Protocol of the Session on March 29, 2007

Für die antragstellende Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Beer das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Welche Erkenntnisse können wir aus dem diesjährigen Anmeldeverfahren zu den weiterführenden Schulen in NRW gewinnen? Es gibt eine Abstimmung mit den Füßen zum Schulgesetz. Ich will dazu drei zentrale Punkte nennen.

Erstens. Die Hauptschule steht an vielen Standorten vor dem Aus. Eltern wollen für ihre Kinder die Schullaufbahn und die Chance auf einen möglichst hochwertigen Schulabschluss offenhalten, weil sie wissen, dass sich so die Zukunftschancen für ihre Kinder erhöhen.

Zweitens. Eltern misstrauen dem Turbo-Abitur mit der einseitigen Schulzeitverkürzung am Gymnasium und der gleichzeitigen Renaissance eines restaurativen bildungsbürgerlichen Bildungsbegriffs.

Drittens. Die Gesamtschule ist und bleibt eine überaus attraktive und beliebte Schulform in NRW. Die Politik der Nadelstiche der Landesregierung in den vergangenen Monaten hat nicht verfangen. Ich nenne nur: Schulleitungsentlastung, Übergangsempfehlung, bisherige Schlechterstellung bei den Vertretungsstellen im Landeshaushalt und das bewusste Schlechtreden der Leistungen der Gesamtschülerinnen und -schüler in den Probeklausuren durch die Regierungsfraktionen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich nehme die Ministerin an dieser letzten Stelle ausdrücklich aus.

Die Anmeldungen zu den Gesamtschulen sind die Nagelprobe dafür, wie es bei den Regierungsfraktionen wirklich um die Elternrechte steht und ob nur eine bestimmte Elternlobby mit ihren Interessen Gehör findet. Respektieren Sie die Elternentscheidung auch dann, wenn sie nicht ins ideologisch offenbar fest gezimmerte Weltbild passt, wenn Eltern deutlich machen, dass sie mehr Integration im Schulsystem wollen?

(Ralf Witzel [FDP]: Oh!)

Vielleicht hilft es, wenn ich es Ihnen nicht allein vortrage, Herr Witzel, sondern wenn ich auch kommunalpolitisch Verantwortliche zitiere, die längst eine unideologische Haltung eingenommen haben.

In der Zeitung konnte man die Erkenntnis der Bonner CDU-Fraktion lesen, die Hauptschule sei nicht mehr zu retten und die Stadt Bonn müsse sich Gedanken machen, wie man den Forderungen der Eltern nach einer vierten Gesamtschule gerecht werden könne.

(Zuruf von der SPD: Hört, hört!)

Christoph Dehne von der CDU-Ratsfraktion in Emsdetten stellte unlängst fest, eine Ablehnung weiterer Gesamtschulen werde den gegebenen Erfordernissen nicht gerecht. Ich zitiere:

„Wir müssen uns dieser Diskussion stellen, weil die Eltern für ihre Kinder nach der Gesamtschule bessere Zukunftsaussichten sehen.“

Nach jahrelangem erbitterten Festhalten am gegliederten Schulsystem gestehen selbst CDUVertreter im Schulausschuss in Paderborn ein, dass jetzt neu diskutiert werden muss und die Bereitschaft besteht, über eine zusätzliche Gesamtschule nachzudenken.

Es bleibt festzustellen: Gesamtschulen boomen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Mehr als 17.000 Kinder bleiben vor den Türen der Gesamtschule; denn den enorm hohen Anmeldezahlen stehen viel zu wenige Plätze gegenüber. Der Überhang überschreitet zum Teil die 50-%Grenze: In Soest sind es 58,2 %, in Mönchengladbach 52,4 %, in Bonn 57,3 %. In einigen Fällen werden sogar 60 % übertroffen. Im Kreis Kleve sind es sage und schreibe 66,7 %, im RheinSieg-Kreis 63 %.

