Protocol of the Session on November 12, 2008

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Löhrmann. – Für die Landesregierung hat jetzt Herr Minister Laumann das Wort. Bitte schön, Herr Minister.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer gut, wenn der Landtag von Nordrhein-Westfalen über die Frage der Gerechtigkeit diskutiert.

Auch diese Debatte macht deutlich, dass die Fraktionen – wahrscheinlich ist das auch in der Bevölkerung so – von Gerechtigkeit unterschiedliche Vorstellungen haben. Ich bin im Übrigen der festen Überzeugung, dass wir tun können, was wir wollen: Am Ende wird es immer Menschen geben, die das Handeln als nicht gerecht empfinden.

Die Frage, die eine Regierung beantworten muss, lautet deshalb: Lassen sich ihr politischer Kurs und die Richtung, die sie einschlägt, auch an den Parametern der Gerechtigkeit messen, und hat sie – ohne dabei als Regierung den Anspruch zu erheben, auf allen Baustellen gleichzeitig unterwegs sein zu können – diese Parameter im Auge?

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

Uns allen, die wir Politik in der heutigen Zeit gestalten, ist eines gemein: Wir müssen Politik mit äußerst knappen öffentlichen Finanzressourcen gestalten. Das ist doch wohl die Wahrheit. Und dass die Generationen vor uns mehr Geld ausgegeben haben, als sie hatten, wissen Sie ja.

Wenn ich es richtig weiß, verabschiedet der Landtag in diesem Jahr zum 42. Mal in Folge einen Haushalt, in dem die Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Das ist ein Problem.

Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie allein in den letzten fünf Jahren Ihrer Regierung neue Schulden in Höhe von 32 Milliarden € aufgenommen. Das heißt, 44 % der Verschuldung NordrheinWestfalens sind erst in den letzten fünf Jahren hinzugekommen.

(Beifall von der CDU)

Jetzt stellen Sie sich einmal vor, wir hätten so weitergemacht! Stellen Sie sich nur einmal vor, wir hätten das getan – und das angesichts dessen, was uns im nächsten Jahr aufgrund der Finanzkrise wahrscheinlich alles noch ereilen kann! Dann hätten wir bei den Leistungen für die sozial Benachteiligten in unserem Land noch ganz andere Einschnitte erlebt, als wir sie uns überhaupt vorstellen können.

(Beifall von der CDU)

Deswegen ist auch den Sozialministern klar, dass ein Kurs sparsamer, vernünftiger und solider Haushaltspolitik etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat, indem man nämlich auch in Zukunft einen starken Staat für die Schwachen erhält und den Kindern, die uns nachfolgen werden, nicht zu viel überlässt, für was sie zahlen müssen. Das ist auch eine Frage von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Dann möchte ich gern einen weiteren Punkt ansprechen, der auch dazugehört. Ich glaube, die Gerechtigkeitsfrage entscheidet sich nicht allein daran, ob wir für die SGB-II-Empfänger mehr oder weniger Geld mobilisieren – so wichtig das für den Einzelnen auch ist –, sondern vor allen Dingen daran, ob Menschen aufgrund von Bildung und Ausbildung eine faire Chance besitzen, etwas aus ihrem Leben zu machen.

Ich bin davon überzeugt, dass dies die entscheidende Gerechtigkeitsfrage ist: Hast du unabhängig von der Situation in deinem Elternhaus eine faire Chance, durch Anstrengung, Bildung und Fleiß etwas zu erreichen, um zum Beispiel auch in der Arbeitswelt aufsteigen zu können? Damit erledigen sich nämlich auch viele soziale Probleme.

Unsere Arbeitswelt hat etwas mit Ausbildung zu tun. Zum Beispiel ist ein Mensch ohne Berufsausbildung 14-mal häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als ein Mensch mit einer soliden Berufsausbildung.

Wir wissen – auch durch unseren Armuts- und Reichtumsbericht –, dass viele Frauen deswegen in schwierigen Verhältnissen leben, weil sie alleinerziehend sind und ein Kind unter drei Jahren haben. Man sieht genau, dass, wenn die Kinder sechs Jahre sind und mit der Schule anfangen, die Sozialhilfebedürftigkeit von alleinerziehenden Frauen erheblich zurückgeht.

Ich möchte einmal schildern, wie es unter Ihrer Regierung war, denn Sie haben schließlich diesen Antrag eingebracht, in dem es tendenziell heißt, wir seien unsozial. Ich habe gar kein Problem damit, wenn Sie Verbesserungsvorschläge unterbreiten.

Aber in Ihrem Antrag sprechen Sie der gesamten Tendenz nach davon, dass die Regierung unsozial sei.

