Wenn sich, wie es die Erlasse für Haupt- und Realschulen jetzt vorsehen, die Schülerinnen und Schüler künftig schon am Ende der 8. Klasse, also mit 14 Jahren, auf die Fachrichtung ihrer beruflichen Ausbildung festlegen sollen, dann haben sie noch weniger Zeit für eine ausreichende berufliche Orientierung.
Genauso ratlos wie viele von Ihnen werden wahrscheinlich auch die meisten Schülerinnen und Schüler bei dieser Frage sein. Die meisten kennen nur klassische Berufe oder die Berufe, die ihre Eltern oder Bekannte ausüben.
(Karl-Heinz Klare [CDU]: Wo steht das denn?) Meine Damen und Herren, nach dem in dieser Woche vorgelegten Berufsbildungsbericht wurden im Jahr 2008 21,5 % aller Ausbildungsverträge vorzeitig aufgelöst, und zwar zum größten Teil bereits im ersten Ausbildungsjahr. Die Quote der Studienabbrecher liegt ebenso hoch. Sie haben dann noch weniger Gelegenheit, die berufliche Wirklichkeit kennenzulernen, bevor sie sich entscheiden. Dann wächst die Gefahr von Fehlentscheidungen. (Kreszentia Flauger [LINKE]: Fast Kinderarbeit!)
Die IHK Osnabrück-Emsland hat kürzlich eine Studie zu den Ausbildungsabbrüchen vorgelegt. In mehr als einem Drittel aller Fälle lag eine wesentliche Ursache für den Abbruch darin, dass die Auszubildenden eine falsche Vorstellung vom angestrebten Beruf hatten. Auch eine wesentliche Ursache der hohen Studienabbrecherquote liegt darin, dass viele Studienanfängerinnen und -anfänger unklare oder falsche Vorstellungen von ihrem Studienfach hatten. Das Fazit, das auch die IHK zieht: Schülerinnen und Schüler werden beim Übergang von der Schule in Ausbildung und Studium noch immer viel zu sehr alleingelassen.
Meine Damen und Herren, in den Gymnasien gibt es fast gar keine Unterstützung bei der Berufswahl, bei der Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung oder ein Studium. Das G8 lässt gerade einmal Zeit für ein einziges Betriebspraktikum in der 10. Klasse. Ob die Schule darüber hinaus Beratung anbietet oder nur auf die Beratung der Agentur für Arbeit verweist, bleibt immer dem Engagement der einzelnen Lehrkraft überlassen. Die Stofffülle lässt dafür in der Regel keine Zeit.
Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass die Berufsorientierung - nicht die Ausbildung - in allen allgemeinbildenden Schulen des Sekundarbereichs, in den Hauptschulen wie im Gymnasium und in der Gesamtschule, deutlich gestärkt wird. Alle Schulen sollen den verbindlichen Auftrag erhalten, ein Berufs- bzw. Studienorientierungskonzept zu erarbeiten. Dieses Konzept soll folgende Punkte enthalten:
Wir sind überzeugt, dass ein verbindliches Berufs- und Studienorientierungskonzept der Schulen sowie verantwortliche Ansprechpartner wichtige Bausteine sind, um dafür zu sorgen, dass tatsächlich kein Abschluss ohne Anschluss bleibt. Deshalb hoffen wir darauf, dass auch die Regierungsfraktionen diesen Antrag mittragen können, und sind gespannt auf die Beratung.
Erstens. Alle Schulen im Sekundarbereich, ausdrücklich auch die Gymnasien, vermitteln ihren Schülerinnen und Schülern mehr Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt. Dazu bauen sie ein Netz an außerschulischen Lernorten auf, und es soll auch Schülerfirmen an allen Schulformen geben.
Noch kurz zum Antrag der CDU-Fraktion: Dazu wird sich meine Kollegin Filiz Polat vielleicht noch über eine Kurzintervention einbringen können, weil die Redezeit für unsere Fraktion jetzt schon fast abgelaufen ist.
Zweitens. Alle Schulen im Sekundarbereich unterstützen ihre Schülerinnen und Schüler dabei, Klarheit über ihre eigenen individuellen Stärken und Schwächen, ihre beruflichen Wünsche und Vorstellungen, aber auch ihre Chancen und Möglichkeiten auf dem Ausbildungsmarkt zu gewinnen. Dafür reicht es nicht, ihnen z. B. das Handbuch zur Studien- und Berufswahl in die Hand zu drücken, wenn sie die Schule verlassen.
Letzter Satz, Herr Präsident. - Aber wir sehen da noch erheblichen Konkretisierungsbedarf. Es reicht uns noch nicht, was dort formuliert ist.
