Da lese ich Sätze des Vorsitzenden der SPD Nordrhein-Westfalens, die soeben mit dem Vermerk „Es gilt das gesprochene Wort“ in seinem Redemanuskript bestätigt werden: „Chancengleichheit im Bildungssystem muss ein zentrales Ziel jeder Regierungspolitik sein. Die soziale Herkunft darf nicht über Bildungschancen und damit über Zukunftschancen entscheiden.“
Wenn eine Aussage widerlegt ist – man sagt in der Wissenschaftssprache falsifiziert –, dann ist es die im Hinblick auf die Politik, die Sie 39 Jahre lang betrieben haben.
Denn hier wird Chancengleichheit angemahnt von jemandem, dessen Partei 39 Jahre lang mit Verantwortung für unser Bildungssystem trägt. Das darf doch nicht wahr sein! Leidet dieser Mensch an partieller Amnesie?
Gedächtnisverlust nach dem Motto: Ich bin abgewählt worden, sofort vergesse ich alles, was ich vorher als Politiker, als Vorsitzender einer Partei zu verantworten hatte. Das ist eine Argumentation, die Sie nicht länger fahren sollten, zumal Sie die Offenheit besitzen, die ich anerkenne, zu sagen: Wir brauchen Zeit, um uns zu finden. Wenn Sie sich noch nicht gefunden haben, schlage ich Ihnen vor: Suchen Sie sich erst, und wenn Sie sich gefunden haben, dann komme Sie her und üben Kritik an dem, was wir als Gesetzgebungsvorhaben heute Morgen eingebracht haben.
Ein Vorletztes! Sie weisen auf die Expertinnen und Experten hin, insbesondere auf jene aus den Organisationen, die sich für Lehrer einsetzen. Ex
Die waren ja auch eine Ecke positiver als die, auf die Sie sich berufen und die Sie für sich in Anspruch nehmen.
Weit überwiegend sind diejenigen, die Ihre Position vertreten und die Ihrer Auffassung sind, Menschen die mit zu vertreten haben, dass wir die Probleme in Nordrhein-Westfalen so vorfinden. Und das müssen wir abändern.
Letzter Satz zu dem, was Sie als Kürzungen bezeichneten: Heute Morgen ist gerade für den Jugendbereich in überzeugender Weise dargelegt worden, dass in den Feldern, die Sie monieren, keine zusätzlichen Kürzungen greifen, sondern dass es sich dabei um nichts anderes handelt als die Fortsetzung der Kürzungen, die Sie in zwei Jahren vorgenommen haben.
Ihre Einlassung von heute Morgen – das gilt auch für Ihre ehemaligen Partnerinnen und Partner – zu diesem Schulgesetz decken sich sehr mit dem, was Peer Steinbrück, unser früherer Ministerpräsident, auf dem SPD-Parteitag am vergangenen Wochenende sagte: Da wird so getan, als redeten alte Männer über ihre Kriegserlebnisse und Vergangenheit. – Das lässt sich durchaus auf das übertragen, was wir von Ihnen heute Morgen erfahren haben. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Stahl. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen deren Fraktionsvorsitzende Frau Kollegin Löhrmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme natürlich gerne die Gelegenheit wahr, zum Schulgesetz noch ausführlicher zu sprechen, nachdem der Ministerpräsident glaubte, das genauer erläutern zu müssen, und auch der Kollege Stahl noch einmal beschrieben hat, wie sich das alles in der Vergangenheit verhalten hat.
Herr Stahl, ich fange bei Ihnen an: Als Vorsitzender der größten Regierungsfraktion waren Sie gerade nicht sehr ambitioniert.
Es könnte Sie doch anspornen, dass die SPD noch gar nicht so weit ist, wirklich die Konsequenzen aus Pisa zu ziehen. Sie könnten doch sagen: Wir machen eine offene und vernünftige Debatte und toppen die Sozialdemokraten.
