Protocol of the Session on November 20, 2019

Hartz IV ist ein Schreckgespenst geworden, das bis weit in die Mittelschicht hinein Ängste vor sozialem Abstieg schürt.

Dabei soll der Staat doch mit dem Regelsatz das Existenzminimum garantieren und ein Mindestmaß an Sicherheit schaffen. Die Menschen sollen sich von diesem Geld wenigstens eine Wohnung, Kleidung und Nahrung leisten können, sodass es nicht schlimmer werden kann und für das Nötigste gesorgt ist.

Bis vor Kurzem hat der Staat aber genau an dieser Stelle noch stark gekürzt. Obwohl man ein Minimum eigentlich nicht unterschreiten kann, war es möglich, die Regelsätze stark zu kürzen oder ganz zu streichen.

Das Existenzminimum heißt nicht ohne Grund Minimum. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass das Bundesverfassungsgericht Sanktionen mit Kürzungen um mehr als 30 % für verfassungswidrig erklärt hat.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Deshalb fordern wir jetzt, dass auch die Sanktionen für junge Menschen auf den Prüfstand kommen. Das können und müssen wir von Niedersachsen aus tun. Auch wenn die Bundesagentur für Arbeit bereits alle Sanktionen über 30 % vorläufig gestoppt hat, brauchen wir hier schnell Rechtsklarheit.

Wir wollen das Urteil zum Anlass nehmen, über soziale Sicherung neu nachzudenken. Eine grundlegende Reform der sozialen Sicherung ist unumgänglich. Das ist unsere politische Forderung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, zentral für die Sicherheit ist auch das Recht auf eine Wohnung. Ohne ein Dach über dem Kopf befinden sich Menschen

im freien Fall. Fast alle, die ihre Wohnung verlieren, lebten schon vorher unter dem oder dicht am Existenzminimum. Wer seine Wohnung erst einmal verloren hat, hat in aller Regel wenig Chancen, neuen Wohnraum zu finden. Denn bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware.

Die Landesarmutskonferenz Niedersachsen hat vor Kurzem Alarm geschlagen: Es fehlen absehbar 100 000 Sozialwohnungen. Die Landesregierung will 40 000 neue Wohnungen schaffen. Man muss nicht lange herumrechnen, um zu sehen: Das wird nicht ausreichen. - Das müssen wir den Menschen auf der Straße erklären. Das können wir nicht hinnehmen. Dagegen wollen wir etwas tun.

Aus unserer Sicht sind jetzt zwei Dinge entscheidend:

Wir müssen Wohnungsverluste verhindern. Das funktioniert in Nordrhein-Westfalen hervorragend mit Beratungsstellen. Die brauchen wir hier dringend. Wir haben in der HAZ von einer 81-jährigen Frau gelesen, die ihre Wohnung verloren hat und seitdem in einem Auto lebt. Das ist ein Fall, der mich fassungslos macht.

Wir brauchen dringend eine Landeswohnungsbaugesellschaft, die das tut, was der Markt und Fördermaßnahmen bisher nicht geschafft haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ein letzter Satz: Es gibt Dinge, die die Bundesregierung tun muss. Aber es gibt im empfindlichen Bereich der Armut auch Dinge, die die Landesebene anstoßen sollte. Wir sollten uns entschließen, das noch in den aktuellen Haushaltsberatungen zu tun. Der Winter steht vor der Tür.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Piel. - Die nächste Wortmeldung kommt aus den Reihen der FDP. Kollegin Sylvia Bruns, bitte sehr!

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal würde ich an dieser Stelle gerne einmal über den Armutsbegriff reden. Reden wir heute über Armut? Oder reden wir über den Indikator der relativen Armut, der am meisten Beachtung findet?

Die Definition der relativen Armut führt zu kuriosen Ergebnissen: Als in Griechenland durch die Finanzkrise die Einkommen breiter Kreise der Bevölkerung sanken, sank auch der Anteil der Menschen, die in relativer Armut lebten. Und wenn morgen alle Bundesbürger das Doppelte verdienen würde, wäre die relative Armut noch genauso groß. Wenn die Einkommen einer breiten Mehrheit sinken würden, sinkt vermutlich auch die relative Armut.

In Wirklichkeit hat der Begriff „relative Armut“ weniger mit Armut zu tun als mit der Ungleichverteilung der Einkommen innerhalb der Bevölkerung. Deshalb ist es dringend notwendig, Armut mit anders definierten Indikatoren zu messen.

Damit man mich nicht falsch versteht: Jeder Mensch in Not ist einer zu viel. Aber relative Armut ist dafür ein schwieriger Maßstab.