(Beifall bei den GRÜNEN) Drittens. Alle Schulen im Sekundarbereich sollen für jeden Schüler und jede Schülerin - das ist uns besonders wichtig - eine verantwortliche Ansprechpartnerin bzw. einen verantwortlichen Ansprechpartner benennen, der ihm bzw. ihr über den Schulabgang hinaus bis zum erfolgreichen Eintritt in eine Berufsausbildung oder ein Studium begleitend und beratend zur Verfügung stehen kann. Vorbildlich sind hierfür Konzepte, die derzeit in Hamburg entwickelt und umgesetzt werden. Es darf einfach nicht sein, dass in dieser Übergangszeit Jugendliche in großer Zahl verloren gehen und niemand mehr weiß, wo sie geblieben sind. Vizepräsident Dieter Möhrmann: Für die Fraktion DIE LINKE spricht nun Frau Reichwaldt. Christa Reichwaldt (LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Berufsorientierung ist eine wichtige Aufgabe für die allgemeinbildenden Schulen und alle Schulformen. Sie darf nicht mit einem De-facto-Vorziehen einer beruflichen Ausbildung verwechselt werden. Die Verzahnung zwischen der Schule und der Arbeitswelt muss immer in ein sinnvolles pädagogisches Konzept eingebettet sein. Keineswegs darf es darum gehen, die Schülerinnen und Schüler ausschließlich für den Arbeitsmarkt fit zu machen.
Auch die Bundesbildungsministerin Schavan hat dieses Problem erkannt und will jetzt Bildungslotsen einsetzen. Ihr Ansatz ist nicht falsch; aber er bleibt natürlich hilflos, weil ihr durch die Föderalismusreform die Hände gebunden sind und sie sich außerdem nur an Hauptschülerinnen und Hauptschüler wendet. Ich kann dem Kommentar in der HAZ von gestern nur zustimmen, der sagt, Bildungslotsen könnten natürlich nicht ausbügeln, was vorher versäumt wurde. Statt neue Reparaturprogramme zu starten, sollten daher die Bedingungen in den Schulen grundlegend verbessert werden. Das ist unser Ansatz.
Es muss darum gehen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre ersten Kontakte mit der Arbeitswelt im Unterricht besprechen und reflektieren können und Vorstellungen entwickeln können, was sie nach der Schule erwartet und welche Möglichkeiten, Chancen und Risiken sich für sie eröffnen.
Interesse für einen bestimmten Beruf ist von der jeweiligen sozialen Prägung abhängig. Den Weg an die Hochschulen finden bei uns, wie Sie wissen, Kinder von Nichtakademikern seltener als Akademikerkinder. Unser Ziel sollte es sein, dass die Schülerinnen und Schülern möglichst weitgehend unabhängig von ihrem sozialen Umfeld ihre Neigungen und Interessen erkennen und artikulieren können, um so den von ihnen gewünschten Berufsweg einzuschlagen.
Dazu brauchen wir ein funktionierendes Berufsorientierungssystem an allen allgemeinbildenden Schulen, auch an den Gymnasien.
Was wir nicht brauchen, ist eine Vorwegnahme einer beruflichen Ausbildung an den Schulen. Der allgemeinbildende Teil des Unterrichts darf nicht zugunsten eines berufsbildenden Teils gekürzt werden. Die Allgemeinbildung muss weiterhin unverändert erhalten bleiben, damit der Anschluss an andere Schulformen wie das Gymnasium nicht gänzlich verbaut wird. Die Arbeitswelt der heutigen Schülerinnen und Schüler wird wahrscheinlich nicht dadurch geprägt sein, dass sie als Teenager eine Ausbildung bei einem Betrieb anfangen, in dem sie 45 Jahre später in Rente gehen werden. Die Schule muss deswegen eine breite Grundbildung sicherstellen, damit Schülerinnen und Schüler sich den Anforderungen der Arbeitswelt stellen und sie bestehen können.
In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Grünen, ein klug durchdachtes und sinnvoll in die Schule eingebettetes Unterstützungssystem der Berufsorientierung an allen Schulen und allen Schulformen zu etablieren. Gleichwohl darf damit nicht der Druck auf die Schülerinnen und Schüler erhöht werden, die Orientierung, der sie als 15Jährige gefolgt sind, ihr Leben lang beizubehalten. Wir haben es mit jungen Menschen zu tun, die sich entwickeln und vielleicht erst später über Ausprobieren und Umwege ihren Traumberuf finden. Daher ist eine reflektierte Berufsorientierung vollkommen richtig.