Genau das haben Sie nicht gemacht, sondern Sie haben dort angeknüpft, wo Sie vor 39 Jahren aufgehört haben. Das ist auch das Problem dieses Schulgesetzes.
Herr Rüttgers, Sie haben sich mit Ihrem Beitrag sehr an mir abgearbeitet; das ehrt mich im Grunde genommen und freut mich vor dem Hintergrund auch. Aber Sie sind ausgewichen. Sie haben zum Schulgesetz das ausgeführt, was Sie zum Teil bereits im Wahlkampf gesagt haben und was Sie seit der Regierungserklärung sagen. Es gibt aber eine brennende Frage, die auch mit Bildungspolitik zu tun hat und die die Menschen im Moment umtreibt, die Unterschriften von Menschen in Volksinitiativen befördert hat und zu der Sie kein Wort gesagt haben, nämlich: Wie geht es im Bereich der Kindergärten und der Jugendpolitik in NRW weiter?
Dazu wollten die Menschen aber heute etwas von Ihnen hören. Deswegen hätte ich mir gewünscht, Sie wären schon heute Morgen persönlich in die Diskussion eingestiegen und hätten das gesagt, worauf viele warten und was viele vor der Osterpause von den Regierungsfraktionen erwarten: Wie geht es mit dem Haushalt weiter? Wie geht es mit der Kinder- und Jugendpolitik in NordrheinWestfalen weiter? Wie geht es weiter mit der Politik für die Zukunft unserer Kinder?
Meine Damen und Herren, jetzt noch einmal zurück zu diesem alten Streit der Schulstrukturen! Ich weiß, dass es an der Stelle ein Problem gibt. Ich kann es – da ich es mit forciert habe – guten Gewissens sagen: Pisa und deren Ergebnisse aus dem Dezember 2001 waren eine Zäsur für die politische Diskussion in Deutschland. Sie hätten eine noch viel größere Zäsur für die politische Diskussion in Deutschland sein müssen.
Auch wenn Sie sich daran aufhalten und es immer wieder in den Mittelpunkt stellen, geht es im Kern nicht allein um ein Problem der sozialen Selektion in Nordrhein-Westfalen. Alle Experten international und auch Ihre Leute benutzen diesen Begriff,
weil er sich daraus ergeben hat – das noch erklärend zu Ihrem Vorwurf –, und sagen: Es geht nicht nur um ein Problem in Nordrhein-Westfalen, sondern um ein Problem des deutschen Bildungssystems in der gesamten Bundesrepublik Deutschland.
Um die Frage, welche Antworten es auf diese Probleme gibt, drücken Sie sich herum. Sie sind manchmal ein bisschen betulich, weil Sie es im Grunde selber wissen. Ich glaube zumindest daran, dass Sie es besser wissen. Aber Sie müssen hier die Truppen zusammenhalten, damit sie nicht anfangen nachzudenken und nicht den Weg für ein wirklich neues Bildungssystem in Deutschland und Nordrhein-Westfalen freimachen.
Die CDU könnte doch einmal Vorreiter sein. Es müsste Sie doch anspornen, dass die SPD an der Stelle solange braucht. Das hat uns oft geärgert und behindert.
Es weiß doch jeder, dass wir als Grüne in dieser Frage weitere Schritte gegangen wären, als wir es mit dem rot-grünen Schulgesetz haben möglich machen können.
