Protocol of the Session on January 21, 2010

Auch bei dem Thema Bildung muss man von beiden Seiten her denken: von der sozialen Seite und von der Seite des wirtschaftlichen Erfolges.

Besser statt billiger – ich nehme noch einmal diesen Begriff – bedeutet, innovativ zu sein. Das heißt, wir brauchen innovative, kreative junge Menschen, und zwar in großer Zahl. Es bedeutet auch, selbstbewusst zu sein. Das heißt, wir brauchen Querdenker. Wer kreativ sein will, muss oft querdenken. Dafür, Herr Ministerpräsident, muss man Freiräume geben. Dafür braucht man keine Kopfnoten, keine Duckmäuser und keinen Druck im System. Das ist exakt der falsche Weg. Exakt!

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Das ist die Grundlage, die uns unterscheidet. Ich glaube, dass wir wirtschaftlichen Erfolg nur dann haben, wenn wir die jungen Menschen mitnehmen, wenn wir ihnen Chancen geben, Perspektiven geben, wenn wir sie nicht unterdrücken, wenn wir nicht nur über Druck agieren.

Ich habe nichts dagegen – ich bin auch eine strenge Mutter –: Es muss Regeln geben, und Regeln sind einzuhalten, auch in der Schule. Aber warum müssen wir über Kopfnoten eine scheinbare Situation erzielen, in der die Qualität eines Menschen oder von jemandem, der eine Arbeitsstelle sucht, zu beurteilen wäre?

(Beifall von der SPD)

Das darf nicht sein. Das halte ich für fatal.

Wenn wir über Strukturen reden, die wir verändern müssen, dann reden wir nicht nur über Bildung – da könnte ich noch vieles hinzufügen; darüber diskutieren wir hier immer wieder –, sondern dann reden wir auch darüber: Was passiert denn auf dem Arbeitsmarkt? Auch da gehen die Dinge, glaube ich, sehr wohl zusammen: von der sozialen Seite und von der wirtschaftlichen Seite. Innovation beginnt in den Köpfen. Innovation heißt, auch langfristig denken.

Ich habe das miterlebt bei meiner Tour durch die Hidden-Champions-Unternehmen im letzten Sommer. Die, die aus dem Mittelstand Weltmarktführer oder Europamarktführer geworden sind, das sind die Familienunternehmen, die nicht jeden Hype mitmachen, die wissen, dass die Innovationskraft in den Köpfen ihrer Mitarbeiter steckt. Die wissen auch, dass Mitbestimmung die Innovationskraft stärkt.

(Beifall von der SPD)

Das haben die sehr wohl verstanden. Das ist bei manchen auf der Seite von CDU und FDP noch nicht angekommen.

Wenn wir darüber reden, wer innovativ ist,

(Christian Möbius [CDU]: Sie nicht!)

abgesehen davon, dass das in einer Ausbildung sicherlich angelegt sein muss, dann reden wir auch darüber, welche Grundlagen es eigentlich braucht, um innovativ und kreativ sein zu können.

(Zuruf)

Solche Sprüche aus solchen Köpfen braucht das Land jedenfalls nicht, Herr Kollege. Wirklich nicht!

(Beifall von der SPD)

Wenn wir darüber reden, welche Grundlagen dafür erforderlich sind, dann sage ich: Dafür braucht man Sicherheit. Sie reden ja auch über notwendige Flexibilität und Sicherheit. Ich würde das gerne mal mit Ihnen im Detail ausdiskutieren. Was für eine Sicherheit meinen Sie eigentlich? Das klingt ja gut. Aber da muss man in die Details hineingehen. Ich sage: Eine Sicherheit braucht man dringend, damit man, wenn man den ganzen Tag arbeiten geht, am Ende auch von seiner Hände Arbeit leben kann. Das ist für mich die wichtigste sichere Grundlage.

(Beifall von der SPD)

Arbeit hat auch etwas mit Würde zu tun. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.

Sicherheit heißt für mich nicht Ausbau des Leih- und Zeitarbeitswesens. Jetzt ist Herr Laumann nicht hier. Der hat hier gestern allen Ernstes behauptet, Schlecker sei ein Einzelfall.

(Lachen von der SPD)

Er hat in seinem eigenen Haus eine Studie machen lassen, mit der er den Zuwachs aufgezeigt hat. Er kennt doch all die Fälle, wie auch ich sie kenne. Bei mir zu Hause war es „real,-“. Die haben wir eingefangen, weil wir großen gesellschaftlichen Konsens geschaffen

(Gisela Walsken [SPD]: Druck!)

und den Druck der Verbraucher aufgebaut haben. Das gelingt nicht überall. Lassen Sie uns doch endlich diesen Auswüchsen, die da aufgekommen sind, einen Riegel vorschieben! Es kann doch nicht sein, dass immer mehr normale Arbeitsplätze durch Leih- und Zeitarbeit ersetzt werden. Wo kommen wir denn da hin für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft?

