Protocol of the Session on November 9, 2005

Wir brauchen eine neue Lehrerausbildung – das ist ein Teil der Antwort auf die Frage nach dem Wie –, eine neue Methodik und Didaktik des Unterrichts, ein besseres Schulklima, das Lernmotivation fördert, und wir müssen die notwendigen Ressourcen bereitstellen, damit individuelle Förderung besser möglich wird. Wir sind jetzt, wenige Wochen nach dem Politikwechsel, noch nicht am Ende all unserer Träume, aber der Weg, die Richtung und der Kurs, den wir eingeschlagen haben, stimmen. Wir haben angefangen mit den ersten 1.000 Lehrer-Neueinstellungen.

(Zurufe von der SPD)

Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Damit wird sich die Bildungsversorgung in NordrheinWestfalen verbessern. Wir werden mehr Unterrichtszeit für junge Menschen in NordrheinWestfalen schaffen und damit mehr Zukunft für mehr junge Menschen in NRW. – Vielen Dank.

(Beifall von FDP und CDU)

Danke schön, Herr Witzel. – Als nächste Rednerin hat Frau Beer von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inwieweit Herr Witzel bereit ist, ideologiefrei zu diskutieren, werden wir gleich an den Reaktionen auf meine Rede sehen.

Hand aufs Herz: Was machen Sie eigentlich, wenn Sie feststellen, dass in einer Kommode der Wurm ist? – Es reicht bei dieser Diagnose nicht aus, lediglich die Schubladen aufzuräumen. Nein, man muss das ganze Möbel auseinander nehmen und einer grundlegenden Behandlung unterziehen.

Diese grundlegende Herangehensweise gilt auch in Bezug auf unser Bildungssystem. Es sind nicht zuletzt die Befunde der Pisa-Studie, die uns ins Stammbuch schreiben, dass wir die Herausforderung des 21. Jahrhunderts mit dem Wandel zur Wissensgesellschaft, der Demographie und des sozialen Zusammenhalts in unserer Gesellschaft nicht meistern können auf der Grundlage eines Bildungssystems, das das ständische Verständnis einer Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in sich trägt und weiter am Leben erhält und im tiefsten Herzen ein Familienbild der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts pflegt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die rasanten und wichtigen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre haben uns eine ungeheure Dynamik im technologischen Wandel und im Wechsel der Konzeption von Arbeit und der wirtschaftlichen Globalisierung und einer wachsenden sozialen Heterogenität beschert.

Wir müssen uns jetzt vor Augen führen, welche Perspektiven wir für die Zukunft haben. Wissensarbeiterinnen und -arbeiter werden die einzige schnell wachsende Gruppe der arbeitenden Bevölkerung sein. Bei einer Verdoppelung der manuellen Produktion wird jedoch der Anteil der in der manuellen Produktion Beschäftigten auf 10 % schrumpfen.

Wir müssen uns kritisch fragen, welche Lebens- und Teilhabechancen wir unseren Jugendlichen bieten, wenn mehr als ein Viertel aufgrund des unzureichenden Kompetenzerwerbs als Risikogruppe bezeichnet werden muss. Können wir wirklich noch Bildungsgänge vorhalten, in denen wir die Kompetenzerwartung von Anfang an niedriger ansetzen als in anderen?

(Beifall von den GRÜNEN)

Eine logische Konsequenz wird uns in der KliemeExpertise angemahnt: Wir müssten schulformübergreifende Standards formulieren. Dies hat aber die KMK zurückgefahren und uns schulformbezogene Standards beschert.

Sozial ist, was Bildungsbeteiligung schafft. Seit Pisa 2000 haben wir die Tatsache endgültig schwarz auf weiß, dass es keinem Bundesland gelingt, Leistung und Bildungsbeteiligung, das heißt Leistung und Chancengleichheit, zusammenzubringen – auch Bayern nicht. Diese Tatsache hat sich auch bei Pisa 2003 nicht geändert.

Wir müssen an die Pisa-Spitze anschließen, die uns vormacht, dass Leistung und Chancengleichheit zwei Seiten einer Medaille sind, die gemeinsam realisiert werden müssen.

Derzeit bleibt der bildungs- und sozialpolitische Skandal bestehen: In Deutschland entscheiden die soziale Herkunft und der Geldbeutel der Eltern über den Bildungserfolg.

