Nun könnte man sagen: Na ja, mit 8,50 Euro soll es losgehen, und künftig macht das dann die Kommission, und die Kommission entscheidet dann anhand der Parameter.
„Stimmt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dem von der Mindestlohnkommission vorgeschlagenen Mindestlohn nicht zu, legt es der Bundesregierung unverzüglich einen Bericht vor, in dem die Gründe für diese Entscheidung dargestellt werden.“
„In diesem Fall bestimmt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Mindestlohn und setzt ihn mit Zustimmung der Bundesregierung … fest.“
Das, meine Damen und Herren, ist das, was Sie wollen: tatsächlich immer noch der politisch bestimmte Mindestlohn und nicht der von den Tarifparteien oder einer Kommission fixierte.
Sagen Sie doch wenigstens die Wahrheit! Dann kommen wir zurück zu den alten Debatten. Die waren auch leidenschaftlich-herzlich, aber zumindest ehrlich.
Der bisherige Verlauf der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt zeigt, dass bei allen inhaltlichen Unterschieden die parlamentarische Debatte auch einmal richtig Spaß machen kann. Das haben wir heute erlebt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Landesregierung begrüßt den Antrag der Fraktionen von SPD und Grünen in diesem Haus und unterstützt die Fraktionen damit uneingeschränkt.
Sehr geehrte Frau König, es hat sich wahrlich nichts geändert. Eines hat sich allerdings geändert: die Rollen. Jetzt sind die, die die guten Argumente haben, in der Lage, sie umzusetzen und den Menschen zu helfen, und die, die in der Vergangenheit leider keine guten Argumente hatten, sind jetzt in der Rolle der Opposition. Das soll dann wohl so sein.
Ich will eine Frage stellen - das ist eine Frage, die man auch einem Minister stellen würde -: Inwiefern hat ein Arbeitsplatz, für den ich 5 Euro die Stunde bekomme, eine soziale Bedeutung? - Das war Ihre Aussage; das hat sich mir nicht erschlossen.
Ich finde, ein Arbeitsplatz hat dann eine soziale Bedeutung, wenn das Thema „Würde des Menschen“ eine Rolle spielt, und 5 Euro die Stunde haben nichts mit Würde zu tun.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Gabriela König [FDP]: Herr Lies, 5 Euro die Stunde sind ein sittenwidriger Lohn! Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren!)
Deswegen brauchen wir dringend einen flächendeckenden und branchenunabhängigen Mindestlohn, Frau König.
Sehr geehrter Herr Toepffer, raushalten geht nicht. Deswegen haben Sie es auch nicht getan, sondern haben sich natürlich beteiligt.
Der Mindestlohn wird gesetzlich auf 8,50 Euro festgelegt, und danach entscheiden über den weiteren Verlauf der Mindestlohnhöhe die Tarifparteien, die Sozialpartner: Arbeitgeber und Gewerkschaften. Die Entscheidung, die diese finden, muss über die Legitimationskette - über das BMAS - in Kraft gesetzt werden. Dort muss die Zustimmung erfolgen. Anders kann das gar nicht funktionieren. Eine Kommission kann das doch nicht so festlegen, dass es automatisch wirksam wird. Wir haben hier die ganz normale Legitimationskette aufgezeigt. Aber für uns gibt es keine Debatte, keine Diskussion über einen Lohn unter 8,50 Euro. Vielmehr sind 8,50 Euro der Mindestwert, den wir festlegen.
Ich möchte zu drei Punkten etwas sagen, die für die Landesregierung entscheidend sind, nämlich zu den sozialstaatlichen und sozialpolitischen Gründen, zu den arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Gründen sowie zu der Tatsache, dass wir den Mindestlohn verfassungsrechtlich unbedenklich einführen können.
Zu den sozialstaatlichen Gründen: Jeder siebte Beschäftigte in Niedersachsen verdient weniger als 8,50 Euro. 350 000 Menschen in Niedersachsen sind davon betroffen. Wir haben bundesweit 23 % der Menschen im Niedriglohnbereich.
2010 verdienten 4,12 Millionen Menschen in Deutschland unter 7 Euro. 1,35 Millionen Menschen verdienten sogar unter 5 Euro die Stunde. Meine Damen und Herren, brauchen wir wirklich noch mehr Argumente, um endlich einen gesetzlichen Mindestlohn für die Menschen in unserem Land einzuführen?
