So hätte ich mir von dem Antrag in der Tat auch versprochen, dass Sie einmal einen Blick über den Zaun werfen, zum Beispiel nach Finnland. Denn da ist es offensichtlich anders, gerade auch mit der Definition des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Denn dort wird die Förderung für ca. 17 % aller finnischen Schüler angeboten. Das fußt darauf, dass die finnische Schule von eins bis neun, die Peruskoulu, per definitionem eine Schule für alle schulpflichtigen Kinder ist. Deshalb gehören Speziallehrkräfte zu jedem Kollegium. Sie heißen Speziallehrkräfte, weil sie eben nicht gesondert irgendwo anders arbeiten, sondern in der Schule für alle.
Die besondere didaktische Fürsorge gilt dann auch allen Schülern und Schülerinnen. Es wird auf diesem Wege schnell und direkt gefördert, ohne dass aufwendige Sonderschulaufnahmeverfahren durchgeführt werden müssen. So wird vor allem der Verfestigung von vielfältigen Defiziten sehr früh und erfolgreich begegnet.
Es kommt also bei Ihrem Antrag darauf an – das ist meine zentrale Frage gerade auch an die Ministerin –, wie Sie das Kompetenzzentrum verstehen wollen. Wollen Sie mit dem Kompetenzzentrum die Rahmenbedingungen an den allgemeinbildenden Schulen verbessern, um die Integrationsperspektive dort auszuweiten? Wollen Sie das – ja oder nein? Wollen Sie in Richtung Inklusion gehen – ja oder nein? Gilt die Salamanca-Erklärung für Sie – ja oder nein? Ich bitte Sie, mir diese Fragen hier
gleich zu beantworten. Davon ist es abhängig, ob die Chancen, die ein Kompetenzzentrum bieten kann, genutzt werden. In diese Richtung und nur in diese Richtung werden wir dann auch mitgehen.
Vielen Dank. – Für die Landesregierung spricht nun Frau Ministerin Sommer und wird auf alle Fragen antworten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, dass mit diesem Antrag das Augenmerk auf einen Bereich der Pädagogik gelenkt wird, der in vielen öffentlichen Diskussionen über unser Schulsystem nur allzu oft unbeachtet bleibt. Die Sonderpädagogik interessiert die breite Öffentlichkeit leider nur sehr wenig. Dabei haben wir es – das haben wir von den Vorrednern auch gehört – mit immerhin mehr als 120.000 Kindern und Jugendlichen zu tun.
Die individuelle Förderung, wie wir sie in § 1 unseres Schulgesetzes als Auftrag für alle Schulen verankert haben, ist geradezu das Credo der sonderpädagogischen Förderung.
Seit einigen Jahren gibt es allerdings Anlass zu der Frage, ob das gegenwärtige System der sonderpädagogischen Förderung noch angemessen ist. Im Zeitraum von 1997/1998 bis 2002/2003 stieg der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf tatsächlich von 4,5 auf immerhin 5,2 %.
Die Steigerung zeigte sich besonders in den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie in Sprachen, aber auch in anderen Förderschwerpunkten. Die alte Landesregierung hat auf diesen Anstieg mit einem Erlass reagiert. Diesem Erlass ging ein Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen voraus, aus dem ich – mit Ihrem Einverständnis – zitieren möchte.
„Die Fördermöglichkeiten und die Diagnose- und Interventionskompetenz der Lehrkräfte müssen durch unterstützende Beratung sonderpädagogischer Lehrkräfte sowie durch entsprechende Fortbildung so gesteigert werden, dass mehr Kinder und Jugendliche ihren Fähigkeiten gemäß in allgemeinen Schulen unterrichtet und gefördert werden können, denn pädagogischer Förderbedarf ist nicht zwangsläufig auch sonderpädagogischer Förderbedarf.“
Deshalb haben wir diesen Erlass inzwischen aufgehoben. Nicht, weil wir das Ziel nicht teilen, sondern unter anderem, weil es versäumt wurde, den Grundschulen die nötige Unterstützung für diesen Förderauftrag zu geben. Das holen wir jetzt nach. Ich verweise unter anderem auf die 600 nach Sozialindex den Grundschulen zugewiesenen Stellen.
Wir wollen darüber hinaus das bestehende System der sonderpädagogischen Förderung weiterentwickeln. Wir müssen uns nämlich kritisch fragen, ob wir in den allgemeinbildenden Schulen alles tun, um Lern- und Entwicklungsverzögerungen vorzubeugen, ob wir es also jedem Kind ermöglichen, seine Möglichkeiten auszuschöpfen – gegebenenfalls bereits im Vorfeld der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs –, und ob in den vorhandenen Förderschulen ebenso wie im gemeinsamen Unterricht wirklich überall und für alle Förderschwerpunkte die Voraussetzungen gegeben sind, optimale Unterstützung und optimalen Unterricht zu ermöglichen.
