Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, der 59. Sitzung des Landtags NordrheinWestfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.
Für die heutige Sitzung haben sich 14 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung kommen wir zur Verpflichtung eines neuen Abgeordneten verpflichten. Die Landeswahlleiterin hat mir mit Schreiben vom 30. März 2007 mitgeteilt, dass Herr Dr. Gero Karthaus aus der Landesreserveliste der SPD als Nachfolger des ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Axel Horstmann mit Wirkung vom 3. April 2007 Mitglied des Landtags geworden ist.
Ich bitte Herrn Dr. Karthaus, zu mir zu kommen, damit ich die nach § 2 unserer Geschäftsordnung vorgesehene Verpflichtung vornehmen kann.
Ich bitte Sie, die folgenden Worte der Verpflichtungserklärung anzuhören und anschließend durch Handschlag zu bekräftigen:
„Die Mitglieder des Landtags von NordrheinWestfalen bezeugen vor dem Lande, dass sie ihre ganze Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die übernommene Pflicht und Verantwortung nach bestem Wissen und Können erfüllen und in der Gerechtigkeit gegenüber jedem Menschen dem Frieden dienen werden.“
Sehr geehrter Herr Karthaus, ich heiße Sie als neuen Abgeordneten der 14. Wahlperiode herzlich willkommen und wünsche Ihnen viel Erfolg.
Wir treten nun in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein. Zunächst darf ich darauf hinweisen, dass auf Wunsch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Behandlung der Themen „Zweiter Bildungsweg: Elternunabhängiges BAföG erhalten!“ und „Das Kindergartengesetz lässt weiter auf sich warten, weil die Landesregierung kein seriöser Verhandlungspartner ist!“ in umgekehrter Reihenfolge erfolgen soll. – Dagegen sehe ich
Mit Schreiben vom 24. April 2007 hat der Chef der Staatskanzlei mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, den Landtag in seiner heutigen Sitzung zum Thema „Sprachstandsfeststellung und Sprachförderung – Neue Chancen für Kinder in Nordrhein-Westfalen“ zu unterrichten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem im Juni letzten Jahres vom Kabinett beschlossenen „Aktionsplan Integration“ lautet der erste Punkt von insgesamt zwanzig: „Die Landesregierung wird die Sprachförderung vor der Einschulung für alle Kinder verbindlich gestalten und qualifiziert ausbauen.“ – Ziel war es, neue Chancen für Kinder in Nordrhein-Westfalen zu schaffen. Ziel war es auch, dabei das Beherrschen der deutschen Sprache in den Mittelpunkt zu stellen.
Experten, Untersuchungen und die PISA-Studien zumal haben doch immer wieder eines gezeigt: Unser Bildungssystem wird seiner wohl wichtigsten Aufgabe, allen Kindern gleiche Chancen zu eröffnen, und zwar von Anfang an unabhängig von ihrer Herkunft, nicht gerecht. Der Grund ist ein ganz einfacher: Sprachfähigkeit und Lebenschancen sind auf das Engste miteinander verbunden. Weil zu vielen Kindern in unserem Land durch fehlende Sprachfähigkeit diese Lebenschancen verloren gehen, haben wir dieses Thema ganz bewusst an den Anfang unserer Integrations- und Bildungspolitik, unserer Politik auf dem Feld der frühkindlichen Bildung gestellt.
PISA hat aufgezeigt, dass 50 % der Jugendlichen aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte im Lesen noch nicht einmal die elementare Kompetenzstufe 1 erreichen, obwohl über 70 % von ihnen die deutsche Schule vollständig durchlaufen haben. Immer stärker wird erkennbar: Auch vielen deutschstämmigen Kindern fehlt es an der notwendigen Sprachkompetenz.
Dann setzt die bei solchen Defiziten uns allen bekannte grausame Kausalität ein: Wer Sprache nicht ausreichend beherrscht, lernt in der Schule zu wenig, ist plötzlich auch in Fächern, die auf den ersten Blick mit Sprache nichts zu tun haben, schlechter. Schon in der Grundschule sammelt er so erste Erfahrungen im Scheitern. Die weitere Schullaufbahn ist bereits vorgezeichnet. Beim Übergang von der Schule in den Beruf hat er wieder Schwierigkeiten. Das betrifft gerade die Jugendlichen, die heute 15 oder 16 Jahre alt sind und sich gefreut hätten, wenn Sie vor zehn Jahren das gemacht hätten, was wir jetzt begonnen haben.
Diese Kausalität hin zur Perspektivlosigkeit muss so früh wie möglich durchbrochen werden. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist der Schlüssel dazu. Unser Ziel ist, dass jedes Kind bei seiner Einschulung die deutsche Sprache so beherrscht, dass es dem Unterricht von Anfang an ohne Probleme folgen kann. Dann erst kann es Bildungschancen wahrnehmen.
Das ist der Hintergrund, warum die Landesregierung mit dem neuen Schulgesetz der Kollegin Sommer die Voraussetzungen geschaffen hat, ab diesem Jahr den Sprachstand aller Kinder bereits zwei Jahre vor der Einschulung verbindlich erfassen zu können.
Wir haben am letzten Freitag in der Villa Horion die Konferenz der 16 für Integration zuständigen Landesminister durchgeführt. Die Kollegen haben gefragt: Wie kommen wir zu mehr Verbindlichkeit? Wie kommen wir zu Sprachtests in allen 16 Bundesländern? – Sie haben unser Beispiel genommen und gesagt: Lasst uns von euren Erfahrungen profitieren. Wir wollen im nationalen Aktionsplan genau das verankern, was ihr in NordrheinWestfalen gemacht habt. – Es waren auch Sozialdemokraten anwesend, und insofern verstehe ich nicht, weshalb Sie in dieser Frage den Konflikt mit der Regierung suchen und die Kinder verunsichern.
Ich bin stolz darauf, dass wir das erste Land in der Bundesrepublik Deutschland sind, das diesen Schritt geht, das nicht darüber redet, das nicht noch Jahre mit wissenschaftlichen Studien verbringt, sondern das anfängt und Kindern neue Bildungschancen eröffnet. Das ist unser Politikverständnis.
Die erste Stufe dieses zweistufigen Verfahrens ist inzwischen abgeschlossen, und es liegen hierzu die Zahlen vor: 151.000 Kinder im Alter von vier Jahren wurden im März und April dieser Sprachstandsfeststellung unterzogen. Mein Dank gilt allen Fachkräften in den Tageseinrichtungen, allen Erzieherinnen und Erziehern, allen Lehrerinnen und Lehrern für ihr großes Engagement. Dieses Engagement der Lehrerinnen und Lehrer steht völlig im Kontrast zu Ihrer Darstellung des Engagements der Lehrerinnen und Lehrer. Sie stellen es so dar, als ob alle nur klagen würden und Probleme hätten. Die Situation vor Ort ist auch ganz anders, als sie von manchem Lehrerverband beschrieben wird. Die Lehrer sind viel engagierter, als Sie es glauben.
Für die Kinder, deren Sprache altersgemäß entwickelt ist, war die erste Stufe des Tests auch schon das Ende des Tests. Rund 91.000 Vierjährige werden im Mai oder in den kommenden Wochen bis Juni erneut eingeladen; die örtlichen Schulämter haben die ersten Einladungen bereits verschickt. Dieses Mal können auch die Eltern, wenn sie mögen, passiv – wie es heißt – an diesem Test teilnehmen.
Unter den Eingeladenen sind allerdings auch die rund 28.000 Kinder landesweit, die an der ersten Runde gar nicht teilgenommen haben, weil sie noch keinen Kindergarten besuchen, krank waren oder aus sonstigen Gründen fehlten. Hier kommt nun der entscheidende Punkt: Die Kinder, die nicht im Kindergarten sind bzw. gar keine Kindertagesstätte besuchen, sind vielleicht gerade die, die wir insbesondere erreichen müssen, denn ansonsten rückten sie erst bei Eintreten der Schulpflichtigkeit in unser Blickfeld. Das ist auch der Grund, weshalb wir eine Verknüpfung mit der Schulpflicht hergestellt haben. Wir wollen nämlich nicht nur die Kinder im Kindergarten, sondern alle Kinder erreichen, und deshalb bedurfte die Sprachstandserhebung einer Anbindung an die Schulpflicht und an das neue Schulgesetz. Wie viele von diesen 28.000 Kindern tatsächlich Sprachförderungsbedarf haben, lässt sich derzeit noch nicht prognostizieren.
