Protocol of the Session on October 27, 2005

Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP Drucksache 14/471 - Neudruck

Ich eröffne die Beratungen und gebe als erster Rednerin der Abgeordneten Kastner von der CDU-Fraktion das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft steht für die Koalition im Mittelpunkt. So stand es in unseren Wahlprogrammen. So haben wir es auch in unserem Koalitionsvertrag festgehalten. Ich zitiere:

„Nordrhein-Westfalen soll wieder ein Land der Kinder sein. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft müssen Mütter, Väter und ihre Kinder konsequenter unterstützen und fördern.“

Familien stehen heute mehr denn je vor vielfältigen Herausforderungen. Die Anforderungen im Beruf und im Privatleben steigen. Von Männern und Frauen wird im Beruf zunehmend mehr Mobilität, Flexibilität und die Bereitschaft zum Besuch von Weiterbildungen verlangt.

Dabei erfahren die Qualitäten von Männern und vor allem von Frauen, die sie gerade dadurch entwickeln, dass sie Väter und Mütter sind, nur langsam Anerkennung in unserer Berufswelt.

Die schwierige ökonomische Lage verschärft die Situation, der sich Familien heute ausgesetzt sehen, und führt zunehmend dazu, dass Menschen ihren Kinderwunsch immer weiter aufschieben oder gar nicht erst erfüllen.

Aus den Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen zum Beispiel erfahren wir, wie häufig gerade die wirtschaftlichen Zwänge, der Kampf um den Arbeitsplatz und das damit gesicherte Familien

einkommen, das Leben von Kindern schon in der Existenz gefährden. Es gilt, dem wirksam zu entgegnen.

Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag wollen wir hierzu einen Beitrag leisten. Kindertageseinrichtungen sollen zu Familienzentren weiterentwickelt und ausgebaut werden. Kindertageseinrichtungen sollen dazu selbstverständlich an erster Stelle weiterhin Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder sichern. Dies ist ihr primärer Auftrag. Kinder sollen altersgemäß gefördert werden.

Mit der Weiterentwicklung und dem Ausbau zu Familienzentren wollen wir aber zusätzlich auch ein Angebot für Eltern schaffen. Familienzentren sollen Orte werden, an denen Eltern bei der Bildung und Erziehung ihrer Kinder bei Bedarf die notwendige Unterstützung und fachlich kompetente Hilfe erhalten können. Wir wollen das auch in Konsequenz aus Pisa. Gerade in dieser Studie wurde immer wieder betont, wie wichtig es sei, dass der soziale und familiäre Hintergrund stimmt.

Wir wissen, dass viele Familien Unterstützung bei der Bewältigung des Alltagslebens gebrauchen können. Es gibt sie, die vielen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen, in denen Hilfs- und Beratungsangebote bereitgehalten werden. Häufig finden jedoch gerade die Menschen, die eine entsprechende Unterstützung dringend bräuchten, nicht den Weg zu diesen Einrichtungen.

Warum entwickeln wir Familienzentren gerade aus Kindertagesstätten? Lassen Sie mich dies näher ausführen: Der überwiegende Anteil der nordrhein-westfälischen Kinder, etwa 90 %, besucht im entsprechenden Alter eine Kindertagesstätte. Die Mitarbeiter der Kindertagesstätten stehen über die Kinder auch in Kontakt zu den Eltern. Väter und Mütter bringen ihre Kinder in die Einrichtungen oder holen sie wieder ab. Durch den ständigen Kontakt mit den Erzieherinnen und anderen Eltern entsteht in der Regel ein Vertrauensverhältnis, welches an anderer Stelle erst mühsam aufgebaut werden müsste.

Bei diesem Vertrauensverhältnis wollen wir ansetzen. Häufig erfahren Erzieherinnen und Erzieher von Problemen in Familien. In einem Familienzentrum können sie den Familien die erforderliche Unterstützung und fachliche, kompetente Hilfe empfehlen und vermitteln. Die Familienzentren gewährleisten genau das, was sie dringend brauchen - ein niederschwelliges Angebot. Bildungs-, Unterstützungs- und Beratungsangebote sollen hierdurch einfacher und für alle zugänglicher gemacht werden.