Wenn nun die demografische Entwicklung hinzukommt – also der Rückgang der Schülerzahlen insgesamt –, dann wird es auch im Bereich der sonderpädagogischen Förderung Konsequenzen geben. Wir müssen klären, wie eine möglichst flächendeckende, wohnortnahe, fachlich kompetente Förderung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den individuell jeweils unterschiedlichen Förderschwerpunkten ermöglicht werden kann, und wie wir die allgemeinen Schulen so durch sonderpädagogischen Sachverstand stärken können, dass sie insbesondere Kinder mit Lern- und Entwicklungsstörungen im Vorfeld einer Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs besser fördern können.
Meine Damen und Herren, um es ganz klar zu sagen: Unser Ziel ist es, eine Stärkung der allgemeinen Schulen durch sonderpädagogischen Sachverstand, eine flexiblere Unterstützung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ein Angebot, das der Tatsache Rechnung trägt, dass viele Kinder heute in mehreren sich überlappenden Bereichen Förderbedarf haben, und nicht zuletzt ein möglichst wohnortnahes Angebot zu schaffen. Ich bin mir bewusst, dass dies nicht leicht zu realisieren ist. In jedem Fall müssen wir
Mit dem vorliegenden Antrag wird die Idee in Form der sonderpädagogischen Kompetenzzentren aufgegriffen, die in der Fachszene schon länger diskutiert wurden. Das Schulgesetz weist den Schulträgern bei dem Ausbau von Förderschulen zu Kompetenzzentren eine aktive Rolle zu. Es ist daher auch zu klären, ob der Schulträger dabei selbst etwas in diesen Prozess einbringt, zum Beispiel Erziehungs- oder schulpsychologische Beratungsstellen oder medizinisch-therapeutische Angebote. Natürlich sind mit der gesetzlichen Verankerung der Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung und dem vorliegenden Antrag längst nicht alle Fragen beantwortet.
Dieser Antrag gibt aber einen neuen wichtigen Impuls im Bereich der Sonderpädagogik. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche mit ganz verschiedenen sonderpädagogischen Förderbedarfen an unterschiedlichen Orten flexibler, gezielter und individueller zu fördern. Das bedeutet, den Kindern auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten Förderung im unterschiedlichen Ausmaß zu ermöglichen.
Durch eine bessere vorbeugende Förderung von Kindern mit Lern- und Entwicklungsstörungen wollen wir erreichen, dass sich mehr Kinder so entwickeln können, dass sich ihr Förderbedarf nicht verfestigt und somit erst gar kein Antrag auf Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs gestellt werden muss.
Wenn wir mithilfe der Kompetenzzentren dazu beitragen können, auch nur etwas mehr Chancengleichheit in unserem Bildungssystem zu erreichen, dann wäre das eine Anstrengung wert.
Liebe Frau Beer, dass nicht alles benannt wurde, mögen Sie verzeihen. Das ist auch eine Frage des Austausches. Wir haben heute von Ihrer Seite ein zartes und von der Seite der SPD ein deutliches Signal bekommen, gemeinsam an dieser Aufgabe zu arbeiten. Ich finde, das ist eine gute Sache. – Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit eines klar ist: Jeder behinderte Schüler muss selbstverständlich das Recht auf eine angemessene und qualitätsorientierte Förderung genießen. Bei nicht rechtzei
tiger sonderpädagogischer Förderung besteht die Gefahr, dass sich Lernstörungen zu Lernbehinderungen, Sprachstörungen zu Sprachbehinderungen und sozialemotionale Auffälligkeiten zu Verhaltensstörungen manifestieren. Dies wird einer verantwortungsbewussten Beschulung einer bildungsbenachteiligten Schülerschaft in keiner Weise gerecht.
Deshalb unterstreichen die Koalitionsfraktionen mit diesem Antrag ausdrücklich die Notwendigkeit einer qualifizierten und früh einsetzenden Förderung behinderter Kinder. Nach allen wissenschaftlichen Untersuchungen ist die Förderung gerade für schwierige Zielgruppen gerade dann erfolgreich, wenn sie rechtzeitig beginnt. Wir haben es deshalb in der letzten Legislaturperiode für unverantwortlich gehalten, dass unter Rot-Grün nicht die notwendigen Ressourcen für eine frühe Förderung in diesem Bereich bereitgestellt worden sind.
Der Landtag sollte den fachlich versierten Pädagogen an Förderschulen sein volles Vertrauen und seinen Dank für ihre wertvolle Arbeit aussprechen. Da haben sich nämlich Menschen entschieden, mit besonders hohem Engagement sich der besonderen Herausforderung zu stellen, einer Schülerschaft mit sonderpädagogischem Förderbedarf optimale Chancen zu bieten und sie in ihrem weiteren Leben zu fördern.
