Protocol of the Session on September 27, 2006

Wer mich kennt, der weiß: Dies ist mein Credo, seit ich mich mit Bildungspolitik beschäftige. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchten Sie wissen, wer dieses nur ein einziges Mal – ich befürchte wohl aus Versehen – in seinem langen Parlamentsleben genauso gesagt hat? Es war der ehemalige SPD-Kollege Hans Frey im Jahre 2003, um sich allerdings schon ein paar Sätze später selbst zu entlarven und verlautbaren zu lassen, dass er individuelle Förderung, zumindest soweit sie die Begabteren betrifft, für in hohem Maße unanständig findet.

Genau dies ist das Problem von Rot-Grün: Die Widersprüchlichkeiten in Ihrem Denken und Ihr Verharren in ideologischen Kampfgräben haben dazu geführt, dass Sie im letzten Jahr von besorgten Eltern und Bürgern, die Bildung für das wichtigste Zukunftskapital unserer Kinder und unserer Gesellschaft halten, abgewählt worden sind.

(Beifall von FDP und CDU – Zurufe von Rü- diger Sagel [GRÜNE])

Seit dem 1. August 2006 nun ist es schwarz auf gelb – so möchte ich es am liebsten sagen – nachzulesen: Wir fördern individuell und haben unser neues Schulgesetz bereits mit Leben erfüllt.

Bisher 3.230 zusätzliche Lehrerstellen gegen Unterrichtsausfall, zur individuellen Förderung und zum Ausbau des Ganztags, 1.000 weitere Lehrerstellen im kommenden Jahr für die individuelle Förderung, 250 Sozialpädagogen an Hauptschulen endlich in festen Verträgen und 100 Sozialpädagogen in dauerhafter Beschäftigung in Förderschulen und die 5.280 Stellen für Integrationshilfen, muttersprachlichen Unterricht, Sprachförderung in den Klassen 5 und 6 sowie das Projekt „Beruf und Schule“ und die von uns neu vorgesehenen Lernstudios über die Schulformen hinweg sprechen eine deutliche Sprache.

Meine Damen und Herren, zusätzliche von uns vorgesehene Ergänzungsstunden in der Sekundarstufe I machen im Endausbau je nach Schulform ein Plus von -das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen – neun bis 14 Stunden aus. Das ist eine hervorragende Grundlage für individuelle Förderung, die hier von FDP und CDU geschaffen wurde.

(Beifall von FDP und CDU)

Nun setzen wir ein noch schwarz-gelbes Sahnehäubchen oben drauf: das Gütesiegel für individuelle Förderung für alle Schulen, die sich auf den Weg machen,

(Zuruf von Rüdiger Sagel [GRÜNE])

diesen Anspruch auf vorbildliche Weise zu erfüllen.

Das Landeskompetenzzentrum für individuelle Förderung an der Universität Münster, das ganz im Verborgenen entstanden ist und unter RotGrün ein hartes Überlebenstraining führen musste und dabei ständig in Gefahr war, den frühen Kindstod zu sterben, ist von der neuen Landesregierung inzwischen mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet worden, leistet hervorragende Arbeit für die Schulen unseres Landes und hat nun einen Kriterienkatalog für individuelle Förderung entwickelt.

Schulen, die eine entsprechende Förderung anbieten und sich bewerben, erhalten das Gütesiegel „Individuelle Förderung“ zunächst für drei Jahre; dann muss es sozusagen erneut „verdient“ werden. Und das Geschenk, das diese Schulen

als Anerkennung oben draufbekommen, ist eine qualifizierte Lehrerfortbildung.

(Zuruf von Rüdiger Sagel [GRÜNE])

Schulen mit dem Gütesiegel für individuelle Förderung dürfen selbstverständlich für sich und ihre Qualität werben.

Ich freue mich, dass ich auch mit meiner Stiftung beim Projekt dabei sein darf. Die Entwicklung entsprechender Lehrerfortbildungsmodule findet statt. Die Kosten für die Lehrerfortbildungen werden übernommen.

