Protocol of the Session on January 21, 2010

(Beifall von der SPD)

Schauen wir uns doch einmal sittenwidrige Löhne an: Im Hotel- und Gaststättengewerbe NRW beträgt der Tariflohn 6,50 € brutto die Stunde. Die Grenze zur Sittenwidrigkeit wären 4,36 €. Ich sage es noch einmal, meine Damen und Herren: Schwarz-gelbe Milliardenentlastung für die Hotelbesitzer und Hungerlöhne für die Frauen, die die Betten machen – das ist die Perspektive Ihrer Politik in Berlin.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Und das Schlimme daran ist: Wenn wir diesen Weg weitergehen, wenn wir ihn nicht stoppen, wenn wir nicht Strukturen verändern, wenn wir nicht den Mut haben, auch Grenzen zu setzen, und wenn wir dafür nicht auch einen handlungsfähigen Staat haben, der das hinkriegt und dafür auch die Finanzausstattung hat, dann laufen wir auf eine Gesellschaft der Altersarmut zu. Das ist das Risiko. Und dann kommen Sie mit Ihren Vorschlägen hinten dran.

Ich möchte nicht, dass die Menschen nur Bezieher von Hilfsleistungen werden. Das ärgert mich an Ihrem Kollegen Koch: sein Menschenbild, das dahintersteht. Der soll mal mit mir zu diesen Hartz-IV

Empfängerinnen in dieser Nähstube in Duisburg gehen.

(Wolfgang Jörg [SPD]: Genau!)

Er soll mal mit denen reden, wieso der Job für sie so wichtig ist. Sie gehen für diesen Hungerlohn zusätzlich arbeiten, weil Arbeit etwas mit Würde zu tun hat.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Da geht er mit Nadelstichen raus!)

Diese Frauen sagten zu mir: Gott sei Dank. Ich habe einen geregelten Tagesablauf. Ich werde gebraucht. – Das ist es, was sie wollen.

Natürlich gibt es auch Missbrauch von Hartz-IVEmpfängern, aber verdammt noch mal der größte Teil der Menschen würde lieber heute als morgen arbeiten gehen. Das ist die Verpflichtung, die wir zu erfüllen haben.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Mut, Strukturen zu verändern, heißt für mich auch, dass wir uns als Politik endlich einmal ehrlich eingestehen, dass es unter den Hartz-IV-Beziehern verschiedene Gruppen gibt. Es gibt Menschen, die auch in Zukunft, auch bei steigender Konjunktur keine Chance haben werden, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Das ist so.

Ich habe sie erlebt. Da war eine Frau, die Multiple Sklerose hatte. Die andere hatte als Kind Kinderlähmung. Der Dritte ist kaputtgeschriebener Schreiner gewesen. Er hat es am Rücken und kann kaum noch sitzen. Diese Menschen gibt es. Was machen wir mit denen? Sorgen wir dafür, dass sie finanziell ausgestattet sind, und schicken wir sie nach Hause? Oder bleiben wir bei dem System der 1-€-Jobs, wo sie sich ein oder anderthalb Jahre wieder gut fühlen können und mittendrin dabei sind? Oder schaffen wir nicht endlich einen sozialen Arbeitsmarkt, der keine regulären Arbeitsplätze beseitigt?

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es in diesem Land genug zu tun gibt. Ich fahre viel durch die Städte und Gemeinden. Lassen Sie uns doch daran arbeiten. Ich wüsste auch ein paar Gegenfinanzierungsvorschläge. Ich habe ja heute ein bisschen Zeit, weil Sie überzogen haben. Deshalb kann ich ein bisschen was dazu erzählen.

Als ich unterwegs war und mir die Menschen vor Ort erzählt haben, welche Weiterbildungsmodule sie mitgemacht haben, dann ist mir dazu nichts mehr eingefallen. Ich habe einen erlebt, der mir von seinem zuständigen … Wie heißen die jetzt noch mal? Nicht Sachbearbeiter.

(Zuruf von der SPD: Fallmanager!)

Genau, die heißen jetzt Fallmanager.

Sein zuständiger Fallmanager hat ihn – wissend, dass er alkoholkrank ist –; in eine Weiterbildung zum Kraftfahrer geschickt. Das ist schon ein Ding. Das zahlen wir alle, meine Damen und Herren. Das kann ja mal vorkommen, denke ich. Aber das ist kein Einzelfall. Wenn Sie sich umgucken, werden Sie feststellen, dass das kein Einzelfall ist.

Ich habe einen erlebt, der Anleiter bei einer solchen Maßnahme war, die ich mir angeschaut habe. Er war vorher selber Hartz-IV-Empfänger. Er hat mir erzählt, er sei zur Arge gekommen und habe gesagt: Ich muss wieder was tun. Ich möchte gerne in Arbeit kommen. – Dann wurde ihm gesagt: Dann müssen Sie eine Qualifizierungsmaßnahme machen. – Da sagte er: Ja, welche denn? – Darauf wurde ihm gesagt: Dann machen Sie doch mal einen Gabelstaplerschein. – Da sagte derjenige: Den habe ich schon. – Da sagte der Sachbearbeiter: Ist egal. Dann machen Sie ihn noch mal. – Er hat bis heute drei Gabelstaplerscheine, meine Damen und Herren.

