Protocol of the Session on February 16, 2006

Auf die Idee, deshalb eine Hauptschulinitiative, wie Sie sie hier vorlegen, auf den Weg zu bringen, sind übrigens schon andere CDU-regierte Länder gekommen, die sich auch davon versprochen haben, durch vermehrte Zuweisung von Kindern in den Hauptschulbildungsgang, durch Ressourcenaufstockung und Ganztag die grundlegenden Probleme der Hauptschule im hierarchischen Schulsystem zu heilen.

Meine Damen und Herren, all diese Initiativen haben die Grundprobleme nicht gelöst.

(Beifall von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Schauen Sie doch einmal in die Bundesländer – auch in die CDU-regierten –, welche Initiativen es dort gibt. Gerade in Hamburg – ich erinnere aktu

ell daran – sagen Ihre Parteikollegen und Parteikolleginnen: Die Schulform Hauptschule hat keine Zukunft.

Dr. Ernst Rösner vom Schulforschungsinstitut in Dortmund führt dazu aus – ich zitiere –:

„Die Stärkung der Hauptschulen“

übrigens eine Forderung, die fast genauso alt ist wie die Hauptschulen selbst –

„hat ungeachtet vieler nachweisbarer Bemühungen bislang in keinem Bundesland zum Erfolg geführt, also die Abwärtsentwicklung gestoppt.“

Das sieht auch der Verband Bildung und Erziehung so, der in seiner Presseerklärung titelt:

„Demographische Entwicklung holt Hauptschulen ein – VBE: Schulreform zwingend erforderlich!“

Der VBE thematisiert, was Sie offensichtlich nicht wahrhaben wollen: Eltern lehnen die Schulform Hauptschule zunehmend ab, und das aus gutem Grund, mit realistischem Blick auf den Arbeitsmarkt. – Und Sie werden sie nicht zwangsbeglücken können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ihr Vorhaben, auch noch die Bildungsinhalte und -standards schulformspezifisch zu gestalten, macht das Verhängnis für die Hauptschule sogar erst perfekt, indem Sie vermitteln, dass Sie die niedere Bildung weiter zementieren wollen.

Da blitzt es wieder auf, dass Sie sich noch nicht grundlegend davon verabschiedet haben, dass durch die drei Schulformen dreierlei Menschen repräsentiert werden.

(Ralf Witzel [FDP]: Das ist doch Quatsch! – Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Da sind sie ste- hen geblieben!)

1787 waren es drei Stände, für die sich Karl Abraham Freiherr von Zedlitz, der Leiter des preußischen Generaldepartments für Kirchen- und Schulangelegenheiten, drei Schulformen gewünscht hat.

(Unruhe)

Wenn Sie Gesprächsbedarf haben, können wir das gerne im Ausschuss machen; dort lege ich Ihnen das noch einmal genau vor.

1955 hat der Psychologe Heinrich Weinstock die Gliederung des Schulsystems wie folgt begründet:

„Dreierlei Menschen braucht die Maschine: den, der sie bedient und in Gang hält; den, der

sie repariert und verbessert; schließlich den, der sie erfindet und konstruiert … Offenbar verlangt die Maschine eine dreigegliederte Schule: eine Bildungsstätte für die Ausführenden, also zuverlässig antwortenden Arbeiter, ein Schulgebilde für die verantwortlichen Vermittler und endlich ein solches für die Frager, die sogenannten theoretischen Begabungen.“

So der Psychologe 1955. – Das ist Vergangenheit, lassen Sie das doch endlich los! Menschen lassen sich nicht so sortieren und klassifizieren.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Der VBE, dem die Lehrerinnen und Lehrer, die heute – Herr Recker, heute! – in der Hauptschule arbeiten, in großer Zahl angehören, hat ein wegweisendes Konzept vorgelegt, das Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Darin werden die Antworten auf die Frage der notwendigen Veränderung für die Hauptschule gegeben: schulrechtliche organisatorische und pädagogische Einheiten, die für alle Kinder von der fünften bis einschließlich zehnten Klasse verantwortlich sind und die Lernbarrieren, die um die Hauptschule gezogen werden, abbauen.

Sie blenden diese Notwendigkeiten systematisch aus und glauben, junge Menschen mit gescheiterten Rezepten des vorigen Jahrhunderts auf die individuellen Herausforderungen und gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben des neuen Jahrtausends vorbereiten zu können.

Deswegen kann die Schlussfolgerung nur heißen, die Schülerinnen, die jetzt noch im System Hauptschule stecken, durch ein verstärktes Unterstützungssystem zu fördern und gleichzeitig die notwendigen Schritte anzugehen, um die fatale, isolierende und hierarchische Struktur im Schulsystem zu verändern, die zulasten der Hauptschule ausgetragen wird. Darüber werden wir im Ausschuss reden müssen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Danke schön, Frau Beer. – Für die Landesregierung erteile ich jetzt Frau Ministerin Sommer das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Oft haben die Dinge zwei Seiten.