Zudem wird allen Schulen des Landes zum zweiten Schulhalbjahr Anfang nächsten Jahres eine Handreichung mit Best-practice-Beispielen zur individuellen Förderung zur Verfügung gestellt, die alle ohne Schwierigkeiten in der Praxis umzusetzen sind.

Sie sehen: Die Koalition der Erneuerung lässt die Schulen in Nordrhein-Westfalen bei der individuellen Förderung nicht allein. Dies unterscheidet uns sehr deutlich von der früheren, alten abgewählten Landesregierung, die zwar immer irgendwo davon gesprochen hat, aber niemand konnte so recht erklären, was darunter zu verstehen sei. Keine Schulen hatten Hilfestellungen bekommen. Niemand – dies erwähnte schon Herr Recker – konnte sich dabei auf die Unterstützung durch die Landesebene verlassen. Das ist jetzt völlig anders geworden.

(Sören Link [SPD]: Ja, früher war alles schlecht!)

Wir erfüllen diesen Anspruch, der als Kernanspruch in unserem Schulgesetz festgeschrieben ist, mit Leben. Wir lassen die Schulen nicht allein. Wir unterstützen sie, und wir sorgen dafür, dass die individuelle Förderung aller Kinder in diesem Land Nordrhein-Westfalen bald Realität sein wird. Überall!

(Beifall von FDP und CDU)

Danke schön, Frau Pieper-von Heiden. – Für die SPD spricht nun Frau Hendricks.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 21. Oktober soll der Startschuss für das Gütesiegel „Individuelle Förderung“ als einmaliges Gütesiegel in Nordrhein-Westfalen auf den Weg gebracht werden, damit Schulen für sich werben können.

Nun, meine Damen und Herren, Wettbewerb im Bildungswesen ist sehr differenziert zu betrachten. Die Frage ist, inwieweit Wettbewerb förderlich ist. Denn Bildung ist ein staatlicher Auftrag mit dem Ziel, für alle Schüler und Schülerinnen die besten Lernbedingungen zu schaffen. Und Erfolge bei diesem Auftrag hängen entscheidend von den Ausgangsbedingungen ab.

Ich habe eben zu meiner großen Irritation gehört, dass diejenigen Schulen demnächst Fortbildung erhalten, die das Gütesiegel bereits haben. Das ist für mich ein Widerspruch, ja geradezu eine Schizophrenie.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Der mit diesem Gütesiegel geförderte Wettbewerb von Schulen ist vielleicht geeignet, die leeren Kassen dieses Landes zu kaschieren, aber bestimmt nicht geeignet, die Voraussetzungen für Schulen adressatengerecht zu verbessern, wie es die Aufgabe des Staates wäre.

Und einzigartig ist das Gütesiegel nun auch nicht. In Hessen gibt es ein „Gütesiegel Hochbegabung“, in Bayern gibt es ein Gütesiegel „Leseforum Bayern – Partner der Schule“, und das Saarland vergibt ein Gütesiegel „QM-System“. Mit anderen Worten: So einzigartig sind Sie auch nicht, aber ich gebe zu: Ein Gütesiegel für individuelle Förderung gibt es bisher noch nicht.

Mit diesem Gütesiegel sind keine Hilfestellungen verbunden. Aus eigener Kraft sollen die Schulen den Prozess der Qualitätsentwicklung zur individuell fördernden Schule schaffen, und dabei geht die Landesregierung davon aus, dass die Lehrer die notwendige pädagogische Freiheit besitzen, um sie vor Ort in eine zu verantwortende individuelle Förderung münden zu lassen.

Was ist daran eigentlich neu, meine Damen und Herren? – Sie setzen mit vielen Dingen, die Frau Pieper-von Heiden heute Morgen angeführt hat, die Politik, die wir eingeleitet haben, fort.

(Ralf Witzel [FDP]: Absurd!)

Alle Kinder und Jugendliche müssen so früh wie möglich, gezielt und individuell gefördert werden; Herr Witzel, da sind wir uns bestimmt einig. Denn insoweit besteht bestimmt über alle Fraktionen hinweg Einigkeit.

(Ralf Witzel [FDP]: Aber wir handeln!)