Im Landesdurchschnitt stieg der Überhang von 24,8 % im Jahr 1999 auf 36 % im kommenden Schuljahr. Es besteht in der Tat dringender Handlungsbedarf.

Es gibt aber offensichtlich zumindest in Bonn zurzeit eine große Koalition der Gesamtschulverhinderer. Wer keine Gesamtschule will, führt eine Elternbefragung so durch, wie es die Oberbürgermeisterin jüngst getan hat, und bestellt sich dann noch eine Stellungnahme des zuständigen Staatssekretärs. Dieser betont in seiner Stellungnahme besonders die notwendige Leistungsheterogenität als konstitutives Merkmal der Gesamtschule. Dazu möchte ich gerne einiges ausführen.

An den Standorten, an denen der Gesamtschulüberhang die Dimension von zum Teil mehreren 100 Kindern annimmt, dürfte es doch nicht an Leistungsheterogenität mangeln.

Die Gesamtschulen sind in der Logik des bestehenden Schulsystems gezwungen, als Kriterium bezüglich der Leistungsheterogenität auf die Grundschulzensuren und jetzt auch auf die Übergangsempfehlungen zurückzugreifen. Damit sind sie keineswegs glücklich. Wir wissen alle, wie wenig zuverlässig diese Instrumente sind, wenn es um die Abschlussprognosen von Kindern geht. IGLU und PISA lassen grüßen. Es ist entscheidend, welchen Abschluss die Schülerinnen und Schüler am Ende erreichen. Und sie erreichen in der Gesamtschule höhere Abschlüsse, weil die Bildungswege offengehalten werden.

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Fragen Sie bei den Gesamtschulen doch nach, wie viele Kinder mit Hauptschulprognose kamen, die Schule ohne Schulwechsel absolvieren konnten und erfolgreich das Abitur ablegten.

Wenn es Sie beruhigt: Es ist geradezu auffällig, wie viel mehr Eltern ihre Kinder angemeldet haben, um durch die Gesamtschule der Alternative eines Turbo-Abiturs zu entkommen.

Gerade weil es um die Heterogenität der Schülerschaft, um Chancen für Kinder aus bildungsfernen Familien und um Chancen für Kinder mit Zuwanderungsgeschichte geht, die es an der Gesamtschule in der Tat in höherer Zahl als an anderen Schulformen gibt, ist ein Ganztagskonzept notwendig. Es muss auch für Neugründungen von Gesamtschulen gelten.

Kommunen, die für ihre Schulentwicklungsplanung auf neue Gesamtschulen setzen, tun das überlegt. Das Land ist gefordert, sie bei diesen Plänen nicht zu behindern, sondern zu fördern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Klaus Kaiser.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Beer, Ihre einleitenden Bemerkungen waren nicht unbedingt ein Beleg für ideologiefreie Schulpolitik.

(Beifall von der CDU)

Da wurden schon die üblichen Klischees bedient.

(Beifall von der FDP)

Wenn man den Antrag betrachtet, kann man sagen: Es gibt Anträge, die sind kurz und gut. Es gibt aber eben auch Anträge, die sind kurz, aber nicht gut. Der hier zu behandelnde Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist ein solcher.

Frau Beer, aus Ihrem Beitrag hörte man heraus, dass Sie eine Gesamtschuleuphorie initiieren wollen. Ich empfehle, dass wir uns einmal genauer mit den Fakten befassen.

Die Zahl der Anmeldungen bei den Gesamtschulen zum Schuljahresbeginn 2007/2008 bewegt sich – das zeigt der Mehrjahresvergleich – durchaus in der normalen Spanne. Mehranmeldungen an Gesamtschulen haben Tradition, sind überhaupt nichts Neues. Wenn wie in diesem Jahr etwa 7.000 Schülerinnen und Schüler mehr in die Klasse 5 wechseln, dann ist es nicht ganz verwunderlich, dass auch bei den Gesamtschulen 2.800 mehr angemeldet werden.