Schon im Jahr 2013 hat die FDP im Bundestag gleiche Freibeträge für alle Familienmitglieder - für Kinder und Erwachsene - gefordert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das gesamte Förderinstrumentarium auf den Prüfstand stellen müssen. Für uns ist z. B. der Weg einer eigenständigen Kindergrundsicherung der richtige Weg.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung von Eva Viehoff [GRÜNE])

Kommen wir nach den jüngeren Betroffenen noch zum Thema Altersarmut! In Berlin ist als großer Wurf - so bezeichnet die Große Koalition das - die Einführung einer Grundrente beschlossen worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann ich nur in aller Deutlichkeit widersprechen: Ihr System schafft neue Ungerechtigkeiten, ist nicht durchfinanziert und lässt ganz einfach viele Menschen außen vor.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Was wir daran ungerecht finden? Wer weniger als 35 Jahre gearbeitet hat - z. B. 34 oder 30 Jahre - und von Altersarmut bedroht ist, fällt komplett durch den Rost und bleibt außen vor. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, trifft wieder einmal hauptsächlich Frauen, die aufgrund ihrer Biografien sowieso stark von Altersarmut betroffen sind.

(Zuruf von Ulf Prange [SPD])

Reden wir noch kurz über Ihr Finanzierungsmodell! Das jetzt beschlossene Modell geht voll zulasten der jüngeren Generation - Milliardenkosten für den Steuerzahler und den Beitragszahler. Wenn man das dann auch noch mit einer Finanztransaktion

steuer gegenfinanziert - für die Älteren unter uns: der Jäger 90 der Sozialpolitik -, dann hat man das Klassenziel deutlich verfehlt.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung von den GRÜNEN)

Der Vorschlag der Freien Demokraten im Bundestag, 20 % der Rentenansprüche nicht auf die Grundsicherung anzurechnen, wäre wesentlich zielführender gewesen.

Aber auch wir sehen die Probleme der gesellschaftlichen Spaltung. Dazu gehört - die Kollegin Piel hat das angesprochen - der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Wir brauchen Sozialwohnungen, wir brauchen Wohnungen für 5 Euro pro Quadratmeter.

Ich möchte an dieser Stelle gerne die frühere Arbeitsministerin Andrea Nahles zitieren, die kluge Dinge zu diesem Thema gesagt hat, zum Beispiel: Die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes führt zu einer höheren Anzahl von in dieser Weise als einkommensarm erfassten Menschen. In den Statistiken erhöht sich dann die Anzahl der armen Leute.

Wir brauchen also vorbeugende Maßnahmen gegen Alters- und Kinderarmut, Investitionen in Bildung und Wohnraum. Hier ein Zitat von Professor Georg Cremer, dem ehemaligen Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes:

„Wir müssen jeden Menschen in die Lage versetzen, sein Potenzial so weit zu entfalten, dass er das Leben selbst in die Hand nehmen kann.“

Schöner kann ich es nicht ausdrücken.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Es gibt ganz konkrete Handlungsoptionen, die das Land ergreifen kann, um dies zu erreichen:

Erstens. Dringend zu bearbeitendes Hauptthema ist für uns die Qualität in Krippe und Kindergarten. Die Gebührenfreiheit nutzt vor allem den Besserverdienenden und damit auch mir. Das halten wir für völlig ungerecht. Und jetzt ist kein Geld mehr für eine Qualitätsoffensive da. Erst einmal eine Qualitätsverbesserung in Krippe und Kindergarten, das wäre der richtige Weg gewesen.

(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Zweitens. Bevor im Bund über einen Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbeschulung gesprochen

wird, wäre es aus unserer Perspektive zunächst einmal wichtig, dass jedes Kind in Niedersachsen eine warme Mahlzeit erhält.

(Beifall bei der FDP)

Drittens. Die Schülerbeförderung muss auch in der Sekundarstufe II kostenlos sein. Die Kosten, die die Familien jeden Monat aufbringen müssen, sind nämlich enorm und schließen viele Leute von höherer Schulbildung aus.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Viertens. Das Angebot der Berufseinstiegsbegleitung muss weitergeführt werden. Als ich las, dass das ausläuft, konnte ich das gar nicht glauben. Ein solches Angebot kann wirklich Hartz-IV-Karrieren durchbrechen. Leider haben Sie sich im Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen nicht dazu entschieden, das weiterzufinanzieren, als die ARGE aus der Förderung ausstieg.

(Zuruf von der FDP: Unglaublich!)

Fünftens. Berufscoaches müssen die Azubis in den berufsbildenden Schulen und in den Betrieben begleiten, damit erfolgreiche Karrieren gestartet und ererbte Hartz-IV-Karrieren durchbrochen werden können.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)