Protocol of the Session on September 10, 2015

Aber, Herr Weil, wir haben exakt diese Debatte im Dezember 2014 an dieser Stelle geführt.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)

Damals ging es übrigens um ganz ähnliche Zahlen, meine Damen und Herren. Damals hat sich der Abgeordnete Stephan Weil in namentlicher Abstimmung gegen die Vorschläge der Opposition für durch das Land finanzierte Sprachkurse und damit gegen zusätzliche Sprachkurse für Flüchtlinge ausgesprochen.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Heute erklärt der Ministerpräsident, wie wichtig die Maßnahme ist. Ihr Nachtragshaushalt, Herr Weil, soll erst Mitte Oktober beschlossen werden. Das, was Sie hier vorschlagen, kann frühestens in der zweiten Oktober-Hälfte wirken. Es tut mir leid, aber angesichts dieser Geschichte kann man Ihnen nicht abnehmen, dass es Ihnen bei diesem Thema wirklich ernst ist, Herr Ministerpräsident.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)

Ich will auf den zweiten Schlüssel zu sprechen kommen, nämlich auf die Integration in den Arbeitsmarkt. Der Arbeitsplatz ist der zweite Schlüssel. Wir haben nach wie vor die Situation in Deutschland - ich will deutlich sagen: ich halte das

für schizophren; ich würde sogar so weit gehen, es als unmenschlich zu deklarieren -, dass für Asylbewerber, die zu uns kommen, ein Arbeitsverbot von drei Monaten besteht plus eine Vorrangprüfung von zwölf Monaten. Sprechen Sie mit Mittelständlern auch in Niedersachsen - das ist ein faktisches Arbeitsverbot für 15 Monate, meine Damen und Herren! Ich habe für diese Haltung, für diese Rechtslage in Deutschland schlicht und einfach kein Verständnis mehr.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Wir haben vorhin über Bürokratie bei der Unterbringung von Flüchtlingen gesprochen. Diese Bürokratie betrifft den Arbeitsmarkt in Deutschland ganz genauso. Reden wir mal über das Thema Praktikum! Es gibt Initiativen im Weser-EmsBereich, die Flüchtlinge für sechs Monate als Praktikanten angestellt haben. Sie haben parallel Sprachkurse zu Praktika gemacht - vier Stunden Spracherwerb, vier Stunden Sprachanwendung im Job. Das waren sechsmonatige, zum Teil neunmonatige Praktika. Diese Initiative ist eingestellt worden! Nach dem Mindestlohngesetz in Deutschland ist nach drei Monaten an dieser Stelle Schluss, meine Damen und Herren! Ich finde das unmenschlich gegenüber denjenigen, die es betrifft. Ich habe auch Flüchtlinge getroffen, die gesagt haben: Ich würde nichts lieber tun, als nicht den ganzen Tag über eine weiße Wand anzugucken! Ich will von meiner eigenen Hände Arbeit leben! Ich bin dankbar für das, was Deutschland, was Niedersachsen für mich tut, was das Ehrenamt vor Ort für mich tut! Aber bitte lasst mich arbeiten!

Wir sollten sie endlich arbeiten lassen. Wir sollten Praktika ermöglichen. Auch da kann die Bundesregierung etwas tun. Herr Ministerpräsident, ich fordere Sie auf: Reden Sie mit Andrea Nahles! Sie ist Ihre Parteifreundin. Es ist Ihr Job, ihr zu erklären, dass sich das Mindestlohngesetz so gegen die Flüchtlinge in Deutschland richtet. Die Situation, die wir an dieser Stelle haben, ist unerträglich, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wissen Sie was? - Als ich diese Menschen kennengelernt habe, ist mir eines klar geworden: Die wollen nicht in Watte gepackt werden! Die sind voller Tatendrang! Die wollen anfassen! - Ja, natürlich, sie wollen hier Wurzeln schlagen, ihre Familie

nach Deutschland holen, aber von ihrer eigenen Hände Arbeit leben.