(Zurufe von Manfred Kuhmichel [CDU] und Ralf Witzel [FDP] – Weitere Zurufe)

Das gilt – das ist schmerzlich – auch für Nordrhein-Westfalen. Wer dafür Ursachenforschung betreiben will, kommt nicht an der Erkenntnis vorbei, dass innere und äußere Schulreformen, also Unterrichts- und Strukturentwicklung, Hand in Hand gehen müssen, wenn es gelingen soll, die Zukunftsaufgaben zu meistern und den Schülerinnen und Schülern, die jetzt zur Schule gehen, eine Kompetenzentwicklung zu ermöglichen, die soziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe schafft.

Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen, innere und äußere Schulreform müssen Hand in Hand gehen. Ich habe das bereits betont. Ich unterstreiche dabei: Strukturfragen sind kein Selbstzweck. Wir müssen vielmehr fragen: Welche Strukturen sind dem Ziel, Bildungsbeteiligung und Leistung zu entwickeln, dienlich? Meines Erachtens gilt immer noch: Das Sein, das Lernen und Unterrichten in bestimmten Strukturen, bestimmt auch das Bewusstsein.

Das möchte ich Ihnen besonders in Bezug auf den Professionalitätsansatz von Lehrern und Lehrerinnen verdeutlichen – ausdrücklich nicht als Schuldzuweisung, sondern als Situationsanalyse. Über die Frage, wie mit Heterogenität und Verschiedenheit von Schülerinnen und Schülern in unserem System umgegangen wird, gibt es zu Recht harte Urteile. So spricht Andreas Schleicher, Pisa-Chef der OECD, der dafür bekannt ist, auch die unangenehmen Botschaften zu verkün

den, die die KMK so ungern hört, von der „organisierten Verantwortungslosigkeit im deutschen Bildungssystem“.

(Beifall von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Das erinnert übrigens noch einmal daran, dass Pisa ein Systemmonitoring ist und keine Betrachtung der Einzelschule leisten kann.

Der Schulforscher Helmut Fend spricht in aller Deutlichkeit von der „Entsorgungsmentalität im deutschen Schulsystem“. Hinter beiden Äußerungen steckt die Erkenntnis, dass die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer stark von der Systematik des gegliederten Systems beeinflusst ist. Sie stützt eine gewisse Haltung, die heißt: „Ich könnte eigentlich einen so guten Unterricht machen, wenn ich nur die richtigen Schülerinnen und Schüler hätte.“

In der Folge werden die Schüler und Schülerinnen, die nicht zu dieser Unterrichtsvorstellung passen, aus der Lerngruppe verbannt. Sie bleiben sitzen oder werden sogar im System nach unten durchgereicht in – auch so verstandene – weniger anspruchsvolle Schulformen. Das ist der Einfluss des Systems in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer. Wenn wir an die Qualität des Unterrichts wollen, müssen wir das System entsprechend umstellen.

Die Lehrkräfte auch an der Hauptschule können nicht dagegen an arbeiten. Der Anteil der Risikogruppe liegt dort bei 66 %. 60 % haben eine verzögerte Schullaufbahn. Die Hauptschulen müssen eine ungeheure Integrationsleistung erbringen, weil sie knapp 35 % ihrer Schülerschaft erst im Laufe der Sekundarstufe von den anderen Schulformen durchgereicht bekommen.

Frau Ministerin, ich begrüße die Initiative, die Schülerinnen und Schüler, die sich jetzt in den Hauptschulen befinden, zu stützen und dort die Mittel konzentriert einzusetzen. Doch das ist keine Zukunftsperspektive.

(Zuruf von der FDP: Sondern?)

Ein nüchterner Blick auf die Systemlandschaft der Bundesländer zeigt, dass die Systemfrage gerade in Bezug auf die Hauptschulen längst gestellt ist. In den neuen Bundesländern dominiert inzwischen die Zweigliedrigkeit. Aktuell steht auch in Hamburg – forciert durch die CDU – die Hauptschule zur Disposition. Das ist inhaltlich sehr wohl begründet.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die bildungsinteressierten Eltern kennen das Berechtigungssystem, das unsere Schullandschaft kennzeichnet. Sie wissen sehr genau, dass ihre Kinder mit dem Hauptschulabschluss auf dem dynamischen Arbeitsmarkt keine Chance haben. Niemand denkt daran, einen Schalter umzulegen und ab morgen ein anderes System einzuführen. Aber wir müssen die Schritte im Umsteuerungsprozess konsequent gehen.

