Protocol of the Session on September 10, 2015

c) Europa braucht eine solidarische Flüchtlingspolitik - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 17/4159

Zu Wort gemeldet hat sich die Abgeordnete Doris Schröder-Köpf. Sie haben das Wort, Frau Schröder-Köpf.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Solidarität“ ist in diesen Tagen ein häufig verwendetes Wort. Allgemein bezeichnet es das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der gegenseitigen Verantwortung und Verpflichtung. Am vergangenen Wochenende haben Tausende von Bürgerinnen und Bürgern von München bis Braunschweig eindrucksvoll deutlich gemacht, was sie darunter verstehen. Sie haben den Zehntausenden, die über Ungarn aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind, gezeigt, dass Flüchtlinge in unserem Land auf offene Arme und auf mitfühlende Herzen treffen. Auch der Ministerpräsident hat mit seiner Begrüßung der Flüchtlinge am Braunschweiger Bahnhof ein Zeichen gesetzt. Niedersachsen, dessen Bevölkerung zu so großen Teile aus Nachfahren von Flüchtlingen besteht, hat seine Wurzeln nicht vergessen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Dem Herrn Ministerpräsidenten möchte ich an dieser Stelle mitgeben: Diese Willkommensbotschaft ist nicht nur bei den Flüchtlingen gut angekommen. Vielen Dank dafür!

(Jens Nacke [CDU]: Wo ist er denn? - Christian Dürr [FDP]: Das müssen Sie ihm schreiben!)

Sehr geehrte Damen und Herren, wir alle können uns derzeit an unserem Land erfreuen, an diesem goldenen Herbst der Hilfsbereitschaft. Und doch muss man auch in diesen Tagen sagen: Die Bundespolitik der vergangenen Jahre war eben nicht solidarisch, sondern - ich zitiere aus SpiegelOnline vom 7. September - „im Kern egoistisch“.

Norbert Spinrath, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat in einer Stellungnahme gestern konstatiert, jetzt werde endlich die „Heuchelei einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten“ beendet, „das gegenwärtige Europäische Asylsystem hätte etwas mit Solidarität, Fairness oder Gerechtigkeit zu tun. Das Dublin-System ist gescheitert.“ Dem dürften die allermeisten Mitglieder dieses Hauses zustimmen: Dublin ist gescheitert und gehört abgeschafft!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung von Christian Dürr [FDP])

Aber es bedarf einer Nachfolgeregelung. Alle EUMitgliedstaaten müssen sich entsprechend ihren Möglichkeiten an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen ihren Verpflichtungen nachkommen, die sie durch Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention übernommen haben und die sich aus der EUGrundrechtecharta ergeben.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, EUKommissionspräsident Juncker hat gestern in einer beeindruckend klaren Rede vor dem Europäischen Parlament daran erinnert, dass Europa ein Kontinent ist, auf dem im Laufe der Geschichte fast jeder einmal Flüchtling war, und darauf hingewiesen, dass in Europa Flüchtlinge nach jetzigem Stand nur 0,11 % der Gesamtbevölkerung ausmachen - im Gegensatz zu anderen Ländern.

Er hat vorgeschlagen, die Notfallumverteilung von 160 000 Flüchtlingen auf einer außerordentlichen Tagung des Rats der Innenminister anzunehmen, um Italien, Griechenland und Ungarn zu helfen und um die Einführung eines permanenten Umverteilungsmechanismus einzuführen, also einer Verteilquote.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr: Wir brauchen Aufnahmequoten, humanitäre Aufnahmeprogramme, Resettlement. Der Sprecher des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, in Deutschland, Stefan Telöken, drückt es so aus: Wir brauchen Zugbrücken zur Festung Europa. - Pro Asyl fordert die Bundesregierung auf, das auf 20 000 Menschen begrenzte humanitäre Aufnahmeprogramm wiederzubeleben.

Die EU-Staaten, die mithilfe von Resettlementprogrammen die Menschen aus den großen Flüchtlingslagern holen und ihnen damit lebensgefährliche Fluchtwege über europäische Meere ersparen, sollten Gelder aus dem EU-Haushalt erhalten. Darüber hinaus muss es sichere Fluchtkorridore geben, legale Einreisemöglichkeiten, wie sie Vizekanzler Sigmar Gabriel bereits vorgeschlagen hat, natürlich auch humanitäre Visa.

Diese Maßnahmen würden wohl nicht dazu führen, dass die Zahl der Aufzunehmenden steigt, wohl aber würden sie sicher dazu beitragen, dass die Zahl der Todesopfer abnimmt. Das sollten alle wissen, die beim Anblick des kleinen Aylan Tränen vergossen haben.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Erforderlich ist ebenso schnell eine Änderung der EU-Richtlinie 2001/51/EG, die es Fluggesellschaften bisher praktisch unmöglich macht, Asylsuchende zu transportieren.

Sehr geehrte Damen und Herren, Europa braucht eine solidarische Flüchtlingspolitik auch, um die Solidarität und Hilfsbereitschaft unserer Bürgerinnen und Bürger dauerhaft zu erhalten. Die Spendenbereitschaft ist unglaublich groß und auch das ehrenamtliche Engagement, zu dessen Unterstützung wir im Übrigen im Nachtragshaushalt auch finanzielle Mittel bereitstellen.