Als wir hier die Regierungsverantwortung übernommen haben, gab es überhaupt nur für 2,8 % der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsangebot. Für die Kinder, die aus Integrationshaushalten kamen, gab es nur ganz vereinzelt Sprachförderung.

Wir dürfen wohl behaupten, dass wir seit Regierungsantritt eine Richtung verfolgt haben:

Mit dem Kinderbildungsgesetz haben wir die individuelle Bildungsförderung gestärkt. Wir haben in nur drei Jahren das Betreuungsangebot für unter Dreijährige von unter Ihrer Regierung 11.800 auf nunmehr 44.600 Plätze erhöht und einen Rechtsanspruch ab 2010 und 2011 ins Gesetz geschrieben. Das heißt, 44.600 Mütter können arbeiten gehen, weil sie wissen, dass es eine Betreuung für ihr Kind gibt. Was soll an dieser Politik falsch sein?

(Beifall von CDU und FDP)

Diese Politik kostet natürlich auch Geld. Sie wissen ja, dass wir im KiBiz erheblich mehr Geld zur Verfügung stellen, als es vorher der Fall war.

Außerdem haben wir in unserem Land mittlerweile 330.000 Kinder im Alter von vier Jahren auf ihre Sprachkenntnisse getestet. Wir wissen nämlich, dass die Kinder, wenn sie mit sechs Jahren eingeschult werden und die deutsche Sprache nicht beherrschen – also auch ihren Lehrer nicht verstehen können –, erhebliche Probleme in ihrer gesamten Schulentwicklung haben werden.

(Beifall von der CDU)

Wir haben festgestellt, dass fast 70.000 Kinder erhebliche sprachliche Probleme aufweisen. Und es ist doch eine gute Politik, dass diese fast 70.000 Kinder in den Tageseinrichtungen jetzt eine gezielte Förderung erhalten, damit sie bei Einschulung ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, vor allem aber auch ihre Lehrerinnen und Lehrer verstehen können.

Das ist eine Politik, bei der es um Bildungschancen und damit vor allen Dingen um soziale Gerechtigkeit geht.

(Beifall von der CDU)

Glauben Sie doch bitte nicht – ich habe das eben wieder im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsschulen gehört –, dass sich das Problem der Kinder, die sich in der theoretischen Ausbildung schwerer tun, gelöst wird, indem wir die Schulformen ändern! Glauben Sie doch bitte nicht, dass ein Schüler mit der Qualifikation eines heutigen Hauptschülers zukünftig leichter eine Lehrstelle finden würde, wenn wir die Schulform ändern würden und sie einen anderen Namen trüge!

(Beifall von der CDU)

Das ist doch alles Quatsch. Die Schüler, die die Gesamtschulen mit einem Hauptschulabschluss verlassen, haben die gleichen Probleme, eine Lehrstelle zu finden, wie diejenigen, die aus der normalen Hauptschule kommen. Das sagt Ihnen derjenige, der für die Lehrlingspolitik in diesem Land Verantwortung trägt!

(Beifall von der CDU)

Deswegen ist es doch eine richtige Politik, dass wir gerade bei den Hauptschulen sehr stark auf Ganztagsschule setzen und wir diese Schulform in unserem Streben, möglichst schnell in NordrheinWestfalen zu einem Ganztagssystem zu kommen, auch ein Stück weit privilegieren.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Das ist geschei- tert!)

Das ist auch deswegen notwendig, weil Schule heute anders ist. Ein Großteil der Eltern muss heute berufstätig sein. Da ist die Förderung am Nachmittag bei den Schularbeiten eben nicht mehr so möglich, wie ich das zu Hause noch erfahren habe. Von daher ist die Ganztagsschule für viele ein richtiges Angebot und der Staat muss sich in der Schule stärker engagieren als früher.

Der Staat kann aber doch nicht dadurch stärker werden, dass er das wenige Geld, das ihm nur noch für freie Investitionen zur Verfügung steht, dafür verwendet, immer mehr Personal in die Schulen zu schicken, sondern wir müssen das Mehrpersonal in den Schulen an anderen Stellen der staatlichen Verwaltung einsparen. Ansonsten ist dieser Staat doch irgendwann nicht mehr handlungsfähig.

(Beifall von CDU und FDP)

Bei diesem Weg des Umbaus der Verwaltung, um Ressourcen für die Schule freizumachen, geht es um eine zentrale Gerechtigkeitsfrage, die wir alle mit Gerechtigkeit und Chancen in der Ausbildung verbinden.