(Beifall von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Wenn man prozentual rechnet, Frau Beer, merkt man, dass die Zahlen vielleicht geringfügig höher sind als sonst, aber sie liegen doch im Durchschnitt.

Die Doppelanmeldungen, die es immer gibt, müsste man davon noch abziehen – Sie haben das bei Ihren Zahlen nicht getan –, das ist jedoch Sache der kommunalen Träger. Ich will Ihnen die Zahlen nennen: Waren es unter Rot-Grün etwa im Jahre 2004 14.000 Absagen, so sind es im Jahre 2007 gut 2.000 mehr, sagen wir: rund 16.000 Absagen. Das ist nicht spektakulär.

Sie sagen, hier wird über das Schulgesetz abgestimmt. Genau! Das Anmeldeverhalten zeigt stabilisierte Zahlen bei den Hauptschulen, zeigt stabilisierte Zahlen bei den Gymnasien, zeigt eben Zustimmung zum neuen Schulgesetz.

Ich nenne Ihnen eine weitere Zahl: Wir veranstalten Samstag in diesem Saal einen Kongress zur individuellen Förderung. Auch da ist die Anmeldezahl mit über 1.000 so hoch, dass man sagen muss: Die Menschen in Nordrhein-Westfalen befassen sich mit dem neuen Schulgesetz, akzeptieren es und wollen es ausgestalten.

Das ist natürlich etwas ganz anderes, als Sie initiieren. Sie möchten gerne immer wieder die Strukturfrage neu befeuern. Das ist Ihr gutes Recht. Aber, Frau Beer, es ist auch nicht besonders neu und auch nicht besonders originell.

Nicht in Ordnung ist, dass Sie in Ihrem Antrag mit ungerechten und schlichtweg falschen Behauptungen arbeiten. Es gibt seitens dieser Landesre

gierung keine Benachteiligung der Gesamtschulen.

(Beifall von CDU und FDP – Widerspruch von Sigrid Beer [GRÜNE])

Es gibt die Einladung zu mehr Wettbewerb, dem sich auch die Gesamtschulen gerne stellen wollen.

Wenn man sich die Sache genau ansieht, kann man feststellen: An etwa jeder fünften Gesamtschule wird die Anmeldekapazität nicht ausgeschöpft. Das heißt, es gibt weniger Anmeldungen, als Plätze da sind. An fast jeder fünften Gesamtschule! Das muss man sich auch ansehen. Damit schaffen wir den Blick dafür, dass es hoch effiziente, sehr gute, sehr leistungsstarke Gesamtschulen gibt. Es gibt aber eben auch Gesamtschulen, die große Akzeptanzprobleme haben. Auch das gehört zur Wahrnehmung der Wirklichkeit, auch das gehört zu einer pragmatischen Schulpolitik. Das muss man sich vor Augen halten.

Man muss einmal genauer fragen, womit das zusammenhängt. Akzeptanz erfahren Schulen dann, wenn Verlässlichkeit geboten wird. Wenn Sie jetzt sagen: „Gründet weitere Gesamtschulen, es ist gut so“, dann machen Sie einen kapitalen Fehler; denn wir stehen vor einem radikalen Rückgang der Schülerzahlen. Sie rufen dazu auf, neue Großsysteme zu gründen, obwohl Sie genau wissen, dass Sie gegenüber den Eltern keine Verlässlichkeit erzielen werden.

(Beifall von Bernhard Recker [CDU])

Es ist nämlich deutlich: Weder die Leistungsheterogenität und damit der Erfolg eines solchen Großsystems kann gewährleistet werden noch der Bestand. Ich denke, es ist unredlich gegenüber Eltern, sie einzuladen, neue Systeme zu gründen, und gleichzeitig nicht sagen zu können, ob diese Systeme auf Dauer Bestand haben. Das ist an Ihrem Antrag unredlich.

(Beifall von CDU und FDP – Widerspruch von Sigrid Beer [GRÜNE])