Dies muss für alle Kinder gelten, also nicht nur für die weniger begabten und die hochbegabten Kinder.

Das Kompetenzzentrum in Münster, das das Gütesiegel vergeben soll, sieht eine seiner wesentlichen Aufgaben darin, Lehrer und Lehrerinnen zu qualifizieren. Wo sind denn die monetären und zeitlichen Ressourcen, um diese Qualifizierung auch tatsächlich realisieren zu können?

(Beifall von der SPD)

Anstatt eine systematische Vermittlung längst bekannter Ansätze und Erkenntnisse in den Schulen zu initiieren, bietet die Landesregierung eine Art pädagogischen Grabbeltisch. Schulen, die mit Einsatz und Geschick ein Schnäppchen erhaschen, bekommen ihren Erfolg mit dem Gütesiegel attestiert. Beispiele können dann erneut als Angebot auf den Grabbeltisch geschmissen werden und Anregungen für andere sein. Das, meine Damen und Herren, nenne ich nicht effiziente Qualitätsentwicklung.

(Beifall von der SPD)

Das Gelingen einer guten Schule kann nicht von Zufälligkeiten oder dem Engagement einzelner Schulleiter oder Lehrerinnen und Lehrer abhängen. Es muss durch Strukturen und Hilfen gesichert werden. Stattdessen wurden in NRW das Landesinstitut aufgelöst und Fortbildungsangebote an die freie Wirtschaft delegiert – anders übrigens als in Bayern, wo die Netzwerke zur individuellen Förderung im Landesbildungsinstitut Dillingen gebündelt werden. Hinzu kommt, dass der Umfang der Fortbildungsbudgets der Schulen bei Weitem nicht geeignet scheint, sich qualifizierte Fortbildung auf dem freien Markt einzukaufen.

Meine Damen und Herren, individuelle Förderung ist die Alternative zu Selektion und Aussonderung.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Sortieren und Selektion jedoch behalten Sie mit diesem Schulsystem bei.

(Edgar Moron [SPD]: Genau! So ist es!)

Es fehlen die multiprofessionellen Teams, die Psychologen, die Sozialpädagogen und alles das, was gute Schulsysteme dieser Welt ausmacht. Auch das Angebot an Ganztagsschulen, meine Damen und Herren, ist auf der Strecke geblieben. Frau Sommer, Ihr Kollege Herr Laschet hat die Bedeutung der Vernetzung bei den Familienzentren bereits erkannt. Doch für Schule scheint immer noch zu gelten: Wo Schule draufsteht, muss auch Schule drin sein.

Individuelles Fördern muss gewollt und praxisbezogen sein; es muss erlernt sein. Lehrerhandeln und professionelle Kompetenz werden durch Wis

sen, Können, Wollen und Einstellungen bestimmt. Diese Punkte sind bisher nicht in ausreichendem Maß herangebildet worden. Es ist zudem erforderlich, die Förderbedarfe eines jeden einzelnen Kindes zu erkennen und zu systematisieren und in pädagogisch sinnvolle Handlungsleitlinien umzusetzen.

Förderpläne setzen aber voraus, dass die Diagnosefähigkeit bei Lehrerinnen und Lehrern ausgebildet ist. Hier weist uns Pisa – ich betone – hohe Defizite nach. Lehrer und Lehrerinnen fragen zu Recht, wie das Gütesiegel in der täglichen Bewährung weiterhelfen soll. Es ist erforderlich, eine Qualitätsoffensive für Schulleiter und Schulleiterinnen sowie für Lehrerinnen und Lehrer zu starten.

Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, hier wird Ankündigungs- und Symbolpolitik betrieben, aber keine seriöse Unterstützung der individuellen Förderung auf den Weg gebracht.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Zusammenfassend möchte ich feststellen: Als Ergänzung zu einer systematischen Unterstützung der Schulen zur Verbesserung der individuellen Förderung wäre das Qualitätssiegel eine sinnvolle Einrichtung, sozusagen das Tüpfelchen auf dem i. Aber diese Unterstützung leisten Sie nicht. Daher ist das Siegel auch nur ein Tüpfelchen ohne i.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)