Dann ist es den Antragschreibern wohl völlig entgangen, dass wir – Gott sei Dank – in diesem Land seit 2005 341.500 weniger Arbeitslose,

(Beifall von CDU und FDP)

mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und vor allen Dingen – worüber ich mich sehr, sehr freue – eine gute Entwicklung bei den Ausbildungsverträgen verzeichnen. 2005: 111.000 Lehrverträge – das sind diejenigen, die jetzt im dritten Lehrjahr sind. 2007: 132.000 Lehrverträge. – Ja, meine Damen und Herren, es ist gut, dass es jetzt rund 20.000 junge Leute im ersten Lehrjahr mehr gibt als im dritten Lehrjahr und damit 20.000 Schulabgängerinnen und Schulabgänger eine ganz normale Lehrstelle mit Ausbildungsvergütung und eine gute berufliche Perspektive gefunden haben. Darüber sollten Sie als Arbeiterpartei sich doch auch einmal freuen! Aber Sie sind ja so weit weg von

den Leuten, dass Sie sich nicht einmal mehr über eine solche Entwicklung freuen können.

(Beifall von CDU und FDP)

Dann gibt es einen weiteren Punkt, den ich doch einmal ansprechen möchte. Wir in der Landesregierung kümmern uns sehr um die jungen Leute, die es schwer haben, eine Lehrstelle zu finden. Ihnen dürfte es doch auch nicht entgangen sein, dass zur Stunde rund 5.000 junge Leute in unterschiedlichen Programmen meines Hauses sind, die sonst keine Chance auf Ausbildung hätten, weil sie nach zehn Jahren Schule noch nicht ausbildungsreif waren: 3.200 in den Ausbildungsprogrammen, 200 in zusätzlichen Ausbildungsstellen in Steinkohleregionen und 1.750 im dritten Weg, wo wir – zum ersten Mal – jungen Menschen, die in der Schule nicht zurechtgekommen sind, über die Zeitachse eine Möglichkeit geben, möglichst qualifizierte Berufsabschlüsse zu erreichen. Sie finden diesen dritten Weg im Übrigen nur in Nordrhein-Westfalen. Ich finde, dass sich dieses auch sehen lassen kann und etwas mit unserer Politik der sozialen Gerechtigkeit zu tun hat.

Sie können sich einfach darauf verlassen, dass wir in dieser Landesregierung, der ich angehöre, nicht glauben, dass wir die soziale Gerechtigkeit dadurch herstellen können, dass das Problem einseitig durch die Erhöhung von Sozialleistungen gelöst wird, sondern wir müssen die Probleme lösen, damit die Menschen eine faire Chance auf Teilhabe haben. Da ist die entscheidende Baustelle, um zu einer gerechteren Gesellschaft zu kommen.

Sie haben sich in vielen Bereichen vor allem in den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit doch gar nicht mehr um diese Leute gekümmert, denn sonst hätte es gar nicht sein können, dass in diesem Land Jahr für Jahr 5.000 (?) Unterrichtsstunden ausgefallen sind, weil Sie keine Lehrer mehr eingestellt haben.

(Beifall von CDU und FDP)

Natürlich gehört auch zu den Aufgaben einer Landesregierung, sich – auch in Berlin – zu bemühen, Punkte anzustoßen, für die die Gesetzgebungskompetenz beim Bund liegt. Die Ausstattung der Sozialversicherung ist Bundespolitik. Dazu dürfen wir als Bundesland nur unsere Meinung sagen, aber, meine Damen und Herren: Wer hat denn dafür gesorgt, dass wir jetzt wieder eine Regelung haben, nach der Ältere und langjährige Mitglieder der Arbeitslosenversicherung länger Arbeitslosengeld bekommen? Das war doch wohl unsere Landesregierung. Bei dieser Idee habe ich Herrn Müntefering eher als Bremser als als Unterstützer empfunden.

(Beifall von CDU und FDP – Rainer Schmelt- zer [SPD]: Haben Sie vergessen, dass Frau Merkel den Rüttgers-Vorschlag in die Tonne gekloppt hat?! Das wissen Sie ganz genau!)

Es ist doch unsere Landesregierung, die zurzeit Anstrengungen unternimmt, damit wir zu einem höheren Schonvermögen kommen, weil wir nicht wollen, dass Leute, die 30 Jahre gearbeitet haben, nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit ihre Lebensversicherung auflösen müssen und im Alter arm sind und unsere Kinder nicht lernen: Wer gespart hat, der ist der Dumme. Das dieses noch nicht Gesetz ist, wird auch vom Bundesarbeitsminister verhindert, und das war Herr Müntefering und ist Herr Scholz, und niemand anderes ist dafür zuständig.