Ich habe bisweilen das Gefühl, dass die Bürokratie, die wir haben, insbesondere die Bürokratie für Flüchtlinge am Arbeitsmarkt, die Sozialstaatsbürokratie, für diese Menschen - Sie müssen sich in ihr Schicksal hineinversetzen, nachdem sie eine Flucht hinter sich haben und jetzt hier Wurzeln schlagen wollen - bisweilen wie eine Gummizelle wirkt: Es tut zwar nicht weh, aber man kommt nicht mehr heraus. - Das dürfen wir diesen Menschen nicht antun, meine Damen und Herren! Es ist unsere Verpflichtung, sich auch human darum zu kümmern.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)

Ich komme zum Fazit: Die Bürokratie, die wir in Deutschland jahrelang aufgebaut haben - wir haben über Erstaufnahmeeinrichtungen, über Baustandards und über das Landesvergabegesetz gesprochen; ich habe eben über den Arbeitsmarkt berichtet -, richtet sich jetzt auch gegen die Schwächsten. Da sollten alle gemeinsam hellhörig werden. Ich weiß, dass viele beispielsweise beim Mindestlohngesetz durchaus der Auffassung waren, dass das eine richtige Sache ist. Ich unterstelle Ihnen auch keine falschen Motive - um das klar zu sagen. Aber bitte haben Sie jetzt die Erkenntnis, dass sich das, was mal gut gemeint war, jetzt gegen diese Menschen richtet! Ich glaube, da müssen wir eine 180-Grad-Wendung auch in der Bundespolitik haben.

Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich noch einmal auf den Aufruf der vier Institutionen UVN, Bistum Hildesheim, Konföderation evangelischer Kirchen und DGB zu sprechen kommen. Die Überschrift heißt:

„Jetzt ist Zeit zu handeln!“

Darunter steht ein Satz, den ich für bemerkenswert halte:

„Konkrete Konzepte mit kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen müssen von der Politik vorgelegt werden.“

„Konkrete Konzepte“, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sondersitzung des Niedersächsischen Landtages bietet die Möglichkeit, solche konkreten Konzepte auf den Weg zu bringen. Ich bitte gerade die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, alle Beteiligten, hier über ihren Schatten zu springen. Ich glaube, man kann auch

am heutigen Tage zu gemeinsamen Punkten kommen, auch in sofortiger Abstimmung. Meine Damen und Herren, wir müssen über das Reden am heutigen Tag hinauskommen! Heute ist Handeln angesagt, meine Damen und Herren! Die Zivilgesellschaft hat in diesen Tagen in Wahrheit die Politik überholt. Es ist Zeit, dass die Politik endlich anfängt aufzuholen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Dürr. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Fraktionsvorsitzende Frau Anja Piel das Wort. Bitte!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Bild sagt manchmal mehr als tausend Worte. Das klingt wie ein sehr abgegriffener Satz, aber wir haben in den letzten Wochen feststellen können, dass dieses Bild, von dem wir heute schon viel gehört haben, tatsächlich etwas ausgelöst hat. Es war wie ein stummer Schrei, dieses Kind dort liegen zu sehen. Es hat auch weit über die Grenzen von Deutschland und Europa hinaus eine Welle gemacht und Diskussionen ausgelöst.

Mich hat dieses Bild fassungslos gemacht. Mich hat beschämt, dass es manchmal solche Bilder braucht, um das Elend näher heranzuholen und dafür zu sorgen, dass Menschen zusammenstehen. Das soll die großen Leistungen dieser Zivilgesellschaft nicht klein reden. Ich selber bin mit hohem Respekt und vielem Dank dafür unterwegs, dass wir diese Gesellschaft hier bei uns in Niedersachsen und in Deutschland haben. Aber ich hätte diese Bilder nicht gebraucht, und ich bin mir sicher, es geht Ihnen ganz genauso.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Ich danke in diesem Zusammenhang auch dem Landesbischof Meister, dass er uns mit diesem Aufruf, der uns ja schon vor ein paar Tagen erreicht hat, noch einmal in die Pflicht genommen hat, dass wir unsere Verantwortung in einer Weise wahrnehmen, dass wir Lücken schließen und zusammenstehen.