Dies ist auch gerade vor dem Hintergrund bedeutsam, dass immer mehr Familien über eine Zuwanderungsgeschichte verfügen. Wir wollen die Alltagsnähe der Kindertagesstätten nutzen, um die Menschen an dem Punkt abzuholen, wo sie sich gerade befinden. So werden Familienzentren zu sozialen Knotenpunkten ganz in der Nähe der Familien.

In den letzten Tagen bin ich häufig gefragt worden, ob nicht auch Jugend- oder Bürgerzentren zu Familienzentren ausgebaut werden könnten. Prinzipiell bin ich für alles offen. Man muss da sicherlich Konzepte sehen und prüfen. In der Regel sollten aber wegen der vorhin genannten engen Beziehungen der Eltern zu den Kindertagesstätten weiterhin die Kindertagesstätten im Fokus stehen bleiben.

Was wollen wir mit den Familienzentren? - Grundsätzlich gilt für uns, dass wir keine neuen Hilfs- und Beratungsstrukturen aufbauen wollen. Es geht darum, die bereits vorhandenen Angebote sinnvoll miteinander zu vernetzen. Wir wollen auf die wertvollen Kompetenzen und Erfahrungen der vorhandenen Einrichtungen nicht verzichten. Das können wir uns aus fachlicher Sicht, aber auch mit Blick auf den Haushalt gar nicht anders leisten.

Vielmehr wollen wir die vorhandenen Angebote zum Wohl und Nutzen der Familien zusammenführen, wobei die Kindertagesstätten - wie gesagt - Dreh- und Angelpunkt sein sollen. Die Kindertagesstätten sind damit die zentrale Einrichtung, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Hier erreichen wir Menschen in Alltagssituationen und können auch individuelle Unterstützung bieten.

Um welche Angebote soll es gehen, meine Damen und Herren? - Wir haben zwar grundsätzlich Vorstellungen, auf die ich gleich zurückkomme, aber prinzipiell gilt zunächst einmal eins: Die Träger vor Ort wissen, welche Detailangebote man braucht. Das Land ist bunt, und das soll und wird sich auch in den Familienzentren niederschlagen.

Noch einmal: Die Art der Zusammenarbeit hängt von den Verhältnissen vor Ort, den bereits vorhandenen Räumlichkeiten und Strukturen und nicht zuletzt oder vielleicht in ganz besonderer Weise vom Ideenreichtum der Träger ab. Wirksamkeitsaspekte sind bei der Frage der Ausgestaltung und der Art der Zusammenarbeit von zentraler Bedeutung.

Es gibt bereits einige Einrichtungen in unserem Land, die man als Familienzentrum bezeichnen kann. Diese Einrichtungen sind in der Tat schon heute recht unterschiedlich. So gibt es beispiels

weise Einrichtungen wie den „Blauen Elefanten“ in Essen, bei dem die Bildungs-, Hilfs- und Beratungsangebote unter einem Dach angeboten werden. Kinder und Eltern werden hier in einem Haus umfassend versorgt. Dies ist eine denkbare Form und auch nur unter den idealtypischen Bedingungen wie in Essen realisierbar.

Daneben gibt es aber auch andere Einrichtungen, die bereits vorhandene Beratungsangebote im Sinne einer engen Kooperation vernetzt haben. Hier können wir uns vorstellen, dass die Kindertageseinrichtungen die Koordination und Vermittlung der entsprechenden Angebote übernehmen. Sie sollen an die jeweiligen Experten vermitteln und den Familien damit den Weg im Angebotsdschungel von Beratung und Unterstützung weisen. Häufig wird es Aufgabe sein, erst einmal aufzuzeigen, dass es Wege aus einer Krise geben kann.

Nun zu den konkreten Angeboten der Familienzentren:

Erstens. Familienzentren sollen den Auftrag von Bildung und Betreuung wahrnehmen und eine so früh wie möglich einsetzende Förderung gewährleisten. Wir wollen, dass über Familienzentren dabei auch verstärkt Betreuungsplätze für unter Dreijährige angeboten werden. Die derzeitige Versorgungsquote von 2,8 % ist äußerst unbefriedigend und muss daher deutlich verbessert werden. Deshalb sollen Familienzentren auch zu Vermittlungszentren für qualifizierte Tagesmütter und Tagesväter werden.