Niedersachsen hat am vergangenen Wochenende in einem Kraftakt mehr Flüchtlinge aus Ungarn aufgenommen als fast alle anderen Bundesländer. Herr Innenminister, Ihnen und Ihrem Team herzlichen Dank für Ihre Anstrengungen!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, das Bundesland Niedersachsen ist nicht die politische Ebene, auf der Europapolitik verantwortet oder Weltpolitik gemacht wird. Aber wir stellen uns unserer Verantwortung in Europa. Dazu möchte ich den kürzlich verstorbenen Egon Bahr zitieren: Du musst die Welt so nehmen, wie sie ist, aber du darfst sie nicht so lassen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Schröder-Köpf. - Jetzt hat sich Regina Asendorf, Bündnis 90/Die Grünen, zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 2012 haben über 500 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger den Friedensnobelpreis erhalten. Ich zitiere:

„Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.“

Damit hat das Nobelkomitee die Leistung des bisherigen Prozesses Europa gewürdigt und die damit verbundene historische Verantwortung Europas hervorgehoben, gleichzeitig aber auch die Verpflichtung für die Zukunft benannt.

Nun steht Europa vor einer Belastungsprobe, an der gemessen wird, ob es diesen Preis verdient, wobei viele Bürgerinnen und Bürger dies schon eindrucksvoll beweisen, ohne dass sie damit berühmt werden und ohne dass sie damit eine Wahl gewinnen wollen,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

einfach weil es ihrer Wertevorstellung entspricht. Diese Bürgerinnen und Bürger zeigen uns, was Europa ausmacht. Es wird Zeit, dass die gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter nachziehen. Sonst hat die Politik ihre Aufgabe in Europa nicht erfüllt.

Wir werden dabei beobachtet und daran gemessen, ob wir für die Zukunft in der Weltpolitik eine ernst zu nehmende Rolle spielen können. Dessen sollten wir uns bewusst sein.

Wenn wir über solidarische Flüchtlingspolitik reden, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir zwei verschiedene Flüchtlingsgruppen betrachten:

Erstens Kriegsflüchtlinge wie aus Syrien - es gibt noch weitere Kriegsgebiete -: Sie kommen zu uns aus auswegloser Situation und weil sie um ihr Leben fürchten. Eine Verbesserung der Lage in ihrer Heimat ist absehbar nicht zu erwarten. In diesen Ländern herrscht Chaos, und Menschenrechte werden mit Füßen getreten.

Zweitens. Aus Südosteuropa erreicht uns ebenfalls ein Strom von Menschen, die aber aus anderen Gründen zu uns kommen. Hier ist es vor allem die wirtschaftliche Not, aber auch die Diskriminierung, die sie aus ihren Ländern treibt.

Bei Letzterem hat die EU sehr wohl die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Diese Länder sind potenzielle EU-Staaten und sollten sich zu den Kopenhagener Kriterien bekennen. Nur wenn die Länder diese Kriterien erfüllen, können sie Mitglied der EU werden. Dazu gehören die institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.

Die Menschen, die zu uns kommen, haben sich Hoffnung auf Europa gemacht. Es wird höchste

Zeit, dass den Regierungen ihrer Länder vonseiten der EU verdeutlicht wird, dass sie die Kopenhagener Bedingungen endlich akzeptieren und umsetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Für die Bürgerkriegsflüchtlinge müssen wir erkennen, dass eine Symptombekämpfung, wie z. B. die militärische Bekämpfung der Schlepper, den Flüchtlingsstrom nicht wird abreißen lassen. Solange die Ursachen für die Flucht nicht behoben sind, werden die Menschen aufgrund der unmenschlichen Zustände ihre Heimat verlassen.

Denn diese Menschen haben nichts zu verlieren. Das Risiko, dass die Flüchtlinge bereit sind in Kauf zu nehmen, nämlich den Verlust des eigenen Lebens, muss doch jeden erkennen lassen, dass wir es nicht nur mit einer der größten Tragödien der Nachkriegszeit zu tun haben, sondern auch, dass wir historisch und moralisch verpflichtet sind zu handeln.

(Vizepräsident Klaus-Peter Bach- mann übernimmt den Vorsitz)

Jean-Claude Juncker hat genau diesen Punkt in seiner gestrigen Rede zur Lage der Union aufgegriffen. Er erinnert daran, dass Europa ein Kontinent ist, dessen Geschichte von Flucht und Einwanderung geprägt ist. Es müssen gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um diese humanitäre Krise zu bewältigen.

Die Aufgabe der Unterbringung und Integration von 160 000 Flüchtlingen muss von allen europäischen Staaten geschultert werden. Dazu gehört auch, ihnen eine rasche Perspektive auf Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. In Zukunft muss Europa als alternder Kontinent legale Wege zur Einwanderung schaffen, andererseits aber auch präventiv Fluchtursachen bekämpfen, indem z. B. die Mittel für den Entwicklungshaushalt erhöht werden.

Doch wie sieht die derzeitige Realität aus? - Zahlen, mit Edding auf Arme geschrieben, Menschen, in überfüllte Waggons gezwängt und in Lager abgeschoben. All das ruft furchtbare Bilder hervor, die wir nie wieder sehen wollten. Und der Winter kommt.

Die europäische Gemeinschaft steht momentan an einem Scheideweg. Scheitert der europäische Gedanke an nationalstaatlichen Egoismen? Oder schaffen wir es als Wertegemeinschaft, an den

großen Herausforderungen unserer Zeit weiter zu wachsen und somit auch der Verleihung des Friedensnobelpreises gerecht zu werden?

Ich schließe mit einem Satz aus der Ode An die Freude von Schiller:

„Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng getheilt; alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Miriam Staudte [GRÜNE]: Und Schwestern!)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Es spricht jetzt für die CDU-Fraktion die Abgeordnete Editha Lorberg. Sie haben das Wort, Frau Kollegin.