Sehr geehrte Frau König, ich will noch auf Ihren Hinweis eingehen. - Natürlich wiederholen sich die Debatten der vergangenen Jahre ein bisschen. - 80 % der Beschäftigten im Niedriglohnbereich sind Menschen mit einer Berufsausbildung, und zwar mindestens mit einer Ausbildung, zum Teil sogar mit einem Studium. Es geht nicht darum, dass Menschen ohne Ausbildung den Übergang in Arbeit finden. Es geht darum, dass wir unsoziale Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt haben, denen wir begegnen müssen. Das ist die Forderung, die dahinter steckt.
Entgegen der von Ihnen genannten Studie - ich weiß nicht, woher Sie die Studie haben, Frau König - besagen unsere Studien, dass die Zahl der Mini- und Teilzeitjobs, der befristeten Beschäftigungs- und der Leiharbeitsverhältnisse zwischen 2000 und 2011 stark angestiegen ist. Sogar die Bundesregierung, Frau König, hat dies eingeräumt. Aber die Bundesregierung hat versäumt, Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Das ist das Problem, das wir gerade vorfinden.
Ich will über die Scheinwerksvertragskonstruktion gar nicht mehr viel sagen. Aber wir erleben in Niedersachsen die Situation, dass Menschen aus dem europäischen Ausland herkommen und für 4 oder 5 Euro die Stunde arbeiten. Dabei dürfen wir nicht zusehen. Wir verschandeln das Bild Deutschlands in Europa. Allein deshalb müssen wir handeln und endlich durchgreifen.
Meine Damen und Herren, die Einkommensspreizung hat in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen. Das obere Lohnniveau ist weiter gestiegen. Aber leider ging es auch in die andere Richtung. Die unteren Löhne sind bereinigt nämlich immer weiter abgesunken. Auch das hat die Bundesregierung eingeräumt. Die Folge ist, dass dadurch inzwischen das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung verletzt ist. Die - so will ich das einmal nennen - verbalakrobatischen Verschleierungs- und Abmilderungsversuche der Bundesregierung im Armuts- und Reichtumsbericht ändern daran wirklich nichts. Die Menschen haben ein Wirklichkeitsempfinden, wie es aussieht. Da hilft es
Die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung will deshalb einen gesetzlichen Mindestlohn, der mit 8,50 Euro nicht nur 5 Millionen Menschen in unserem Land helfen und eine Verbesserung der Einkommenssituation bringen würde, sondern auch 7 Milliarden Euro zusätzliche Haushaltsentlastung über Mehreinnahmen und Minderausgaben in den Sozialkassen herbeiführen würde.
Ich möchte auch noch etwas zu den arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Impulsen sagen. Nach neuesten empirischen Forschungsergebnissen sind überhaupt keine statistisch signifikanten negativen Beschäftigungseffekte zu erwarten; die wird es gar nicht geben. Das Gegenteil ist der Fall. Zu diesem Ergebnis ist das BMAS 2010 bei der Evaluation der acht Branchenmindestlöhne, die wir in Deutschland schon haben, gekommen. Das ist das Ergebnis des BMAS. Das ist nicht unser Ergebnis, sehr geehrte Frau König.
Neuere arbeitsmarktwissenschaftliche Diskussionen, zumindest außerhalb Deutschlands - aber die werden nicht groß anders sein -, sagen: Es gibt überhaupt keinen Zusammenhang zwischen der Frage von Mindestlöhnen und Beschäftigung.
Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung gibt es bei der Einführung des Mindestlohns sogar positive Beschäftigungseffekte. Wir müssen das doch einmal fair und sachlich gegenüberstellen.
Ich möchte noch etwas zur rechtlichen und verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit einer solchen Maßnahme sagen. Artikel 4 Nr. 1 der Europäischen Sozialcharta gibt verbindliche, einem gerechten Arbeitsentgelt entsprechende Mindestlohnnormen vor. Deutschland hat diese Charta 1964 ratifiziert. Schon damals ist festgelegt worden, dass Löhne auch etwas mit einem Mindestlohn und einem gerechten Arbeitsentgelt zu tun haben müssen, und das finden wir nicht vor. Die Verpflichtung der Vertragsstaaten, das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, ist dort definiert, Frau König. Aber davon sind wir weit entfernt.
Es besteht auch ein Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das der Gesetzgeber zu sichern hat.
Ich finde, das sind Argumente, die in dieser Diskussion bei Ihnen bisher leider völlig gefehlt haben.
Der Sozialstaat ist nicht verpflichtet, durch Arbeitslosengeld II oder Aufstockerleistungen an Niedriglohnbezieher deren Arbeitgeber wettbewerbsverzerrend zu subventionieren. Das ist der falsche Weg. Vielmehr kann es nur darum gehen, dies auch verfassungsrechtlich in den Griff zu bekommen.
Dass dies kein Eingriff in die Tarifautonomie ist, ist heute wohl an vielen Stellen gesagt und deutlich geworden.