Lassen Sie uns einmal auf dieser Seite schauen. Fördern und Fordern funktioniert immer noch nicht. Wir müssen vernünftig fördern, und wir müssen dafür sorgen, dass es einen sozialen Arbeitsmarkt gibt, damit die Würde der Menschen wieder in den Mittelpunkt gerückt wird.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wir brauchen den Mut, Strukturen zu verändern. Ich sage das noch einmal: Dann reden wir auch über Einkommen, über die Entwicklung von Einkommen und über Einkommensverteilung. Auch da werde ich nicht locker lassen.

Ja, wir haben Vorschläge mit Steuererhöhungen gemacht. Ich fand es höchst interessant, dass Ihr Generalsekretär uns dafür rügt, obwohl Sie selbst in den letzten Tagen über die Börsenumsatzsteuer und die Tobin-Steuer philosophieren. Ich finde das hochinteressant. Aber eines ist auch klar: Neben diesen Zahlen und Fakten ist doch das Menschenbild ganz wichtig.

Wenn ich so manche Diskussion in diesem Raum verfolge, dann fällt mir immer Folgendes auf: Sie, insbesondere die Kollegen der FDP, reden relativ häufig von den Leistungsträgern unserer Gesellschaft. Mein Eindruck ist – Sie können mich ja gleich korrigieren – Sie reden von denen, die gut verdienen und in hohen Positionen tätig sind.

(Dr. Gerhard Papke [FDP]: Nein!)

Doch, doch! Das kommt immer wieder aus Ihrer Richtung. Das sind genau die, die Sie finanziell entlasten wollen. Das ist doch das Ziel Ihrer Steuerreform; ich sehe mir das schon genau an.

Gucken Sie doch mal hin: Sie entlasten nicht diejenigen, die überhaupt keine Steuern zahlen und am unteren Ende stehen. Die wollen Sie ja gar nicht entlasten. Seien Sie doch mal ehrlich!

(Beifall von der SPD)

Ich treffe mich mit Menschen vor Ort. Ich war beispielsweise bei der Polizei und im Streifenwagen auf Nachtschicht unterwegs. Das sind für mich die Leistungsträger unserer Gesellschaft.

(Beifall von der SPD)

Ich habe dort sehr viele engagierte Menschen gesehen. Sie sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Und die verdienen beileibe nicht gut genug.

Ja, meine Damen und Herren, wir müssen Strukturen verändern. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Zusammenhalt. Ich glaube, hier müssen wir Strukturen verändern. Wir reden augenblicklich sehr viel über Hartz IV und die Sozialsysteme.

Bleiben wir doch einmal bei den Veränderungen, die Sie für Hartz IV vorschlagen, und sehen uns das im Detail an! Sie wollen die Kindersätze erhöhen. Sie wissen, dass darüber im nächsten Monat das Verfassungsgericht urteilt. Das ist Wahlkampf. Sie sind zwar noch nicht im Wahlkampf, aber da machen Sie schon Wahlkampf.

(Heiterkeit bei der SPD)

Auf der anderen Seite wollen Sie die Hinzuverdienstgrenzen anheben mit den von mir gerade dargestellten Folgen.

Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob Sie wissen, dass das die Folgen sind, und ob Sie wissen, dass die Zahl der Hartz-IV-Berechtigten sprunghaft ansteigt und somit noch mehr Menschen zu Aufstockern werden.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Doch, das weiß er!)

Jeder normale Mensch fragt sich doch inzwischen,

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Jeder normale Mensch!)

wie es sein kann, dass Unternehmen Mitarbeiter zu Dumpinglöhnen beschäftigen. Die gehen als Aufstocker zum Staat, und wir alle steigern damit die Gewinne dieser Unternehmen. Damit muss doch irgendwann mal Schluss sein in diesem Land. Wo kommen wir denn da hin?

(Beifall von der SPD)

Ja, wir müssen am Gerechtigkeitsproblem Hartz IV etwas tun, Herr Ministerpräsident. Da bin ich bei Ihnen. Aber ich warte auf Ihre Vorschläge.

(Gisela Walsken [SPD]: Da können wir lange warten!)

Wo läuft es denn hin? Was kommt denn da? Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass diese Veränderungen nicht so einfach zu bewerkstelligen sind, wenn man nicht das Risiko laufen möchte, neue Ungerechtigkeiten zu produzieren.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass einige – insbesondere die aus dem neoliberalen Sektor – ein hohes Interesse daran hätten, dass wir ganz flugs sagen: Jeder, der länger einbezahlt hat, bekommt entsprechend der Einzahlungsdauer am Ende auch Hartz IV bzw. ALG I.

Das klingt ja gerecht. Aber was passiert denn dann? Damit machen wir aus einem Solidarfinanzierungssystem, in dem die Starken für die Schwachen mit einstehen, eine Sparkasse. Ich möchte aber nicht, dass die, die als Marktradikale in diesem Land unterwegs sind, ein solches Instrument in die Hand bekommen; denn was am Ende dabei herauskommt, kann ich mir sehr gut vorstellen.

(Beifall von der SPD)

Deshalb müssen wir Veränderungen vornehmen, und wir werden Veränderungen vornehmen. Auch unsere Vorschläge werden kommen, aber wir werden sie sehr sorgfältig erarbeiten. Das wird viel damit zu tun haben, dass man das Ganze mit gezielter Qualifizierung, mit Weiterentwicklung und lebenslangem Lernen unterstützen muss.

(Rüdiger Sagel [fraktionslos]: Hartz IV muss weg!)