Zweitens. Familienzentren sollen auch Zentren für die vorschulische Sprachförderung werden. Immer mehr Kinder mit oder ohne Migrationshintergrund haben erhebliche sprachliche Defizite. Hier gilt es frühzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und vorschulische Sprachkurse anzubieten.

Drittens. Familienzentren sollen den Übergang in die Schule erleichtern. Hierzu sollen Familienzentren und Schulen zum Wohl der Kinder enger zusammenarbeiten. Schließlich ist der Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule ein für die Kinder und deren weitere Entwicklung wie auch für ihre Eltern entscheidender Schritt, der möglichst reibungslos verlaufen sollte.

Viertens. Familienzentren sollen mit der Familienbildung und -beratung enger kooperieren und die entsprechenden Angebote bei Bedarf vermitteln, wobei wir uns gerade bei der Beratung einen Lückenschluss erhoffen, wissen wir doch, dass es nicht immer die Einzelberatung sein muss, son

dern auch allgemeine Beratung und Fachvorträge oder Angebote in Gruppen hilfreich sein können.

Fünftens. Familienzentren können auch generationsübergreifend Projekte wahrnehmen und damit vor allem das bürgerschaftliche Engagement der Menschen vor Ort stärken.

Sie sehen, die von uns beantragten Familienzentren sollen ein breites Aufgabenspektrum wahrnehmen. Mit den Familienzentren und den Ganztagsschulen wollen wir Schritt für Schritt in Nordrhein-Westfalen ein lückenloses, bedarfsgerechtes und verlässliches Betreuungsgefüge aufbauen, das hohen pädagogischen Anforderungen standhält.

Im Interesse und zum Wohle der Familien, der Kinder und ihrer Eltern wünschen wir uns eine sinnvolle Vernetzung der bereits bestehenden Strukturen und eine neue Art der Zusammenarbeit. Das Rad soll nicht neu erfunden werden, aber Einrichtungen und Träger sollen sich - wie es zum Teil bereits geschieht - für neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit öffnen und damit ihr fundiertes Wissen und ihre Erfahrung einbringen.

Ich bin davon überzeugt, alle werden hiervon profitieren - Kinder, Eltern und letztlich auch unsere Gesellschaft, die hierdurch kinder- und familienfreundlicher wird. Familienzentren werden berufstätige Frauen dabei unterstützen, Familien- und Erwerbsarbeit miteinander zu vereinbaren.

Unser Ziel ist es, bis zum Ende der Legislaturperiode flächendeckend Familienzentren in Nordrhein-Westfalen zu etablieren. Ich weiß, dass der Gedanke der Familienzentren auf große Akzeptanz stößt. Viele Träger und Einrichtungen machen sich bereits Gedanken. Ich wünsche mir deshalb, dass wir bereits in Kürze die ersten Zentren eröffnen können.

Sehr geehrte Damen und Herren, im Sinne der Familien bitte ich darum, diesen Antrag zu unterstützen.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr Abgeordneter Lindner von der FDP-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lebenssituation von Kindern und ihren Familien hat sich in den letzten Jahren verändert. Frau Kastner hat darauf hingewiesen. Kinder erleben Familien heue leider als instabil. Die Kinder selbst werden früher als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen

und gefördert. Eltern sind aufgrund der Trends zur Verinselung und der Anforderungen an ihre Mobilität vielfach mit ihrem Erziehungsauftrag auf sich allein gestellt, und in Zeiten der Super-Nanny hat man den Eindruck, sie sind verschiedentlich auch mit ihrem Erziehungsrecht überfordert. Häufig genug konzentrieren sich gesellschaftliche Benachteiligungen bei Familien, insbesondere bei Familien mit Zuwanderungsgeschichte.

Diese Zustandsbeschreibung ist nicht spezifisch nordrhein-westfälisch; sie ist international feststellbar. Deshalb sind etwa in Großbritannien schon vor über einem Jahrzehnt sogenannte Early Excellence Centre gegründet worden, die Bildung, Betreuung und andere familienunterstützende Leistungen aus einer Hand anbieten wollen. Auch in Deutschland wurden bereits vor zehn Jahren entsprechende Innovationen im Rahmen des Projekts „Häuser für Kinder“ des Deutschen Jugendinstituts erprobt.

