherheit maximal ein bisschen verbessern.

Prognosensicherheit, Frau Ministerin, das ist in der Tat das Stichwort, bei dem auch Rechtsexperten Alarm schlagen – und das zu Recht. Das Ministerium für Schule und Weiterbildung hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich bei Florian Meinel vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin zu beschweren. Das scheint so ein Muster zu sein: Wenn Ihnen etwas nicht passt, wird gleich der Finger draufgehalten. Er hat glatt die Unverfrorenheit besessen, in der Zeitschrift „Die öffentliche Verwaltung“ die schulgesetzliche Rechtslage der Prognose in Frage zu stellen.

Herr Meinel erläutert es auch noch einmal treffend in seinem Antwortbrief an das Ministerium für Schule und Weiterbildung, den er mir aufgrund meiner Kleinen Anfrage zur Kenntnis gegeben hat. Ich zitiere daraus:

„Die Bildungsprognose ist nicht nur deswegen problematisch, weil Prognosen und Planungsentscheidungen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes nur einer eingeschränkten Überprüfung durch Verwaltungsgerichte unterliegen, sondern eben auch, weil sich Prognosen immer durch das Fehlen wirklich sicherer materieller Maßstäbe auszeichnen. In dieser Situation fehlender Gewissheit spricht Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz nicht dem Schulamt, sondern gerade den Eltern das Recht und die Verantwortung der Entscheidung zu.“

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Weiter führt er aus:

„In den argumentativen Kontext des Förderstufenurteils hinein formuliert bedeutet das: Im NRW-Schulgesetz wird das Wahlrecht der Eltern zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulformen eben mehr als notwendig begrenzt.“

Frau Beer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Witzel?

Gleich. Jetzt führe ich erst weiter aus. Dann bleibt noch genug Zeit.

Gut, dann halten wir das fest.

Eltern wollen gegen den bildungspolitischen schwarz-gelben Unfug Prognoseunterricht klagen. Eltern werden das tun,

Stadtschulelternschaften und Elternverbände vermitteln dazu gerade Rechtsberatung. Ersparen Sie sich, ersparen Sie den Eltern Klageverfahren und Petitionen, die wir im Petitionsausschuss schon angekündigt bekommen haben! Begründungen wie, ein Kind sei nicht für das Gymnasium geeignet, weil es zu zurückhaltend sei und Bestätigung brauche, um angemessen Leistung zu erbringen, sind eine Zumutung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Solche Zumutungen sind gegenüber Kindern und Eltern ausgesprochen worden. Das ist unglaublich. Der Prognoseunterricht insgesamt ist eine Zumutung, die Sie schnellstens in NRW aus der Welt schaffen sollten. Sie sollten den Weg für das längere gemeinsame Lernen ohne Selektion freimachen.

Herr Witzel, jetzt widme ich mich Ihnen gerne auch noch.

(Beifall von den GRÜNEN)

Bitte schön, Herr Witzel, dann widmen wir Ihnen auch das Mikrofon.

Das ist ausgesprochen freundlich, Herr Präsident, und auch sehr nett von Ihnen, Frau Beer. – Ich habe eine Nachfrage, weil Sie eben auf das Grundgesetz abgestellt haben, das nach meinem aktuellen Kenntnisstand für gesamte Bundesrepublik Deutschland gilt.

Meine Frage: Was sind Ihre rechtlichen Gründe, die Sie zu der Annahme führen, dass qualitative Kriterien als Eintrittsvoraussetzung für den Besuch bestimmter Bildungsgänge in Süddeutschland rechtlich unproblematisch sind, aber gerade in Nordrhein-Westfalen nicht gehen.

Meine zweite Frage, wenn ich die anschließen darf …

Sie dürfen eigentlich nur eine Frage stellen, Herr Kollege.

Semikolon:

(Heiterkeit)

Und Sie könnten in dem Zusammenhang noch ergänzen, ob ich Sie dahin gehend richtig verstanden habe, dass zukünftig jeder auch ohne Hochschulzugangsvoraussetzung studieren soll.

Ich weiß nicht, wie Sie zu der letzten Frage kommen. Das Abitur ist hier nicht Thema gewesen, sondern der Zugang zu

höherer Qualifikation, den Sie permanent beschneiden, wobei Sie den Kindern die Bildungschancen im Augenblick wegnehmen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Die Frage des Prognoseunterrichts ist eben nicht verwaltungsgerichtsfähig. Sie entzieht Eltern Rechte, weil es keine materiellen Erkenntnisse aus dem Prognoseunterricht gibt.

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Das ist eben nicht materiell zu erhärten. Auf diese rechtliche Auseinandersetzung werden Sie, die Koalition der Zwangszuweisung, sich noch einzustellen haben.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Beer. – Für die CDU-Fraktion hat jetzt Kollege Ratajczak das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Beer, Sie sollten sich erst einmal an die eigene Nase fassen, bevor Sie uns vorschlagen, uns umzubenennen. Fangen Sie erst einmal an, sich in die Fraktion der dummen Polemik und der Unverschämtheiten umzubenennen.

(Horst Becker [GRÜNE]: Das ist unglaub- lich!)

Dann sind wir einen Schritt weiter. Denn was Sie gerade geleistet haben, war wirklich unfassbar. Aber zurück zu Ihrem Antrag.

(Horst Becker [GRÜNE]: Was Sie machen, ist unglaublich!)

Herr Becker, setzen Sie sich hin und beruhigen Sie sich. Alles wird gut.