Die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen lesen sich wie eine Betriebsanleitung für eine konstitutionelle Autokratie. Die staatliche Gewalt wird in den Händen des Staatspräsidenten gebündelt - ohne die entsprechende Gewaltenteilung, ohne entsprechende politische Kontrolle und Balance.
Doch das eigentlich Verwunderliche ist, dass bei dieser Debatte weder in der Türkei noch im Ausland die Fakten eine wirkliche Rolle spielen, sondern die gesamte Debatte läuft nur über Emotionen. Das mobilisiert. Das kennen wir auch aus anderen politischen Auseinandersetzungen und Zusammenhängen.
Ich werde häufig gefragt, warum gerade so viele junge, hier aufgewachsene türkischstämmige Menschen ihr Herz für Erdogan und für die AKP sowie für das Referendum erwärmen können. Um diese Frage zu klären, haben am letzten Mittwoch der Bundesaußenminister, der Bundesinnenminister und die Staatsministerin für Integration nach Berlin ins Auswärtige Amt eingeladen - auch meine Kollegin Filiz Polat und mein Kollege Mustafa Erkan waren eingeladen -, um genau diese Frage mit türkischstämmigen Mandatsträgern aus ganz Deutschland zu klären.
Die Teilnehmenden berichteten nahezu allesamt - fraktions- und parteiübergreifend -, dass es bei vielen jungen Menschen türkischer Herkunft einen emotionalen Frust gibt, der sich über Jahre hinweg aufgebaut hat und vielerlei Gründe hat: Ich nenne alltägliche Erfahrungen von Diskriminierung, z. B. wenn man sich im Vergleich zu deutschen Freundinnen und Freunden trotz gleicher Qualifikation öfter auf einen Job gleicher Art bewerben muss, öfter auf eine Wohnung bewerben muss, um Erfolg
zu haben. Wenn man als Kind die Eltern zur Ausländerbehörde begleitet hat und übersetzen musste, hat man miterlebt, wie dort um eine Aufenthaltserlaubnis, um eine Aufenthaltsgenehmigung regelrecht gebettelt und gekämpft werden musste. Aber es geht auch um ganz profane Dinge: Beispielsweise kommen bei der Tour am Wochenende alle deutschen Freundinnen und Freunde in die Disko, man selbst allerdings nicht. Dann verliert das Gefühl, dazuzugehören und deutsch zu sein, völlig an Reiz, und es entsteht eine Trotzreaktion.
Aber auch die ständigen politischen Debatten, als man die Realitäten in Deutschland nicht wahrhaben wollte und noch kein Einwanderungsland sein wollte, als man Rückkehrprogramme aufgelegt und Anwerbestopps proklamiert hat und das Rückkehrförderungsgesetz erließ, als man Migrationspolitik nicht für Einwanderer, sondern vor allem für deutsche Wählerinnen und Wähler gemacht hat, trugen zu diesem Frust bei.
Dieser subjektive Frust hat bis heute manche Menschen sogar zu regelrechten türkischen Wutbürgerinnen und Wutbürgern werden lassen.
Und nun kommt Erdogan und holt die Menschen an genau dieser Stelle, aus genau diesem Abseits, in dem sie sich befinden, ab. Er gibt diesem Frust durch seine aggressive, durch seine polternde Art und Weise ein Gesicht. Weil in Deutschland gefühlt jeder gegen Erdogan ist, ist die Provokation mit Erdogan perfekt.
Ich möchte hier aber auch in die türkische Richtung eines eindeutig klarstellen: Liebe Leute, ihr seid, wenn ihr dem hinterherlauft, auf einem absoluten Holzweg!
Kein Politiker - weder aus der Türkei noch aus dem sonstigen Ausland - wird unsere Herausforderungen, wird unsere Probleme hier in Deutschland lösen. Das können wir nur hier und nur gemeinsam; denn hier liegt unsere Zukunft. Das kann nur über echte Teilhabe gelingen, über echte Verantwortung!
Dann mutet es schon grotesk an, dass Menschen, die seit 40 oder 50 Jahren hier leben, nicht einmal über den Spielplatz in ihrer Nachbarschaft abstimmen dürfen, aber dank Erdogan jetzt an einem
Verfassungsreferendum teilnehmen dürfen. Das ist übrigens für viele das erste Mal, dass sie überhaupt an einer Wahl teilnehmen und ihre Stimme abgeben dürfen.
Doch die türkischen Politiker haben mit ihren Wahlkampfbesuchen hier wirklich viel Porzellan zerschlagen. Auch die unsäglichen Nazivergleiche haben Deutschland und dem Zusammenleben in Deutschland massiv geschadet.
Es ist so, als ob wir wieder 20 Jahre zurückgeworfen wären. In den Debatten geht es wieder um Loyalitäten von türkischstämmigen Menschen. Über den Doppelpass wird wieder diskutiert. Auch verfassungswidrige Vorschläge wie ein Islamgesetz, das jetzt im Raum steht, sind wieder auf der Tagesordnung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Migrationspolitik darf nicht als Gefahrenabwehr betrieben werden, sondern muss als Zukunftsprojekt gestaltet werden. Das ist das Entscheidende.
Es darf nicht darum gehen, Menschen rechtlich und real von Verantwortung und Teilhabe fernzuhalten. Wir müssen auch Lehren für die zukünftigen Projekte ziehen, wenn es in Bezug auf Menschen, die jetzt neu zu uns kommen, um Aufenthaltstitel und um Perspektiven, beispielsweise um den Familiennachzug, aber auch um ein Einwanderungsgesetz geht, wie es die Bundestagsfraktion der Grünen ja gerade im Bundestag vorgelegt hat.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD - Jens Nacke [CDU]: Wo war denn jetzt die Lehre? Da war nichts drin, keine einzige For- derung!)
Vielen Dank, Herr Kollege Onay. - Mir liegt jetzt eine Wortmeldung des Kollegen Dr. Christos Pantazis, SPD-Fraktion, vor. Bitte, Herr Kollege!
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenngleich sich die Aktuelle Stunde nicht mit dem Wesen des türkischen Verfassungsreferendums befasst, möchte ich zu Beginn kurz festhalten, dass ich die damit verbundene Zielsetzung von Grund auf ablehne. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Aushebelung des Prinzips der Gewaltenteilung nicht im Einklang mit europäischen Werten stehen kann und demzufolge sowohl rechtsstaatlich als auch politisch höchst inakzeptabel ist.
Auf die türkischstämmige Bevölkerung in unserem Land hat es allerdings immense Auswirkungen. Die Stimmung ist aufgeladen. Das Referendum polarisiert und hat zu einer tiefen Spaltung und Zerrissenheit der hiesigen Gemeinde geführt. Erschwerend kommt hinzu, dass türkische Regierungsvertreter nicht deeskalierend wirken, sondern vielmehr den Wahlkampf vor Ort als Instrument missbrauchen, um die türkische Bevölkerungsgruppe weiter auseinanderzudividieren.
Vor diesem Hintergrund war es richtig, dass die Landesregierung mit Verweis auf die Verbalnote des Auswärtigen Amtes und auf Basis des § 47 des Aufenthaltsgesetzes Mitte März 2017 ein landesweites politisches Betätigungsverbot für türkische Regierungsvertreter aussprach. Hier hat die Landesregierung in Person des Innenministers Pistorius eine klare Linie verfolgt - ein Umstand, den die Bundesregierung lange Zeit hat missen lassen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die damit einhergehende gesellschaftspolitische Debatte stimmt migrationspolitisch allerdings auch nachdenklich. Denn wir müssen uns fragen: Welche Bedingungen existieren in Deutschland, die es ermöglichen, dass die türkischstämmige Bevölkerung sich mehrheitlich immer noch fremd fühlt und sich folglich viel mehr noch mit ihrem Herkunftsland identifiziert? Wie kann es sein, dass ein Staatsoberhaupt eines 2 500 km entfernten Landes eine hier seit Jahrzehnten lebende Bevölkerungsgruppe durch seinen neoosmanischen Nationalismus und Despotismus erreichen, mobilisieren und sogar spalten kann? Welche Lehren ziehen wir hieraus für unser Einwanderungsland Deutschland?
Sind in der Vergangenheit integrationspolitische Fehler begangen worden? - Sicherlich. Beispiele können angeführt werden. Die Begrifflichkeit „Ein
wanderungsland“ akzeptieren wir erst seit Ende der 90er-Jahre. Wir haben die Menschen, die zu uns gezogen sind, immer als „Gastarbeiter“ deklariert, muttersprachlicher Unterricht war seinerzeit immer im Sinne einer Rückführungsmaßnahme gedeutet worden, und wir hatten ein antiquiertes Staatsbürgerschaftsrecht aus dem Jahr 1913, das wir erst im Jahre 1999/2000 geändert haben.
Die nächste Frage, die gestellt werden muss, lautet: Gilt es, teilhabeorientierte migrationspolitische Errungenschaften wie die der doppelten Staatsbürgerschaft als Fehlentwicklung zu klassifizieren, wie die Union aus rein wahltaktischen Gründen zu wissen glaubt? - Der Datenreport 2016 und eine jüngste Studie der Universität Münster geben hier klare Antworten. Türken sind in Deutschland weniger erfolgreich als Zuwanderer aus anderen Ländern. Die Hälfte von ihnen fühlt sich als Bürger zweiter Klasse und hat nicht den Eindruck, auch wenn sie sich um Integration bemüht, wirklich anerkannt zu werden. Herr Onay hat hier mehrere Beispiele genannt.