(Wolfgang Röken [SPD]: Nur zwei?)

Natürlich würde es mich nun jetzt reizen, auf meine Vorrednerin einzugehen. Ich gehe aber nur auf

ein Detail ein. Frau Hendricks – leider ist sie jetzt nicht da – sagte eben so vehement: Das, was Sie vorhaben, ist ein Rückschritt in die 50er-Jahre.

Sehen wir es doch mal anders! Wir müssen aufholen, aufholen, aufholen. Wir müssen die Zeit, die 40 Jahre aufholen!

(Beifall von CDU und FDP)

Ich rede heute über ein Lieblingsthema, die Ganztagshauptschule. Ich bin der CDU und der FDP sehr dankbar dafür, dass ich ein Forum dafür bekomme. Qualitätsentwicklung an Hauptschulen ist ein zentrales Thema für unser Land.

Wir haben – das hat Frau Pieper-von Heiden eben schon deutlich gesagt – 20 Hauptschulen inzwischen in Ganztagshauptschulen umgewandelt. Jetzt haben wir insgesamt 167. Das ist immerhin ein Anfang, und der Andrang ist sehr groß. Ich kann dies, liebe Frau Beer, nicht als Zwangsbeglückung verstehen. Denn Zwangsbeglückung wäre etwas sehr Drastisches. Ich sehe, wir haben zuhauf freiwillige Meldungen.

Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Löhrmann?

Ich würde gerne fortfahren.

Okay.

24 Millionen € fließen in dieses Projekt. Sie sind im Landeshaushalt ausgewiesen, und ich glaube, das ist sehr ambitioniertes Vorhaben. Ich könnte jetzt sagen, das ist ein so ambitioniertes Vorhaben, wie wir in Deutschland kein Ähnliches finden. Ich sage aber: Man blickt auf unser Land und erwartet von uns Reformen und Innovationen – und die werden auch kommen!

(Zuruf von der SPD: Das war eine Drohung!)

Es kann nicht wirklich jemand gegen die Ganztagshauptschule sein. Die Ergebnisse der PisaStudie, der Lernstandserhebungen machen uns deutlich: Die Hauptschüler haben keine grundlegenden Kompetenzen. Sie haben im Augenblick auch kaum eine berufliche Zukunft. Sie nehmen am gesellschaftlichen Leben nicht wirklich teil. Das muss geändert werden.

(Beifall von der FDP)

Ein Beispiel: Ich habe eine Schule besucht. Dort waren vorher die Fragen thematisiert worden: Wie

sehen eure beruflichen Chancen aus? Welche Sorgen habt ihr? – In allen Listen, die die jungen Leute aufgeschrieben haben, war zu lesen: Wir haben Angst vor der Zukunft, weil wir keine Arbeitsstelle bekommen. – Eine Bemerkung, die ein junger Mann in einem Begründungszusammenhang nicht ohne eine gewisse Ernsthaftigkeit aufgeschrieben hat, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Keine Arbeit, keine Kohle, keine Weiber.

Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass nach wie vor – das ist eben schon angeklungen – die soziale Stellung der Eltern entscheidend für schulischen Erfolg unserer Kinder und Jugendlichen ist. Ich möchte doch noch einmal, obwohl gerade sehr deutlich dagegen votiert worden ist, den Begriff „Restschule“ verwenden.

Ich blicke auf etliche Jahre in der Schulaufsicht zurück. Ich habe einen Kollegen – übrigens ein überzeugter Sozialdemokrat –, der angestrengt, motiviert und sehr vehement dafür gearbeitet hat, die Hauptschule auf Vordermann zu bringen. Am Ende seines beruflichen Lebens sagt er resigniert: In all den Jahren, in denen ich mich eingesetzt habe, habe ich so viel nicht erreichen können, weil es eben doch eine Schule war, die ein Schattendasein führt.

(Beifall von CDU und FDP)

Wir können es uns nicht erlauben, die Hauptschule zu vernachlässigen. Sie ist eine Schule der Zukunft, aber auch ein zukünftiges gesellschaftliches Problem. Es geht nicht nur um Jugendliche und deren Erfolg, sondern es geht letztlich um das Überleben an sich in unserem Land.

Voraussetzung für den Erfolg der Bemühungen ist die Weiterentwicklung des Unterrichts auf der Grundlage eines pädagogischen Konzeptes der Hauptschule. Diese neue Ganztagshauptschule in Nordrhein-Westfalen wird sich deutlich von den bisherigen Angeboten unterscheiden. Sie soll – ich wiederhole es an dieser Stelle so deutlich, weil es wie ein Dorn im Fleisch sitzt – einen Beitrag zur Entkopplung des schulischen Erfolgs von der sozialen Herkunft der Kinder leisten.