Protocol of the Session on October 14, 2015

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Kollege Dürr, bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Watermann, ich komme auf Ihre Anmerkung zurück, dass man heute keine sofortige Abstimmung durchführen kann. Mit Verlaub, Herr Watermann: Es geht hier um einen Entschließungsantrag, um die Landesregierung in einer Frage zu binden, die am Freitag im Bundesrat ansteht.

(Ottmar von Holtz [GRÜNE]: Aber oh- ne dass Sie jetzt schon wissen, wo- rüber entschieden wird!)

Es wäre doch ein Treppenwitz, wenn wir dann im November-Plenum in zweiter Beratung über diesen Antrag beschließen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Und dass der Innenausschuss des Deutschen Bundestages noch tagt, ist doch nicht mehr als eine billige Ausrede; das will ich so deutlich sagen. Es ist doch sehr davon auszugehen, dass das, was beim Flüchtlingsgipfel am 24. September beschlossen wurde und was Kernbestandteil des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag ist, auch Kernbestandteil am Freitag im Bundesrat sein wird. Der Entschließungsantrag der Kollegen der CDU dreht sich um nichts anderes, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Meta Janssen-Kucz [GRÜNE]: Haben Sie mal in den Gesetzentwurf hinein- geschaut?)

Sie haben gesagt, es sei noch alles im Fluss, und deswegen hätten die Grünen noch Zeit, sich fest

zulegen. Mitnichten! Die Aussagen von Frau Polat hier und die Aussagen von Frau Piel und Frau Janssen-Kucz in der Zeitung haben doch bereits eines deutlich gemacht, nämlich: Sie lehnen den Kompromiss vom 24 September ab!

Deswegen sage ich: An dieser Stelle werden Sie Ihrer staatspolitischen Verantwortung als Regierungsfraktion in Niedersachsen nicht gerecht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Meta Janssen-Kucz [GRÜNE]: Sie auch nicht! Sie sollten die Gesetze le- sen, über die wir hier reden!)

Was auch in dieser Debatte wieder zu kurz kommt und was mich deshalb schon wieder ärgert, ist: Es geht hier um Menschen, die bei uns in Deutschland Zuflucht suchen. Wir müssen doch anerkennen, dass über 99 % derer, die - aus menschlich nachvollziehbaren Gründen; das will ich vor dem Hintergrund dessen, wie es dort aussieht, ausdrücklich sagen - aus den Staaten des Westbalkans derzeit zu uns kommen, nach dem Asylsystem keine Chance haben, hierzubleiben. Das muss man in der Deutlichkeit auch sagen. Aber auf der anderen Seite haben wir Menschen, die gemeinsam mit ihren Familien unter furchtbarsten Umständen vor Krieg und Vertreibung nach Europa fliehen. Diesen Menschen als westlicher Staat wieder gerecht zu werden, das ist das Ziel dieses Kompromisses, meine Damen und Herren.

(Bernd Lynack [SPD]: Herr Präsident, was ist mit dem Ende der Redezeit?)

Diesem Ziel, der Menschenwürde in Deutschland wieder Genüge zu tun, sollte sich endlich auch Bündnis 90/Die Grünen in den Länderparlamenten verschreiben, meine Damen und Herren.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Herr Kollege Watermann!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will es Ihnen ganz deutlich sagen, Herr Kollege Thiele: Es wäre für mich und für unsere Fraktionen ein riesiger Einschnitt, wenn bei Familien mit Kindern wieder ohne Ankündigung abgeschoben werden sollte. Genau für diese Ankündigungen sind wir seinerzeit angetreten, und das halten wir auch nach wie vor für richtig.

Angesichts der geringen Anzahl der Fälle, in denen Abschiebungen aufgrund der Ankündigung scheitern, könnte ich das keinesfalls akzeptieren. Das ist das Gegenteil dessen, was wir und übrigens auch weite Teile dieses Hauses, über die Koalitionsgrenzen hinaus, gefordert haben.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Ulf Thiele [CDU]: Daran kann man es doch nicht scheitern las- sen!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Ende - - -

(Ulf Thiele [CDU]: Da kann der In- nenminister doch mit einer Dienstan- weisung an die Polizei arbeiten, um das vernünftig zu regeln! Das ist doch kein Grund, das abzulehnen! Das ist doch hanebüchen!)

