u. a. unterzeichnet von einem Mitglied Ihrer Fraktion, Herr Thümler, nämlich vom Kollegen Focke. Darin wird der Bundesregierung u. a. vorgeworfen, ihre Politik verstoße gegen deutsches und europäisches Recht - eine Legende, die ja an vielen anderen Stellen wiederholt wird. Herr Kollege Focke, es ist bedauerlich, dass bei Ihnen in der CDU so wenig Rechtskompetenz herrscht. Das, was Sie schreiben, ist selbstverständlich nicht wahr. Sie müssen Gesetze und Verordnungen komplett lesen: Sowohl die Dublin-Verordnung als auch das Asylgesetz erlauben selbstverständlich die Aufnahme auch von Flüchtlingen aus anderen EUStaaten.
Aber das heißt noch nicht, dass diese Politik ausreichend ist. Die Herausforderungen, vor denen die Bundeskanzlerin steht, habe ich beschrieben. Und behaupten Sie bitte nicht, die Bundeskanzlerin könne sich auf europäischer Ebene nicht durchsetzen! Herr Kollege Tonne hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in der Eurokrise in der Tat gesehen haben, dass Angela Merkel und Wolfgang Schäuble in der Lage waren, ihre Austeritätspolitik der ganzen Europäischen Union aufzuzwingen. Beide haben damals bewiesen,
dass sie ihre Politikvorstellungen durchsetzen können. Sie haben Massenarbeitslosigkeit und Armut in Kauf genommen und haben damals Vertrauen verspielt, das wir heute, im Jahr 2016, gut gebrauchen könnten, meine Damen und Herren.
Die europapolitisch schwierige Lage der Bundeskanzlerin ist auch die Quittung für eine nationale Borniertheit der letzten Jahre, als europäischer Großmut angebracht gewesen wäre. Ich erinnere mich noch gut, als Wolfgang Schäuble in den Jahren ab 2005 Innenminister war. Er hat immer wieder eine damals schon diskutierte Verteilung der Flüchtlinge aus Griechenland und Italien über ganz Europa abgelehnt. Damals hätte Deutschland ganz leicht eine europäische Lösung durchsetzen können. Jetzt ist es schwieriger geworden. Auch hier erweist sich die CDU-Politik als kurzsichtig.
Meine Damen und Herren, auch das kann ich Ihnen nicht ersparen: Auch die Türkei-Politik der CDU, Herr Thümler, erweist sich jetzt als Bumerang. Rot-Grün unter Gerhard Schröder wollte eine engere Einbindung der Türkei, ausdrücklich auch aus eigenem deutschen und europäischen Interesse.
Meine Damen und Herren, in der Merkel-CDU und auch in der Niedersachsen-CDU obsiegte damals die nationale Borniertheit. Sie haben die Türkei auf Distanz gehalten. In den Jahren 2015 und 2016 zeigt sich jetzt, wie falsch und kurzsichtig das war, meine Damen und Herren.
Das Interview des Herrn Ministerpräsidenten in der Welt, Herr Kollege Thümler, hatte übrigens auch noch andere Inhalte als die berechtigte Kritik. Sie müssen Interviews ganz lesen! Der Herr Ministerpräsident hat die Kanzlerin nämlich ausdrücklich
gelobt und unterstützt für ihre Entscheidung, die Grenzen zu öffnen. Die Tragik gegenwärtig ist doch: Herr Ministerpräsident hat die Bundeskanzlerin damit mehr und deutlicher unterstützt und gelobt als große Teile der CDU und mittlerweile sogar des eigenen Kabinetts.
Meine Damen und Herren, es ist auch und gerade die Verantwortung der CDU, sicherzustellen, dass die Kanzlerin gestärkt und mit Rückhalt in die europäischen Gespräche geht und nicht mit heftigem Streit und wechselnden Briefen aus ihrer eigenen Partei.
Innerparteilichen Streit auf dem Rücken der Geflüchteten auszutragen, ist verantwortungslos, meine Damen und Herren.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Jens Nacke [CDU]: Helge, ist es nicht ein bisschen früh für Karne- val?)
Vielen Dank, Herr Kollege Limburg. - Für die Landesregierung hat nun Herr Ministerpräsident Weil das Wort. Bitte!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahresanfang 2016 ist für mich durch zwei Städtenamen geprägt: Köln und Madaya.