Herr Kaiser, jetzt komme ich zu Ihnen. Sie haben nämlich einen schönen Widerspruch deutlich gemacht. Sie sagen, wir hätten mit dem Schulgesetz der Vorgängerregierung nur etwas bürokratisch zusammengefügt. – Dann frage ich mich: Warum haben Sie dann diesen Aufstand gemacht und von dem Einstieg in die Einheitsschule und von Einheitsschulaufsicht geredet? Was haben wir uns alles noch anhören müssen! Sie haben auch von der Abschaffung des gegliederten Schulsystems durch Verbundsysteme gesprochen. – Sie haben im Wahlkampf versucht, daraus Kapital zu schlagen. Zum Teil ist Ihnen das gelungen, weil Sie nämlich an alte Schlachten anknüpfen und sich der erforderlichen Diskussion, die meine Partei erfolgreich gemeistert hat, nicht stellen. Wir Grüne haben damit angefangen, und die gesamte Bundespartei ist uns in der Erkenntnis gefolgt, dass wir diese Diskussion in Deutschland neu führen müssen. Das haben Sie hier in NordrheinWestfalen versäumt. Sie sind noch nicht so weit, obwohl es auch in der CDU einzelne Verbündete in dieser Frage gibt; das will ich ausdrücklich einräumen.
Meine Damen und Herren, jetzt will ich noch zu zwei Kernpunkten dieses Gesetzentwurfes kommen. Es wird nämlich deutlich, dass das „Neusprech“, das Sie in die Welt setzen, wirklich
nicht stimmt: Sie reden von „individueller Förderung“ – das unterschreibt Ihnen jeder; das ist völlig klar –, aber Sie verkennen, dass in dem System, das wir haben, dieser individuellen Förderung massive Grenzen gesetzt sind und es nicht hilft, das dreimal am Tag zu sagen. Vielmehr muss man die Strukturen durchlässig machen.
In einer Anhörung, in der nicht nur von SPD und Grünen eingeladene Leute gesessen haben – diesen Vorhalt weise ich noch einmal mit aller Entschiedenheit zurück –, sondern auch Ihre Experten, ist über Strukturen und im Zusammenhang damit über die Durchlässigkeit diskutiert worden. Es wurde die Frage gestellt: Ist – wie im Gesetz beschrieben und gewünscht – der Aufstieg noch möglich, wenn das Gymnasium als einzige Schulform von der Schulzeitverkürzung abgekoppelt wird? – Darauf haben Ihnen alle Experten mit einem ganz klaren Nein geantwortet. Das habe ich mitbekommen und alle, die dort gesessen haben. Viele aus Ihren Reihen waren nicht mehr dabei.
Sie vermitteln den Leuten hier ein Ziel, das alle haben, aber die Strukturen werden verhindern, dass dieses Ziel erreicht wird.
Meine Damen und Herren, jetzt komme ich noch einmal auf den ökonomischen Aspekt zu sprechen, der in dieser bildungspolitischen Debatte so wichtig ist. Wir wissen doch alle – und das unterschreiben auch Sie –, dass wir mehr und besser qualifizierte junge Menschen am Ende der Sekundarstufe I und mehr und besser qualifizierte junge Menschen am Ende der Sekundarstufe II brauchen. Dieses Ziel erreichen wir nicht, wenn wir Bildungsgänge systematisch abschotten. Das tut aber dieses Gesetz, und aus diesem Grunde wird dieses Gesetz im Wesentlichen von den Vertretern der Gymnasien und denjenigen, die ausdrücklich wollen, dass eine Abkopplung stattfindet, begrüßt.
Sie weichen aus, und Sie predigen hier von großen Reformen. Das ist Ihr gutes Recht, und das möchte ich natürlich nicht in Abrede stellen. Hier wird allerdings eine gravierende Weichenstellung falsch vorgenommen. Diese ist fatal für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sie ist fatal für die ökonomische Entwicklung unseres
Ich bin auf die weiteren Diskussionen gespannt. Ich bin auf weitere Anhörungen gespannt – diese werden wir durchführen –, und ich bin gespannt darauf, wie Sie im weiteren Verfahren auf Beschlüsse Ihrer Kommunalfraktionen reagieren werden, die sich gegen die Aufhebung der Grundschulbezirke aussprechen und mehr Freiheit einfordern. Dann könnten Sie Ihre Versprechen, die Sie hinsichtlich der Freiheit gegeben haben, einlösen, aber Sie wollen ihnen vorgeben, sodass sie es machen müssen.