- Herr Thiele, ich finde, wenn man sich auf einen Kompromiss verständigt hat, aber im Nachgang wieder Dinge verschärft, dann darf man sich nicht wundern, wenn dieser Kompromiss dann wieder wackelt. Das ist nun mal so. Würde der Ursprungskompromiss noch stehen, könnten wir hier ganz anders diskutieren, und zwar auch darüber, ob wir über Ihren Antrag heute direkt abstimmen. Aber jetzt kann man das nicht, weil auch ich erst wissen will, worüber am Ende abgestimmt wird.

Aber Ihnen geht es doch auch nicht um die Staatsräson. Sie wollen diese Koalition vorführen. Aber diese Koalition lässt sich nicht vorführen. Deshalb wird da entschieden, wo entschieden werden muss. Die Regierung entscheidet über ihr Abstimmungsverhalten, und dort ist diese Entscheidung auch gut aufgehoben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Watermann. - Es hat sich der Innenminister zu Wort gemeldet. Herr Minister Pistorius, bitte schön!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung an die Adresse von Herrn Thümler beginnen. Ich bedanke mich erst einmal bei Ihnen - das meine ich sehr aufrichtig -, dass Sie, anders als Kollegen

von Ihnen aus süddeutschen Bundesländern, heute nicht von „Missbrauch beim Asyl“, sondern von „ungerechtfertigten Asylanträgen“ gesprochen haben. Das ist eine Differenzierung, die ich sehr begrüße und die einen deutlichen Unterschied macht zu der Diktion, die wir an anderen Orten hören. Dafür vielen Dank.

Eine weitere Vorbemerkung. Wir haben heute Morgen und in den letzten Wochen viel vom Unterbringungsnotstand, vom Notstand allgemein oder vom drohenden Staatsversagen gehört. Ich will auf eines deutlich hinweisen, gerade auch an Ihre Adresse gerichtet, lieber Herr Dürr: Wir müssen uns mal entscheiden, auch hier. Wenn wir einerseits davon reden, dass wir in bestimmten Bereichen der Flüchtlingspolitik faktisch einen Notstand haben, und wenn wir gleichzeitig konstatieren müssen, dass keiner von uns hier - das gilt übrigens auch für die meisten Verantwortungsträger in Berlin - einen wirklich effektiven Zugriff auf die Zugänge hat, dann müssen wir uns das doch andererseits bitte auch gegenseitig zugestehen. Dass, wie wir alle gemeinsam sagen, die Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland schlecht sind, ist nichts anderes als die logische Folge einer Notstandssituation, die immer auch ihre Zustände mit sich bringt. Das müssen wir doch einmal sehr deutlich so artikulieren.

(Christian Dürr [FDP]: Kein Wider- spruch zwischen uns beiden!)

Das heißt, wir alle sind gleichermaßen mit größter Anstrengung darum bemüht, die Zustände zu verbessern.

Aber wir laufen den Zugangszahlen hinterher. Die sind exponentiell gestiegen. Ich wiederhole noch einmal. Als Sie noch gesagt haben, wir bräuchten Unterbringungskonzepte, haben wir bereits Unterbringung geschaffen. Da ging es schon gar nicht mehr um Konzepte, sondern nur noch darum, zu nehmen, was man kriegen kann, was schnell an den Start gehen kann und was mittelfristig an den Start gehen kann. Deswegen sage ich es noch einmal, auch wenn Sie es nicht hören wollen: Diesen Schuh - diese Kritik - zieht sich diese Landesregierung definitiv nicht an.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Aber nun zum laufenden Gesetzgebungsverfahren. Ich bin sehr froh - das meine ich ganz ehrlich -, dass endlich Bewegung in eine Sache

kommt, die von den Ländern schon seit Langem eingefordert wird. Das hat übrigens, wenn Sie so wollen, nicht zuletzt auch mit der niedersächsischen Bundesratsinitiative zur erleichterten Errichtung von Flüchtlingsunterkünften im Sommer seinen Anfang genommen. Seitdem, meine Damen und Herren, ist Bewegung in dieser Diskussion.

Um es klar zu sagen: Die Forderung nach schnellen Asylverfahren wurde auch, aber nicht nur von Niedersachsen immer wieder vertreten, und nicht nur vom Innenminister, sondern auch von zahlreichen Länderkollegen, auch aus der Union. Es gibt also bundesweit viel Einigkeit. Das muss man zunächst einmal konstatieren.