Zum Antrag von CDU und FDP zu den Europaschulen sei gesagt: Wir begrüßen es, wenn Auszubildende und Ausbilder mehr Möglichkeiten bekommen, im Ausland zu lernen und zu lehren, und diese Tätigkeit in Deutschland anerkannt bekommen. Hier würde ich mich freuen, wenn nicht nur geprüft würde, ob auf ESF-Gelder zurückgegriffen
werden kann, sondern wenn im Zweifelsfall auch verstärkt andere Mittel in die Hand genommen würden, um die europäische Dimension in der beruflichen Ausbildung zu verankern. Darüber können wir im Ausschuss gern diskutieren.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! So unterschiedlich die politischen Profile der die Anträge stellenden Fraktionen sind, so unterschiedlich sind auch die vorliegenden Anträge selbst. Im Plenum aber erscheinen sie unter einem Tagesordnungspunkt. Ich werde sie dennoch getrennt betrachten und gehe davon aus, dass sie auch im Ausschuss sinnvollerweise nur getrennt beraten werden können.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen formuliert in der Überschrift eine Forderung, über die in ihrer allgemeinen Form sehr schnell Konsens herzustellen sein sollte: Alle allgemeinbildenden Schulen des Sekundarbereichs müssen Verantwortung für die Berufsorientierung und den Übergang der Schülerinnen und Schüler in Berufsausbildung und Studium übernehmen.
Auch inhaltlich folgen wir dem Antrag in weiten Teilen. Es gibt aber einige strittige Punkte in Formulierungen und auch in Forderungen. So hält die SPD-Fraktion die im ersten Satz enthaltene Pauschalkritik für unangemessen, dass an den allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen - d. h. an allen - die Schülerinnen und Schüler nur unzureichend auf den Übergang in die berufliche Ausbildung bzw. in das Studium und die anschließende Berufswelt vorbereitet werden.
Weite Teile des weiteren Antrags können wir, wie gesagt, mittragen. Es tauchen aber Forderungen auf, die schon erfüllt sind. Zum Beispiel gibt es Schülerfirmen bereits an allen Schulformen.
Eine Überforderung stellt aus unserer Sicht die Forderung dar, für jede Schülerin und jeden Schüler zu Beginn des achten Schuljahrgangs eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner zu benennen, die bzw. der „die Schülerinnen und
Schülern bis zum gelungenen Übergang in eine Berufsausbildung oder ein Studium individuell begleiten soll“.
Bei aller Sympathie mahne ich hier zu etwas Vorsicht und Rücksicht. Nur einmal als Beispiel: Wir wissen doch, wie lange es oft bis zu einem gelungenen Übergang in die Berufsbildung oder bis zur Aufnahme eines Studiums dauert. Jahre des Wartens, der oft kritisierten Warteschleifen, des Lernens an anderen Schulen liegen dazwischen.
Es gibt durchaus Hauptschulklassen, in denen nur wenige auf Anhieb einen Ausbildungsplatz erlangen. Da sind Mentoringprogramme denkbar, wie sie auch Ministerin Schavan vorgestellt hat. Wie dies aber flächendeckend ohne zusätzliche Unterstützung realisierbar sein soll, geht aus dem Antrag leider nicht hervor. Als zusätzliche Aufgabe auf dem Rücken der Lehrer geht es jedenfalls nicht.
Meine Damen und Herren, wenn der Antrag der Grünen gut und richtig ist, aber an einigen Punkten über das Ziel hinausspringen mag, dann springt der Antrag von CDU und FDP deutlich zu kurz.
Mit der Zielsetzung, Schülerinnen und Schüler für den europäischen Arbeitsmarkt fit zu machen, beschränkt er sich auf einen Teilaspekt der Bildung, der in berufsbildenden Schulen wichtig ist, aber keine Besonderheit beruflicher Ausbildung darstellt. Natürlich wird auch hier niemand den allgemeinen Zielen widersprechen, aber - um es ganz krass zu sagen - bei genauem Lesen gewinnt man den Eindruck, irgendjemand habe gefordert, wir müssen einmal etwas über berufliche Bildung und Europa machen, und ein anderer hätte schnell eine Auftragsarbeit abgeliefert.
Warum soll der Landtag beschließen: „Unter den 81 Europaschulen in Niedersachsen sind 17 Berufsbildende Schulen“?
Warum steht im Beschlussteil des Antrags eine lange Passage über die zweifelsfrei hervorragende Europaarbeit der Berufsbildenden Schule Syke?
Warum schaffen es die Regierungsfraktionen nicht, vernünftige allgemeine Forderungen zur europäischen Dimension von Bildung zu formulieren? Warum ziehen sie sich stattdessen auf die unver
bindlichsten Floskeln Europas zurück? Ich zitiere zwei: „wird als sinnvoll angesehen“ und „bitten wir die Landesregierung zu prüfen, ob und inwieweit“. - Das ist nicht einmal mehr butterweich. Das ist völlig zerlaufen.