Köln, weil die Vorgänge in der Silvesternacht bei uns in der Gesellschaft, bei vielen Menschen wirklich zu einer spürbaren Verunsicherung geführt haben. Viele Ängste, die man im Geheimen hatte, wurden auf einmal bei vielen hundert Frauen Realität. Der Staat hat an dieser Stelle - da dürfen wir alle nicht darum herumreden - einen Vertrauensverlust erlitten.
Zu dieser inneren Verunsicherung kommt eine weitere Zuspitzung der äußeren Bedingungen hinzu. Dafür steht für mich das Stichwort „Madaya“, eine Stadt nahe Damaskus, die über Wochen und Monate eingeschlossen wird, wo 40 000 Menschen ausgehungert werden. Ich fand das Bild von dem kleinen Mädchen mit den riesigen Augen in dem winzigen Gesicht wirklich erschütternd.
Das ist dieselbe Realität, die wir derzeit haben: Köln und Madaya. - Die Frage ist jetzt: Wie gehen wir zwischen diesen beiden Polen damit um? - Ich
glaube, zunächst einmal mit sehr, sehr viel Realismus! Vom 1. Januar bis gestern sind 8 350 Flüchtlinge nach Niedersachsen gekommen. Das sind im Durchschnitt 440 pro Tag. Würde es für den Rest des Jahres dabei bleiben, dann wären wir bei etwa 160 000. Das wäre also noch einmal eine wesentliche Steigerung gegenüber dem letzten Jahr. Aber diese Zahl ist unrealistisch; denn wir müssen ja in der warmen Jahreszeit mit wesentlich höheren Zahlen rechnen, als wir sie derzeit haben. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, blicken wir der Wahrheit ins Auge: Wenn es so weitergeht - da hat Boris Pistorius völlig recht -, dann erleben wir, dass in diesem Jahr mehr als 2 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen.
Eine solche Entwicklung in Verbindung mit der Situation in unserer Gesellschaft, die wir alle kennen, kann ich niemandem von uns empfehlen. So weit, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf es nicht kommen.
Dass wir weniger Zugänge haben, dass weniger Menschen nach Deutschland kommen - bei aller Liebe, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie leiden ja unter der fehlerhaften Vorstellung, alles Übel dieser Welt ginge von der Niedersächsischen Landesregierung aus -, das muss - da bitte ich vielmals um Entschuldigung - die Bundesebene und insbesondere auch die internationale Ebene regeln. Das ist nun einmal so.
(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Ulf Thiele [CDU]: Hö- ren Sie auf, Schaufensterreden zu halten! Es kommen 2 Millionen, und Sie tun nichts! Unglaublich!)
Ich will gerne Ihrer Bitte nachkommen, in Umrissen zu zeigen, was meines Erachtens passieren muss: Erstens eine wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen. Es ist nach wie vor viel zu wenig, was auch Deutschland in dieser Hinsicht tut, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zurufe von der CDU und von der FDP: Was heißt das? - Ulf Thiele [CDU]: Butter bei die Fische, Herr Ministerpräsident! - Weitere Zu- rufe - Unruhe - Glocke der Präsiden- tin)
Drittens eine großzügige Aufnahme von Menschen in Not durch Kontingente, so wie das auch im Bosnien-Krieg geschehen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ein Thema, um das sich die Union permanent herumdrückt.
(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Ulf Thiele [CDU]: Das ist doch Unsinn, was Sie da erzählen! Sie produzieren laufend Sprechbla- sen! Peinlich!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Niedersachsen tut, was es kann. Ich erinnere an den Betrag in Höhe von nahezu einer halben Milliarde Euro, den Cornelia Rundt, unsere Sozialministerin, für den Wohnungsbau mobilisiert hat - eine große Leistung!
Ich erinnere an den Bericht des Innenministers Boris Pistorius. Wir können wirklich sagen: In Niedersachsen ist die Sicherheitslage stabil.
Ich erinnere an unsere Beratungen zum Haushalt 2016: 1,3 Milliarden Euro hat der Finanzminister Peter-Jürgen Schneider mobilisiert, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Christian Dürr [FDP]: Das Geld kam vom Bund! Das war Bundesgeld, Herr Weil! - Weitere Zurufe von der CDU und von der FDP und Gegenrufe von der SPD und von den GRÜNEN)