Ich möchte auch die anderen Gäste, die heute hier zu uns gefunden haben, begrüßen: Kai Weber vom Flüchtlingsrat, Herrn Beriša von den Roma

und Herrn Bankole vom Afrikanischen Dachverband Norddeutschlands.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Landesbischof Meister hat bereits vor zwei Jahren zu Weihnachten den Versuch unternommen, uns mit einer Weihnachtskarte, die aus dem Rahmen fiel, zu wecken. Ich habe sie noch gut in Erinnerung. Sie zeigte ein Boot auf dem Mittelmeer mit ertrinkenden Flüchtlingen; denn die Menschen ertrinken nicht erst seit ein paar Tagen in diesem Meer auf der Flucht. Wir wissen nicht erst seit diesen Bildern, dass die Erfahrungen, die die Menschen auf ihrer Flucht machen, oft nicht weniger demütigend, traumatisierend und gefährlich sind als die, die sie aus ihren Heimatländern mitbringen. Auch das erzählt uns dieses eine Bild.

Seit Jahren ertrinken die Menschen, seit Monaten schotten sich einzelne EU-Staaten ab, z. B. Ungarn mit seinen Grenzzäunen. Seit Wochen lagern Tausende von Menschen am Bahnhof in Budapest und brechen in überfüllten Zügen oder eben zu Fuß nach Deutschland auf. „Trains of hope“ - Züge der Hoffnung - werden sie genannt.

Dabei sind die Hoffnungen der flüchtenden Menschen durchaus unterschiedlich. Die einen sind einfach froh, wenn sie nur ihr blankes Leben retten. Andere wollen ihre Familien zusammenführen. Aber was sie alle eint, auch mit uns, ist der Wunsch, mit ihren Familien ein sicheres Leben zu führen.

So unterschiedlich die Vorstellungen der Menschen sind, die zu uns kommen, so unterschiedlich sind auch die Ursachen ihrer Flucht: Das sind Krieg, Vertreibung, Verfolgung, Misshandlung, Diskriminierung, Perspektivlosigkeit und auch Armut. Uns muss klar sein, dass jeder Mensch, der flüchtet, dafür gute Gründe hat. Niemand macht sich zum Spaß auf den gefährlichen Weg nach Europa.

Jetzt komme ich zu unserer Verantwortung; denn uns steht es nicht zu, das Leid des einen gegen die Not des anderen abzuwägen. Wir müssen ihnen allen eine individuelle Hilfe zukommen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Das fängt mit einem Paket Windeln am Münchner Bahnhof an, hört damit aber noch lange nicht auf. Es geht weiter mit einer sicheren Unterkunft und

schließlich der Perspektive, eine neue Sprache zu lernen, für den eigenen Unterhalt zu sorgen und Teil einer Gesellschaft zu sein.

Ich bin meiner Kollegin Hanne Modder für den Hinweis dankbar, dass die Ehrenamtlichen dabei Dinge leisten, die wir alle politisch nicht immer so schnell anschieben können, wie hier heute manchmal der Eindruck erweckt worden ist. Wir brauchen die Zivilgesellschaft, und wir sind dankbar, dass wir sie an der Stelle haben.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

In den letzten Wochen hat sich die Welt verändert. Das gilt auch für die Politik. Angela Merkel bekennt sich dazu, dass man Not nicht ignorieren oder wegstreicheln kann und Herausforderungen angehen muss. Und die Münchner zeigen es ihrer CSU sehr deutlich: Keiner von den Helfern dort will mit Abschreckung Menschen davon abhalten, sich auf die Flucht zu begeben.

Es war übrigens schon in den 90ern ein fataler Denkfehler, den Flüchtlingen zu sagen: Ihr könnt sowieso nicht hier bleiben, und deshalb verweigern wir euch die Integration. - Heute will die Union Flüchtlinge zudem noch mit Extralagern und einer extra schlechten Behandlung abschrecken.

(Björn Thümler [CDU]: Das ist falsch!)

Und, Herr Thümler: Ich mag das Wort „Anreize“ an dieser Stelle nicht hören.

(Björn Thümler [CDU]: Reden Sie mal mit den Menschen vor Ort! Das ist Quatsch!)

Wir reden nicht vom Kaufverhalten, wir reden von Fluchtgründen, und die nehmen wir ernst!

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist falsch, sinnlos und unwürdig! Wir brauchen praktische Solidarität und den Kampf gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung.