Protocol of the Session on September 28, 2006

Leider haben uns die bekannt gewordenen Fälle in der Mehrzahl gezeigt, dass diese Kinder häufig nicht im Kindergarten und in der Schule waren. Es kann doch nicht sein, dass es immer noch Kinder gibt, die unbemerkt durch unser System rutschen, und niemand reagiert darauf. Zuständigkeitslücken zwischen Jugendämtern, Schulen und Gerichten darf es in Zukunft nicht mehr geben.

Die Kernfrage bleibt somit, wie wir diejenigen erreichen, die gar nicht erst in Kindergärten, Famili

enzentren und Beratungseinrichtungen gehen. Wir sollten daher darüber nachdenken, vor Beginn des Kindergartens, vielleicht im Zusammenhang mit der Sprachstandsüberprüfung, einen weiteren verbindlichen Termin zu schaffen, um die Zeitspanne bis zur ersten verbindlichen Vorstellung des Kindes im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung zu verkürzen.

Aber es geht bei diesem Thema um viel mehr als um Früherkennungsuntersuchungen. Wir brauchen auch ein verbessertes System der Vernetzung und der Meldung von Misshandlung, Vernachlässigung und Verwahrlosung. Gerade das Thema Verwahrlosung muss in unseren Blick geraten. Kürzlich erzählte mir eine Grundschullehrerin, dass sie auf einer Klassenfahrt Kinder dabei hatte, denen sie erst Jacke und Socken kaufen musste, weil sie für die Winterfahrt nicht vorbereitet waren.

Frau Abgeordnete, würden Sie bitte zum Schluss kommen? Sie haben Ihre Redezeit schon um eine halbe Minute überschritten.

Gut. – Es geht darum, dass wir den Grundstein für ein umfassendes Bündel von begleitenden Maßnahmen legen. Kinderschutz muss für uns alle Vorrang haben. Darum begrüße ich den gemeinsamen Antrag aller Fraktionen in diesem Hause und sehe ihn als wichtiges Signal für einen ersten Schritt zum größeren Schutz unserer Kinder an. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht als nächste Rednerin Frau Abgeordnete Meurer.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass es uns gelungen ist, zu diesem wichtigen Thema einen gemeinsamen Antrag zur Abstimmung zu stellen. Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit.

Meiner Fraktion und mir war es besonders wichtig, dass die Erfahrungen aus dem Modellprojekt „Soziale Frühwarnsysteme“ verstetigt werden. Wir fordern, für jedes Kind zwischen dem zweiten und vierten Geburtstag eine weitere Vorsorgeuntersuchung einzufügen, und unterstützen ausdrücklich die Prüfung einer größeren Verbindlichkeit von Vorsorgeuntersuchungen.

Qualifizierung und Sensibilisierung der Fachkräfte sowohl in der Kita als auch in der Schule begrüßen wir, ohne – das will ich ausdrücklich betonen – in Aktionismus zu verfallen, sondern um Eltern und Kindern Stütze zu sein.

So wichtig als Anlass für den Ursprungsantrag die zunehmende Präsenz von Gewalt gegen Kinder in den Medien war, so wichtig ist auch, in die Zukunft zu blicken. Mit den kommunalen Gesundheitskonferenzen, die sich in diesem Jahr mit Adipositas bei Kindern und Jugendlichen und mit den am 25. September vorgestellten ersten Ergebnissen der Kiggs-Studie auseinandersetzen, müssen wir uns zukünftig mehr befassen und im Land geeignete Maßnahmen ergreifen.

NRW kann für die Landesgesundheitsberichterstattung durch eine Strichprobenaufstockung unter Verwendung der entwickelten Methodik, Logistik und der bereits erhobenen Surveydaten mit geringen Zusatzkosten repräsentative Daten gewinnen. Wir sollten diese Möglichkeiten nutzen.

Bei der dreijährigen Datenerhebung wurden in Nordrhein-Westfalen Orte wie zum Beispiel Duisburg, Bergheim, Wegberg, Minden, Goch und – Herr Laschet, ich zitiere Sie nicht, aber Sie sagten es sinngemäß – die schönste Stadt im Rheinland, nämlich Köln, ausgewählt. Die Teilnahme war freiwillig.

Es gilt eben nicht, stehen zu bleiben und zu glauben, dass Vorsorgeuntersuchungen – so verbindlich sie auch sein mögen – bei der Betrachtung der Kindergesundheit der Weisheit letzter Schluss sind.

Sie dienen in erster Linie dazu, kontinuierlich die Entwicklung der Kinder zu verfolgen. Bei entsprechender Diagnose müssen Ärzte dann auch die notwendigen Heilmittel wie beispielsweise Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie verordnen und dürfen nicht wie bei uns im Kreis Heinsberg im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahr 39,47 % weniger Rezepte alleine bei den Logopädinnen ausstellen und laufende Therapien seit dem 1. Januar 2006 schlagartig gar nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt weiterverordnen.

Ein Zusatznutzen von Vorsorgeuntersuchungen kann das Erkennen von Verhaltensauffälligkeiten sein, die unter Umständen Indikator für Missbrauch oder Gewalt gegen das Kind sein können.

Armut, Umweltbelastungen, zu wenig Bewegung, Essverhalten und die Lebensumstände, unter denen Kinder heute aufwachsen, sind genauso Ursache von gesundheitlichen Problemen.

Die ersten Zahlen der Kiggs-Studie wurden in dieser Woche veröffentlicht. Es wurden 17.641 Kin

der – 8.656 Mädchen und 8.985 Jungen im Alter zwischen null und 17 Jahren – in 167 für die Bundesrepublik repräsentativen Städten und Gemeinden untersucht. 17 % von ihnen hatten einen Migrationshintergrund, 2 % eine anerkannte Behinderung. 43 % aller Vier- bis 17-Jährigen konnten nicht einmal den Rumpf beugen und ihre Fußspitzen dabei berühren. 15 % waren übergewichtig, und 16,7 % litten an allergischen Erkrankungen.

Übergewicht und Adipositas sind bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien, bei denen mit Migrationshintergrund und bei denen, deren Eltern an Übergewicht leiden, häufiger. Auch hier gilt, früh genug hinzusehen.

Im europäischen Ausland wie beispielsweise in Finnland erhalten Kinder mittags kostenlos eine Mahlzeit. So ist sichergestellt, dass die Nahrung ausgewogen ist, genügend Vitamine und Ballaststoffe enthält und dass die Nahrungsmittel gesund sind. In Zeiten von Gammelfleisch und anderen Skandalen im Ressort von Minister Uhlenberg ist dies ein positiver Aspekt und zur Nachahmung empfohlen. Die offene Ganztagsschule eröffnet uns da Möglichkeiten, und das gilt auch für die Aspekte Sport und Bewegung.

Das Robert-Koch-Institut hat in der Studie die verschiedenen Bereiche wie körperliche, seelische und soziale Gesundheit sowie die Risikofaktoren durch Selbstangaben und objektive Messdaten zusammengeführt. Neben der Elternbefragung wurden auch die Kinder ab elf Jahren selbst befragt, und ihre Aussagen finden ihren Niederschlag in der anonymisierten Auswertung. Im Jahr 2008 werden die Daten als Public Use File der Fachöffentlichkeit verfügbar gemacht.

Herr Minister Laumann – er ist gerade nicht anwesend – und Herr Laschet, wir sehen Ihrem Bericht am Ende dieses Jahres mit Spannung entgegen.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank. – Das Wort hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Abgeordnete Asch.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir bei diesem Thema zu einem gemeinsamen Antrag gekommen sind. Ich glaube, dass sich das Thema Kinderschutz und das Wohl der Kinder in unserem Land in der Tat nicht eignen, im parteipolitischen Gezänk zerredet zu werden. Deswegen ist es gut, dass die Beschlussfassung

heute auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrages, ausgelöst durch den Antrag meiner Fraktion, erfolgen wird. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft fraktionsübergreifend zu gemeinsamen Initiativen kommen, wenn es um Kinderinteressen geht.

(Beifall von Johannes Remmel [GRÜNE])

Der Antrag beinhaltet die Beauftragung der Landesregierung, ein Bündel von Maßnahmen zu prüfen. Zum einen sollen die ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen verbindlicher gestaltet werden. Fehlende Untersuchungen – das wurde von meinen Vorrednern schon erwähnt – in den ersten Lebensjahren sollen eingefügt werden. Wir brauchen eine Eingangsuntersuchung für den Kindergartenbereich.

Zum anderen – das ist wichtig – müssen wir ernst nehmen, was bereits jetzt im GTK steht, nämlich regelmäßig ärztliche und zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen im Kindergarten anzubieten und durchzuführen. Das steht zwar jetzt im Gesetz, aber wir wissen alle, dass die konkrete Praxis in den Kommunen, in den Einrichtungen vor Ort dem nicht entspricht. Wir wissen, dass diese Untersuchungen oft bestimmten Sparinteressen zum Opfer fallen. Hier müssen wir umsetzen, was im GTK formuliert ist.

Eine ganz andere wesentliche Maßnahme hat die rot-grüne Regierung schon in Angriff genommen. Dies sind die sozialen Frühwarnsysteme, welche in einigen Regionen des Landes sehr vorbildlich arbeiten. Deren Erfahrungen müssen wir auf das ganze Land übertragen.

Die Kooperation, die im Grunde schon bei der gynäkologischen Betreuung von Schwangeren anfängt, ist wichtig. Wenn in dieser Kooperation festgestellt wird, dass es eine Problemfamilie ist, dass schwierige soziale Bedingungen vorliegen, dann muss von der Betreuung in der Schwangerschaft bis zur Säuglingsbetreuung eine Kette gewährleisten, dass Vernachlässigung von und Gewalt gegen Babys und Säuglinge nicht eintreten dürfen. Die Familien müssen schon in dieser sehr frühen Phase Unterstützung finden.

(Beifall von Johannes Remmel [GRÜNE])

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt geht es auch darum, eine Kultur des Hinsehens zu entwickeln. Es geht nicht immer nur um konkrete Maßnahmen, sondern es geht auch darum, dass sich die Gesellschaft für ihre Kinder verantwortlich fühlt. Das heißt, auch Nachbarn und Freunde, also das soziale Umfeld einer Familie, müssen hinschauen, und wenn sie

Problemlagen, schwierige Verhältnisse, Gewalt in der Familie oder Vernachlässigungen von Kindern feststellen, müssen sie dies rückmelden.

Diese Kultur des Hinsehens wird immer weiter entwickelt werden müssen. Sie ist bisher nicht gut ausgeprägt. Die Gesellschaft insgesamt ist gefordert. Wir als Politik müssen diesen Anspruch weiter transportieren. Wir alle sind aufgerufen, Verantwortung für die Kinder in unserer Gesellschaft zu übernehmen.

Wir hoffen, mit diesem Antrag einen ersten Impuls gesetzt zu haben, und erwarten die Maßnahmen der Landesregierung bis zum Ende des Jahres. Wir werden darüber im Fachausschuss diskutieren und eine Anhörung zu dieser Thematik veranstalten. Das Thema ist so wichtig, dass es nötig ist, dass wir uns mit Fachleuten darüber unterhalten.

Ich wiederhole es: Ich freue mich, dass wir zu einem gemeinsamen Antrag gekommen sind, und zwar nicht nur, weil es ein Schritt hin zu mehr politischer Kultur ist. Es ist gut, dass wir uns ab und zu darauf verständigen, in wesentlichen Fragen gemeinsam aufzutreten, statt uns solchen Problemen im üblichen Regierungs-OppositionsHickhack zu nähern. Und das ist gut, weil wir damit die Lebenssituation der Kinder in unserem Land insgesamt verbessern.

(Beifall von den GRÜNEN und auf der Zu- schauertribüne)

Vielen Dank. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Abgeordnete Dr. Romberg.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fraktionsübergreifende Anträge zeigen auf alle Fälle die Wichtigkeit eines Themas, aber auch die Stärke des Parlaments, mit einer Stimme zu sprechen.

Frau Asch, es ist sicher nicht allein ein Verdienst der rot-grünen Landesregierung, dass soziale Frühwarnsysteme in diesem Land entstanden sind, sondern beruht auf dem Engagement einzelner Menschen – besonders von Kinderärzten –, die diese Missstände so nicht mehr ertragen wollten und sich überlegt haben, mit welcher Vernetzung man Abhilfe schaffen kann. Dass das politisch unterstützt wird, ist gut und richtig. Es sind aber die eigenverantwortlich handelnden Initiatoren, die so etwas im Land entstehen lassen.

Im Ursprungsantrag der Grünen ging es um die Verwahrlosung und Kindervernachlässigung. Das

sind sicher wichtige Bereiche. Die aktuelle Studie, die Frau Meurer angesprochen hat, zeigt aber, dass es nicht die spektakulären Einzelfälle sind, sondern ganze Schichten betrifft: Wer in einem ökonomisch schwachen Verhältnis aufwächst, trägt ein deutlich größeres Risiko, krank zu werden. Das war ein Ergebnis der Studie.

Es ist sicher ein sehr trauriges Ergebnis, das diejenigen, die sich mit dem Thema schon länger befasst haben, nicht überraschen wird.

Wie können wir gegensteuern? – Es gibt eine Menge Präventionsangebote. Es existieren Sport- und Bewegungsangebote für übergewichtige Kinder und Jugendliche. Es gibt Seminare für gesunde Ernährung, die von den Krankenkassen, Volkshochschulen, kirchlichen Einrichtungen oder beispielsweise Familienbildungsstätten angeboten werden. Engagierte Fachkräfte in Kindergarten, Schule und Jugendarbeit bieten Projekte zur gesunden Lebensweise an, laden auch Eltern zum gesunden Frühstück ein.

Allerdings müssen wir feststellen, dass die vielen guten Angebote, die es schon gibt, häufig eben nicht diejenigen erreichen, die sie besonders brauchten. Deshalb müssen wir in unserem System nachhaken und überprüfen, wie wir es verbessern können.

Erfahrungen aus dem Modellprojekt „Soziales Frühwarnsystem“ haben gezeigt, dass gute Ergebnisse dort erzielt werden, wo die unterschiedlichen Akteure für Kinder und ihre Familien gut untereinander vernetzt waren. Hilfe aus einer Hand bringt Vertrauen und erzielt damit die besten Erfolge.

(Beifall von der FDP)