Wenn Sie auf die Ergebnisse von NordrheinWestfalen bei Pisa 2003 schauen – ich betone noch einmal: Wir haben es mit einem Systemmonitoring zu tun –, sollten Sie die Ergebnisse der Lernstandserhebungen daneben legen. Sie bringen sehr differenziert die Standortfaktoren der Schulen zum Tragen. Wir sollten auch solche Studien, wie sie Klemm und Block vorgelegt haben, zu den soziokulturellen Einflüssen auf Schule und zur sozialen Ungleichheit in Form von Arbeitslosigkeit in den Bundesländern, mit heranziehen. Erst dann ist es möglich, das differenziert zu betrachten und eine differenzierte Analyse vorzulegen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, als nächste Rednerin spricht für die Landesregierung Frau Ministerin Sommer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Guten Morgen. Letzte Woche wurden die aktuellen Ergebnisse des PisaLändervergleichs vorgestellt. Der Vergleich zu Pisa 2000 – so schreiben die Pisa-Verantwortlichen – brachte für Deutschland insgesamt positive und erfreuliche Ergebnisse.

Zahlreiche Länder konnten sich im internationalen Vergleich sehr viel besser positionieren als bei der ersten Pisa-Studie. Der deutsche Pisa-Sieger Bayern konnte sogar in allen untersuchten Kompetenzbereichen in die internationale Spitzengruppe vorrücken.

Leider, meine Damen und Herren, trifft diese erfreuliche Botschaft nicht auf unser Land zu. In Mathematik, Lesen und den Naturwissenschaften belegt unser Land leider nur hintere Rangplätze. Der Abstand zum Pisa-Sieger Bayern beträgt rund – wir haben es heute Morgen schon gehört – ein Jahr Lernzeit.

Auch wenn man die soziale Herkunft und den Sprachhintergrund der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, ändert sich an diesem Bild nur wenig. Nordrhein-Westfalen gehört zu den Pisa

Verlierern. Denn das ist man, wenn man merkt, dass sich andere Länder weitgehend verbessern und man selbst in Nordrhein-Westfalen im Wesentlichen stagniert.

Ich habe schon im Juli gesagt und wiederhole es heute: Ich bedauere das schlechte Abschneiden unserer Jugendlichen außerordentlich. Ich hätte mir gewünscht, dass die harte Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen zu einem besseren Ergebnis geführt hätte.

(Beifall von CDU und FDP)

Unsere Kinder und Jugendlichen sind nicht dümmer und unsere Lehrerinnen und Lehrer sind nicht weniger engagiert als in anderen Bundesländern.

(Beifall von CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, die aktuellen Ergebnisse stellen ein katastrophales Abschlusszeugnis der alten Landesregierung dar.

(Manfred Kuhmichel [CDU]: Das kann man wohl sagen!)

Bereits bei Pisa 2000 hatte Nordrhein-Westfalen nur mäßig abgeschnitten. Andere Länder haben es uns jetzt vorgemacht. Sie haben gezeigt, dass man sich innerhalb kürzester Zeit verbessern kann. In Nordrhein-Westfalen sind im Vergleich zu Pisa 2000 bis auf den Bereich Naturwissenschaften keinerlei substanzielle Verbesserungen festzustellen. In den meisten anderen Ländern wurden dagegen sehr viel größere Fortschritte erreicht. Dies gilt nicht nur für die Spitzenländer, sondern auch und gerade für die Länder, die beim letzten Mal auf den unteren Rangplätzen standen – siehe Sachsen-Anhalt.

Die Erfolge der Pisa-Spitzenländer wie zum Beispiel Bayern und Baden-Württemberg müssen uns Vorbild und Ansporn sein. Deshalb habe ich bereits im Sommer bei der Vorstellung der ersten Ergebnisse zum Pisa-Ländervergleich gesagt, dass wir eine Aufholjagd vor uns haben. Wir werden in Nordrhein-Westfalen die guten Erfahrungen anderer nutzen, dabei aber unseren eigenen Weg gehen, um zu den Spitzenländern aufzuschließen.

(Beifall von der CDU)

Ich weiß, dass das ein langwieriger Weg sein wird und wir diesen Rückstand sicherlich nicht bis zur nächsten Erhebung im Frühjahr 2006 einholen können. Aber, meine Damen und Herren, 2009 werden die Erfolge deutlich erkennbar sein. Dessen bin ich mir ganz sicher.

(Beifall von CDU und FDP)