Richtig ist aber auch, dass wir eine kritische Reflektion des Instruments des gemeinsamen Unterrichts brauchen. Die GU ist kein Selbstzweck an sich, sondern wir müssen sehen, welcher Weg im Ergebnis zu dem besten Resultat für die betroffenen Schüler führt. Es gibt große Defizite, die sich in den letzten Jahren unter Rot-Grün im Bereich des GU gezeigt haben. Die Schüler-LehrerRelation reicht für einen qualitätsorientierten Personaleinsatz im GU überhaupt nicht aus. An vielen Schulen mit gemeinsamem Unterricht ist die Zuweisung der Lehrerstellen ohne Rücksicht auf die genauen Arten und Ausprägungsmerkmale der Behinderungen pauschal erfolgt. Deshalb sind viele Ressourcen nicht zielgerichtet eingesetzt worden. Behinderungen sind nun einmal in ihrer Art und in den Anforderungen des Umgangs mit ihnen sehr unterschiedlich. Deshalb wollen wir Kompetenzzentren haben, um Kompetenzen zu bündeln.
Längst nicht die Kontinuität und Verlässlichkeit, die Sie versprochen haben, haben sich in den letzten Jahren in der Praxis in der GU gezeigt.
Deshalb brauchen wir eine kritische Reflektion des Instruments. Es gibt Kinder, bei denen die gemeinsame Unterrichtung angezeigt ist. Es gibt andere, bei denen man aus Gründen des Kindeswohls gut beraten ist, andere Wege zu gehen. Wir haben großes Vertrauen zu den Sonderpädagogen und Förderschulen in diesem Land, die sich als fachliche Einrichtungen sehr versiert und mit sehr viel Hingabe den Lebensmerkmalen der Kinder widmen. – Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich darf aus gegebenem Anlass darauf hinweisen, dass die Abgeordnetenbänke den Abgeordneten vorbehalten sind. Es gibt genügend Möglichkeiten, sich hinten hinzusetzen und dort Gespräche zu führen, wenn es dringend erforderlich ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben meine Fragen nicht beantwortet. Wie stehen Sie zur Salamanca-Erklärung? Setzen Sie auf Inklusion? Ist das eine Integrationsperspektive auf lange Sicht? Wie stehen Sie dazu? Dazu haben Sie leider kein Wort gesagt. Deswegen bleiben das Leerstellen. Diese Fragen wurden in Ihrem Vortrag nicht beantwortet. Meine Anfragen, die ich in der grundsätzlichen Rede gestellt habe, waren offensichtlich sehr berechtigt.
Ich möchte nun auf das eingehen, was Herr Witzel gesagt hat. Wenn Kinder nicht für den GU geeignet sein sollten – Frau Ministerin hat das auch so angesprochen –, dann frage ich mich, welchen Kindern Sie dann den GU verweigern wollen und wer das in Zukunft bestimmen soll. Wollen Sie an dieser Stelle weiter in den Elternwillen eingreifen, wie Sie es bei dem Grundschulgutachten bezüglich der zwangsweisen Zuweisung zu den Hauptschulen gemacht haben? Wie weit sind die Lasten, die Sie auf die Schulen überwälzen wollen, mit den Schulträgern abgeklärt worden? Bekommen wir hier die gleichen Auseinandersetzungen wie bei vielen anderen Fragen? Die Verhandlungen zum Schulgesetz sind ja jetzt noch nicht einmal abgeschlossen. Von den Schülerfahrtkosten will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Wie sieht es konkret mit den Stellenbedarfen aus, die Sie zusätzlich auswerfen wollen? Auch dazu gab es kein Wort.
Zum Schluss noch zum Stichwort Sozialindex: Wie oft wollen Sie die Stellen noch verfrühstücken, nachdem wir vor allem schon gehört haben, dass die Stellen im Bereich der Grundschulen, die nach Sozialindex vorgesehen sind, dafür benötigt werden, Sprachstandserhebungen mit zu bewältigen, weil Sie dafür ansonsten auch kein Personal? Das alles ist also wenig belastbar.
Sie schieben hier Dinge hin und her, die nicht belastbar sind. Gaukeln Sie uns bitte nicht nichts vor, was dann hinterher nicht an den Schulen ankommt.
Der Kollege von der SPD hat vorgetragen, dass wir Kürzungen vorgenommen haben. Ich sage klar und deutlich, dass er den Haushaltsplan richtig studieren sollte. Bezüglich des Vorwurfes, wir hätten Kürzungen vorgenommen, weise ich darauf hin, dass eine ganze Reihe der neuen Lehrerstellen für die Förderschulen zur Verfügung gestellt worden ist.
Einige wenige Sätze zu Ihnen, Frau Beer: Sie haben mir unterstellt, dass ich das Wort Inklusion kenne, dass ich weiß, was die SalamancaErklärung ist. Es geht hier um einen politischen Antrag und um keine wissenschaftliche Arbeit, in der man alles darstellt, was man weiß.
Wenn wir dargelegt haben, dass wir die Förderung der Kinder an den entsprechenden Stellen und zu den Standards, die sie brauchen, auch an den Regelschulen, wollen, dann ist das Wort Inklusion nicht nur mitgedacht, sondern mitbehandelt, und dann ist die Salamanca-Erklärung zugrunde gelegt. – Herzlichen Dank.