Systematisches gemeinsames Merkmal des britischen Modells wie auch der Häuser für Kinder, der Familienzentren und anderer Angebote dieser Art sind die innere und die äußere Öffnung der Arbeit:

Einrichtungen öffnen sich nach innen durch die Weiterentwicklung und Ergänzung ihres Angebots, um neuen Bedürfnissen von Kindern und Familien entsprechen zu können. Von der Bereitschaft zum Gespräch mit Eltern über deren Erziehungsprobleme über gezielte Sprachförderungsmaßnahmen bis etwa hin zu Eltern-Kind-Kursen für Scheidungsfamilien sind da ganz unterschiedliche, an den örtlichen Bedarfslagen orientierte Angebote denkbar.

Einrichtungen öffnen sich andererseits nach außen, indem sie sich mit anderen Akteuren der Jugend- und Familienhilfe und dem Leben in ihrem Standteil eng vernetzen. Familienzentren können und sollen aus ökonomischen Gründen all diese Angebote auch nicht selbst vorhalten - wir wollen keine Doppelstrukturen -, sondern sie sollen eine Drehscheibenfunktion im Sozialraum einnehmen und Wege zu anderen Hilfsangeboten für Familien ebnen.

Vielfach sind aus der guten Praxis in Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen entsprechende Angebotsprofile entstanden. Es ist auf die beiden Einrichtungen des Blauen Elefanten in Essen hingewiesen worden. In der nächsten Woche werde ich in Dormagen das dortige Haus der Familie besuchen. Es gibt auch viele andere.

Flächendeckend ist eine solche Weiterentwicklung der Arbeit von Kindertageseinrichtungen in

Nordrhein-Westfalen aber leider nicht feststellbar. Im Gegenteil, im Rahmen der Erprobungsmaßnahmen nach § 21 GTK sind entsprechende Initiativen und Vorhaben seitens der rot-grünen Vorgänger-Landesregierung vor einigen Jahren sogar ausdrücklich untersagt worden.

Die Förder- und Arbeitsbedingungen in Kindertageseinrichtungen sind in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert worden, beispielsweise durch Veränderungen im Personalschlüssel in den Jahren nach 1998, durch die erleichterte Überschreitung der Regelgruppengröße von 25 Kindern und nicht zuletzt durch die Kürzung von über 100 Millionen € Betriebskostenförderung im laufenden Doppelhaushalt. Zur Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen tut deshalb eine neue Initiative not. Unser mittelfristiges Ziel muss ein neues Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder sein, das Antworten auf die unterschiedlichen, sich neu stellenden Fragen gibt.

FDP und Union haben in ihrer Koalitionsvereinbarung zum Ausdruck gebracht, dass sie gemeinsam die Förder- und Arbeitsbedingungen in allen 9.500 nordrhein-westfälischen Kindertageseinrichtungen verbessern werden. Dazu gehört: Kinder sollen bestmöglich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden. Insbesondere Kinder mit Zuwanderergeschichte sind in Nordrhein-Westfalen viel zu lange vernachlässigt worden. Dazu gehört auch, dass Familien in ihrer Gründungsphase begleitet werden und überall dort Unterstützung erfahren, wo sie sich überfordert fühlen.

Für diese beiden Ziele, Herr Finanzminister, sollten die etwa 90.000 Plätze, die aufgrund des demographischen Wandels bis zum Jahr 2010 in Kindertageseinrichtungen nicht mehr benötigt werden, sowie die ebenfalls sicherlich 90.000 Plätze, die durch die vorgezogene Einschulung frei werden, trotz der schwierigen Haushaltslage zumindest teilweise weiter im System Kindertageseinrichtungen finanziert werden.

Mit diesen quantitativen Spielräumen kann die qualitative Weiterentwicklung des Elementarbereichs angestoßen werden. Wie sich diese dann konkret darstellen wird, wird von den örtlichen Gegebenheiten abhängen. Deshalb muss es unter der Überschrift „Ermöglichen statt steuern“ darum gehen, Innovationen fachlich anzuregen, aber nicht deren Ergebnisse im Einzelnen vorzugeben.

In einem ersten Schritt wird dazu, wie der Minister angekündigt hat, jeweils mindestens ein Familienzentrum als Pilotprojekt in jedem Jugendamtsbezirk einzurichten sein. Wir versprechen uns davon