Um es noch einmal zu betonen: Wir haben jetzt rund 63.000 Kinder identifiziert, bei denen im ersten Schritt eine altersgemäße Sprachentwicklung und Kompetenz in der deutschen Sprache nicht mit Gewissheit festgestellt werden konnte.
Diejenigen, die diese Einstufung unternommen haben, wollten sich auf der sicheren Seite bewegen, weshalb man sich darauf verständigt hat, lie
ber einen zweiten Test, eine zweite Feststellung durchzuführen. Viele Kinder werden durch das Bestehen dieses zweiten Tests aus der Gruppe der Kinder mit Förderbedarf gleich herausfallen. Von daher ist das erste Ergebnis auch keine Katastrophe.
Diese zweite, jetzt anlaufende Stufe ist wesentlich differenzierter als die erste. Auch sie wurde mit wissenschaftlicher Begleitung erarbeitet. Die Kinder werden jetzt nicht mehr in Gruppen, sondern einzeln mit einer Grundschullehrerin oder einem Grundschullehrer und gegebenenfalls den Eltern für rund 30 Minuten zusammen sein. Während dieser Zeit sollen sie altersgemäße Aufgaben lösen. Daraus sollen sich Erkenntnisse über Sprachschatz, Wortschatz, Satzbildungs- und Erzählfähigkeit ergeben.
Wenn die Ergebnisse aus der zweiten Stufe der Sprachstandsfeststellung vorliegen und ausgewertet sind, werden die Kinder, die sie brauchen, als Nächstes eine zusätzliche Sprachförderung bekommen, und diese Förderung wird in den den Kindern jeweils vertrauten Kindertageseinrichtungen stattfinden. Für Eltern, deren Kinder nicht in einer Einrichtung angemeldet sind und Sprachförderbedarf bescheinigt bekommen haben, gilt: Sie sind verpflichtet, ihre Kinder an einem entsprechenden Angebot teilnehmen zu lassen, und dies soll in der Regel in den Familienzentren geschehen.
Für die Sprachförderangebote gewährt die Landesregierung zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich 340 € pro Kind mit Sprachförderbedarf, also für zwei Jahre bis zur Einschulung. Der Zuschuss geht an das örtliche Jugendamt, das die Mittel dann an die Träger der Einrichtungen weiterleitet. Über den Einsatz der Mittel entscheidet der Träger in Eigenverantwortung. Die Träger haben die Möglichkeit, die Mittel zu bündeln, also zum Beispiel einzelne Kinder oder kleinere Gruppen aus verschiedenen Kindertagesstätten durch eine Kraft fördern zu lassen. Die Sprachförderung insgesamt wird im neuen Kinderbildungs- und -förderungsgesetz erstmals gesetzlich verankert und somit auch finanziell abgesichert.
Die zusätzliche Sprachförderung soll auf 200 Stunden im Kindergartenjahr angelegt werden und erfolgt altersgemäß in kindgemäßen Alltagssituationen und -bezügen. Das ist etwas anderes als die Crash-Kurse, die Sie bisher durchgeführt haben. Sie haben die Kinder in der Tat ein halbes Jahr vor der Einschulung richtig getestet und dann in Crash-Kurse gesteckt.
Es gibt unterstützende Materialien und methodische Hilfen für die Fachkräfte. Das Land bietet den Trägern seine Unterstützung in der Entwicklung und Auswahl guter Sprachkonzepte an.
Jetzt möchte ich auf einige der Kritikpunkte eingehen und auch darauf, was an Verunsicherung in die Elternschaft und in das Land hineingetragen worden ist.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, es gibt viele Themen, über die man streiten kann. Aber es gibt auch Themen, da sollte man nicht wie hier, wo ein neues Verfahren eingeführt wird, Eltern dadurch verunsichern, wie man darüber streitet.
Frau Altenkamp hat davon gesprochen, hier würde nun ein Kinderabitur, ein Kinderabi, eingeführt. Das führt genau zu dem Leistungsdruck, den Sie nachher beklagen. Sie machen die Eltern verrückt.
Es hat Eltern gegeben, die ihr Kind für das Spiel in einen schwarzen Kommunionsanzug gesteckt haben, weil Sie ihnen suggeriert haben: Wenn da festgestellt wird, dass dein Kind die Sprache vielleicht nicht richtig spricht, hat es Probleme, irgendwann das Abitur zu machen. – Es ist unverantwortlich, wie Sie hier mit Kindern, Eltern und Familien umgehen!