Die Asylverfahren müssen dringend beschleunigt werden, gerade bei stark ansteigenden Flüchtlingszahlen. Ich will es abkürzen: Wir reden heute davon, dass die Prognose von 800 000 schon überholt ist. Wir reden über Prognosen, die noch vor einem Jahr für völlig undenkbar gehalten worden wären, und zwar von allen Experten, gerade auch in Berlin. Wir reden von Zahlen für das BAMF, die schon vor der Prognose von 800 000 von einem Bearbeitungsstau von 180 000 in diesem Jahr ausgegangen sind. Das heißt, diese Zahl wird sich entsprechend, also im Verhältnis erhöhen. Das heißt, wir reden am Ende des Jahres über geschätzte 400 000 bis 500 000 unbearbeitete Asylanträge. Das ist eine unvorstellbare Menge, die das System an der sensibelsten Stelle verstopft, nämlich bei den Erstaufnahmen. Deswegen liegt hier der Schlüssel, deswegen müssen wir insoweit deutlich schneller werden.

(Mechthild Ross-Luttmann [CDU]: Dann müssen Entscheidungen auch umgesetzt werden!)

- Ja, die Entscheidungen müssen umgesetzt werden. - Was mich stört, meine Damen und Herren, ist das Ungleichgewicht in der Diskussion. Wir reden einerseits über diese Zahlen, die von niemandem bestritten werden, und gleichzeitig erwecken wir den Eindruck, dass notwendige Abschiebungen - daran lasse ich überhaupt keinen Zweifel; Abschiebungen sind notwendig in einem System, das zwischen jenen, die einen Asylgrund haben, und jenen, die keinen haben, unterscheidet - -

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir reden von diesen Zugangszahlen - 800 000, eine Million -, von Staus unbearbeiteter Anträge in

der Größenordnung von 500 000. In der Diskussion gewinnt man den Eindruck, als habe das Thema Abschiebung den durchschlagenden Effekt auf unser Problem. Das hat es aber gar nicht. Solange die Entscheidungen nicht getroffen und nicht rechtskräftig sind, können wir gar nicht abschieben. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Die Diskussion bekommt gerade Schlagseite. Natürlich müssen wir über Abschiebungen reden, und dies auch konsequenter. Selbstverständlich. Aber doch bitte nicht in dem Duktus, dass das das Problem lösen würde.

(Jens Nacke [CDU]: Das macht ja keiner! - Weitere Zurufe von der CDU)

Das Problem ist der Zugang, das Problem sind die Fluchtursachen. Lesen Sie die Zeitung, und Sie werden feststellen, dass die Europäische Union bis heute die versprochenen Milliarden für den Welternährungsfonds in der Türkei, in Afrika und anderswo nicht zusammenbekommen hat, weil die Mitgliedstaaten ihrer Pflicht zur Zahlung nicht nachkommen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Solange wir die Fluchtursachen nicht bekämpfen, solange die Fluchtursachen in den Regionen, wo die Menschen heute auf der Flucht sind oder wohin sie sich geflüchtet haben, bestehen, werden die Menschen weiter kommen. Wir werden die Grenzen nicht dicht bekommen. Wer immer das glaubt, macht sich an dieser Stelle etwas vor, meine Damen und Herren.

Zum Gesetzgebungsverfahren Folgendes: Wenn es einen Gipfel gibt, auf dem sich die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin und anderen Mitgliedern der Bundesregierung verständigen, dann gehört es, so finde ich, zum guten Ton untereinander - das habe ich auch vor zwei Wochen im Bundestag genauso gesagt -, dass man das, was man dort vereinbart, nicht gewissermaßen einerseits nimmt und umsetzt, aber andererseits an bestimmten Punkten, an denen es einem opportun erscheint oder politisch gesteuert wichtig erscheint nachzuschärfen, etwas hineinschreibt, was nicht darin stand.

Herr Dürr, Herr Thümler, die Frage des Verbots der Ankündigung von Abschiebungen war nicht Gegenstand der Vereinbarungen des Kanzlergipfels, um es sehr deutlich zu sagen. Darin stand: Es gibt eine verbesserte Abstimmung bei Abschiebungen. Das ist der Duktus.

(Ulf Thiele [CDU]: Herr Pistorius, Sie können doch an dieser Frage den Kompromiss nicht scheitern lassen! Das kann doch nicht wahr sein!)

- Davon rede ich doch gar nicht.