Wie schwierig die Integration türkischstämmiger Personen in Deutschland ist, zeigt sich in einem direkten Vergleich beispielsweise mit Aussiedlern, die in vielen Teilen ähnliche Voraussetzungen aus ihrer Heimat mitbrachten, aber deutlich besser abschneiden.
In einem Punkt jedoch unterscheiden sich diese beiden Gruppen fundamental: Es gab bei den Aussiedlern nie den geringsten Zweifel, ob diese zu Deutschland gehören. Aussiedler waren vom ersten Tag ihrer Rückkehr an Deutsche mit Pass und allen Rechten und Pflichten ohne jegliche Abstriche. Ihre Zuwanderung wurde selbstverständlich als dauerhaft eingestuft.
Ganz anders ist es im Fall der Türken. Bis heute werden türkischstämmige Personenkreise teilweise als Gäste behandelt - deshalb auch der Streit darüber, ob deren Glaube zu Deutschland gehöre oder nicht. Wer Zugewanderte allerdings wie Gäste behandelt, darf sich nicht wundern, wenn weder eine emotionale Hingabe noch eine unkündbare Loyalitätsverpflichtung erwächst.
Die Studien halten schlussfolgernd fest: Wer mit allen Rechten und Pflichten allen anderen gleichgestellt ist und teilhaben kann, tut seinerseits mehr für ein gutes Gelingen der Integration.
Staatsangehörigkeit ist eine entscheidende, vielleicht sogar die wichtigste Voraussetzung für das erfolgreiche Gelingen von Integration. So wichtig
es ist, das Augenmerk in der Integrationspolitik weiterhin vor allem auf das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt zu richten, sind für eine umfassende und nachhaltige Integration der türkischen Bevölkerungsgruppen Veränderungen auf der Ebene der Anerkennung mindestens ebenso notwendig. Hierbei sind zweifelsohne im Sinne einer Zangenbewegung beide Seiten gefordert.
Das erfordert allerdings unsererseits das konsequente Weiterverfolgen einer teilhabeorientierten Migrationspolitik, wie sie die Landesregierung seit 2013 konsequent verfolgt.
Beispiele hierfür: Willkommenskultur in den Ausländerbehörden, Einbürgerungskampagne, Bekenntnis zur doppelten Staatsbürgerschaft, kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige. Das sind Zeichen einer teilhabeorientierten Migrationspolitik.
In diesem Sinne brauchen wir kein wahltaktisch motiviertes migrationspolitisches Rollback, wie es momentan von der Union betrieben wird, sondern auch im Sinne unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts schlichtweg mehr Integration durch Teilhabe und Anerkennung sowie weniger Ausgrenzung und Spaltung.
Vielen Dank, Herr Dr. Pantazis. - Jetzt hat für die FDP-Fraktion der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu diesem Tagesordnungspunkt zwei grundsätzliche Bemerkungen machen.
Erste Bemerkung: die Debatte um das türkische Verfassungsreferendum. Kein Zweifel, in Deutschland herrscht Meinungsfreiheit. Für Demokraten gilt natürlich, dass hier auch Meinungen geäußert werden dürfen, die uns Demokraten, insbesondere denjenigen, die an den demokratisch verfassten Rechtsstaat glauben, nicht passen. Daran kann kein Zweifel bestehen.
Aber - das sage ich auch in aller Deutlichkeit -: Deutschland als souveräner Staat entscheidet, welche ausländischen Regierungsvertreter in un
ser Land einreisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wir - um das auch in aller Klarheit zu sagen - selbst entscheiden.
Ich habe ja die gemeinsame Pressekonferenz des Herrn Innenministers und des Oberbürgermeisters von Hannover verfolgt. Die Veranstaltung im Lister Turm ist dann richtigerweise abgesagt worden. Sie haben auch zu Recht beklagt, dass vieles auf die Kommunen abgewälzt worden ist. Herr Pistorius, ich hätte mir gewünscht, dass es an dieser Stelle auch eine klare Ansage an Bundesaußenminister Sigmar Gabriel gibt - so wie Hans-Dietrich Genscher in den 80er-Jahren ausländischen Regierungsvertretern die Einreise nach Deutschland in ähnlichen Fällen verweigert hat, so wie der liberale Ministerpräsident der Niederlande Mark Rutte gesagt hat: Nein, die Familienministerin reist nicht in die Niederlande ein und kann hier keine Veranstaltungen machen.