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Und wo kommen wir denn da hin, wenn Leih- und Zeitarbeit eben nicht mehr für den Bereich, für den es sinnvoll ist, eingesetzt wird? Wenn es um die

Abfederung von Auftragsspitzen geht, bin ich jederzeit dabei. Aber so wird sie nicht eingesetzt. An vielen Orten wird sie zum Dumping der Löhne eingesetzt und um die Preisspirale bei der Arbeit immer weiter nach unten zu drehen. Das ist inzwischen das Ziel von vielen Leih- und Zeitarbeitsfirmen.

Ganz perfide wird es, wenn ein Unternehmen die eigenen Leute rausschmeißt, selbst eine Leiharbeitsfirma gründet und die Arbeiternehmer zu einem Drittel weniger Lohn zurückkommen können. Das alles habe ich bei meiner Tour durchs Land erlebt.

Was heißt denn Sicherheit, wenn immer noch nicht „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gilt? – Das betrifft übrigens auch Frauen. Über Frauen – außer über Alleinerziehende – haben Sie in Ihrem Bericht überhaupt nichts gesagt. Das finde ich schon bemerkenswert, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Welche Sicherheit, Herr Ministerpräsident, meinen Sie denn, wenn Sie einen Koalitionsvertrag in Berlin mit unterschreiben, der Kettenverträge wieder möglich macht? Da brauchen Sie keinen Abbau des Kündigungsschutzes, weil die Leute demnächst sowieso nur noch mit Zeitverträgen beschäftigt werden.

(Beifall von der SPD – Svenja Schulze [SPD]: Unverschämtheit!)

Ich kann Ihnen vorhersagen, was auf dem Arbeitsmarkt passieren wird: Die prekäre Beschäftigung – 400-€-Jobs – nimmt zu.

Wir stehen für gute Arbeit. Wir stehen für gesicherte Perspektiven. Wir wollen nicht, dass Jugendliche nur in prekäre Arbeitsverhältnisse kommen. Wir wollen nicht, dass sie ein Praktikum nach dem anderen machen und dann, wenn sie Glück haben, irgendwann einen Zeitvertrag bekommen. Dann kriegen sie demnächst wegen der Kettenverträge immer weiter Zeitverträge.

(Wolfgang Jörg [SPD]: Und die sollen die Kinder kriegen!)

Ich sage es hier nicht zum ersten Mal: Das sind die gleichen jungen Menschen, von denen wir gerne mehr Kinder hätten. Das kann nicht funktionieren; da muss Politik ganzheitlicher denken.

(Beifall von der SPD)

Herr Ministerpräsident, noch einmal: Welche Sicherheit meinen Sie denn? Meinen Sie die Sicherheit, die Sie gerade „verstärken“ – in Anführungsstrichen –, wenn Sie die Gesellschaft auf den Weg in Dumpinglöhne bringen?

Sie sagen, bei Hartz IV müsse man die Hinzuverdienstgrenzen anheben. Herr Ministerpräsident, wenn man das ohne Mindestlohn macht, dann wird

Folgendes passieren: Heute ist es so, dass ein Hartz-IV-Empfänger einen 400-€-Job machen kann, aber nur 120 € behalten darf. Was passiert, wenn die Hinzuverdienstgrenzen – gehen wir einfach einmal davon aus, dass er die ganzen 400 € behalten kann – demnächst angehoben werden? – Dann werden die regulären Arbeitsplätze abgebaut. Die Unternehmer nehmen sich einen Hartz-IVEmpfänger und sagen: Du kannst bei mir die 400 € dazuverdienen. – Und dann zahlt kein Mensch mehr in die Sozialversicherungssysteme ein.

(Beifall von der SPD)

Keiner sorgt mehr fürs Alter vor, und wir drehen die Lohnspirale immer weiter nach unten. Das ist das, was passieren wird.

(Beifall von der SPD – Rainer Schmeltzer [SPD]: Der SGB-II-Kreis wird immer größer!)

Sie sagen, das werde nicht passieren, weil es das Verbot sittenwidriger Löhne gebe. Das ist Ihr Gegenargument.

(Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers: Nein!)

Doch, das haben Sie auf Nachfrage eines Journalisten gesagt.

(Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers: Nein!)

So habe ich es gelesen.

Dann sagen Sie, das Verbot sittenwidriger Löhne sei die Lösung. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht aus. Ohne Mindestlöhne wird genau dieser Weg in die 400-€-Job-Gesellschaft, in die DumpinglohnGesellschaft geführt.

(Beifall von der SPD)