Protocol of the Session on September 24, 2009

Eine grundsätzliche Bemerkung dazu: In diesen Tagen wird immer wieder - auch von Justizpolitikern von Bayern bis Berlin - sehr stark thematisiert, man solle auf die 18- bis 21-Jährigen endlich das Erwachsenenstrafrecht anwenden. Das ist die Rechtslage, meine Damen und Herren. Da muss nichts geändert werden. Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang den § 105 JGG näher bringen. Absatz 1 lautet:

„Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn

1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder

2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.“

Ausgangslage, welche Tat auch immer ein Täter begangen hat, ist: Wer zum Zeitpunkt der Tatbegehung 18 bis 21 Jahre alt war, wird zunächst nach dem Erwachsenenrecht betrachtet. Nur wenn innerhalb des Verfahrens vom unabhängigen Jugendrichter oder unabhängigen Jugendschöffengericht erkannt wird, dass es die berühmten Reifeverzögerungen gibt oder dass die Tat klassische Formen einer Jugendverfehlung aufweist, z. B. Mutproben und solche Dinge, wird in das JGG eingestiegen. An dieser rechtlichen Ausgangslage gibt es nicht zu deuteln.

Ich bin manchmal entsetzt, dass berufene Justizpolitiker - aus welchem Land und aus welcher Truppe auch immer - meinen, an dieser Rechtslage müsse etwas geändert werden.

(Beifall bei der CDU)

In diesem Zusammenhang kommt aber die Fragestellung auf - das ist dann die erste Antwort auf

Ihre Frage, Herr Herzog -, ob es mit dem Absatz 3 des § 105 weiterhin sein Bewenden haben kann. Dort heißt es:

„Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre.“

Hierzu gibt es in der Tat Überlegungen: Hier ist jemand Heranwachsender gewesen, eine Reifeverzögerung wurde festgestellt, das JGG kommt also zur Anwendung. Hat der Täter einen Mord begangen, dann beträgt die maximal denkbare Höchststrafe zehn Jahre. Da gibt es die Diskussion - und ich denke, dass auch das Volksempfinden etwas in diese Richtung geht -, dass nach dem JGG auch die Möglichkeit bestehen muss, bis zu einem Strafmaß von 15 Jahren zu gehen. Das wäre eine Erweiterung des Strafzumessungsrahmens, zu erkennen durch ein unabhängiges Gericht. Das ist eine der Forderungen auch dieser Regierung in dem Paket Jugenddelinquenz, das derzeit im Bundestag liegt.

Die nächste Bemerkung dazu - es ist mir wichtig, dass das hier in einem gewissen Tiefgang beleuchtet wird -: Wann wendet man das JGG an? - Als das JGG mit diesem § 105 vor etwa 50 Jahren eingeführt wurde, haben die unabhängigen Gerichte in etwa 20 bis 25 % der Fälle das JGG angewandt. Was hat sich aber seitdem gesamtgesellschaftlich getan? - Die Menschen sind heute mit 18 Jahren volljährig: Sie können heiraten, können Firmen gründen, werden zur Bundeswehr eingezogen usw. Den Führerschein kann man jetzt in Niedersachsen - mit Erfolg! - sogar mit 17 Jahren machen. Das kommunale Wahlrecht - Herr Wenzel, andere fordern sogar Weitergehendes - gibt es ab 16 Jahren. Gesamtgesellschaftlich sagen wir: Offenbar sind die jungen Leute heute früher reif und verantwortlich, als es vor 50 Jahren der Fall war.

Im JGG-Anwendungsbereich nimmt das Ganze bei unabhängigen Gerichten - wohl gemerkt: da habe ich nichts zu kritisieren - eine andere Entwicklung. Während vor 50 Jahren in rund 20 bis 25 % der Fälle das JGG angewandt wurde, so liegt dieser Anteil heute weit über 70 %. Das ist also schon fast die Regel geworden. Die vom Gesetzgeber gewollte Ausnahme ist zur Regel geworden. Ich will das nicht ändern, sondern nur auf diesen Tatbestand hinweisen. In Niedersachsen liegen wir bei 70 bis 75 %. Schleswig-Holstein ist „Spitzenreiter“ und liegt sogar über 80 %. Da hat sich etwas verändert, und darüber muss man nachdenken.

Aber ich kritisiere das nicht. Es sind unabhängige Gerichte, die das zu betrachten und zu bewerten haben.

Eine weitere Maßnahme, Herr Herzog, in dem Paket Jugenddelinquenz ist das Thema Warnschussarrest. Darüber streiten sich die Gelehrten gelegentlich. Gleichwohl ist es unstreitig - das merken Sie, wenn Sie mit praktizierenden Jugendrichtern sprechen -, dass es einen Teil der jugendlichen Straftäter gibt - sie müssen sehr schnell bestraft werden -, bei dem die Verhängung eines z. B. vierwöchigen Warnarrestes durchaus die gewünschte erzieherische und warnende Wirkung haben kann. Auch das ist unsere Forderung: Gebt dem JGG und den Jugendrichtern dieses Mittel an die Hand! Ob es dann zur Anwendung kommt, mag dann das Gericht entscheiden. Dort wird das verantwortlich gemacht.

Schließlich ein weiterer Punkt: die Verhängung eines Fahrverbotes. Wir alle kennen das aus dem täglichen Leben. Meistens kommt das Thema Fahrverbot auf, wenn jemand mit seinem Pkw, oft unter Alkoholeinfluss, irgendetwas angestellt hat, also ein Straßenverkehrsdelikt, eine Straßenverkehrsgefährdung, was auch immer. Ich glaube, sogar die Wissenschaft - ich nenne Professor Pfeiffer - befürwortet mittlerweile durchaus, dass es bei jungen Menschen auch dann, wenn das Delikt nichts mit dem Auto usw. zu tun gehabt hat, eine fühlbare Maßnahme sein kann, ein Fahrverbot zu verhängen. Das sollte in das Paket der zu überlegenden Strafmaßnahmen aufgenommen werden. Ein Vierteljahr mit dem Moped nicht fahren dürfen, das ist manchmal eine härtere oder fühlbarere Strafe als manches andere. Auch das ist Teil der rechtspolitischen Vorstellungen, nach denen wir uns im Jugendstrafrecht gern eine Veränderung wünschen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Innenminister Schünemann hat noch einmal um das Wort gebeten. Bitte schön!

Herr Präsident, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Frage noch nicht konkret beantwortet worden ist. Dabei ging es um das vorrangige Jugendverfahren. Wir haben es im Jahr 2007 mit klaren Vorgaben eingeführt. Wir haben die Daten aus der Praxis - ich habe mich mit der

Justiz noch einmal abgestimmt - bisher noch nicht aufgezeichnet. Wenn man solch ein Verfahren einführt, muss es nach einer gewissen Zeit evaluiert werden, um zu sehen, ob es flächendeckend auch tatsächlich umgesetzt wird. Deshalb werden wir die entsprechenden Zahlen zum 1. Januar 2010 erfassen, sodass wir in den nächsten Jahren hier darstellen können, wie sich das Verfahren ausgewirkt hat. Weil ich dies für ein ganz wichtiges System halte, wollen wir es auch kontrollieren. Man kann am besten nachsteuern, wenn man die Zahlen auf den Tisch legen kann. Wir werden die Zahlen also zum 1. Januar 2010 erfassen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Minister. - Die nächste Frage wird von Herrn Perli von der Fraktion DIE LINKE gestellt. Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund, dass einerseits die vorgeschlagene sicherheitstechnische Aufrüstung in Bahnen usw. sehr viel Geld verschlingt, andererseits aber immer wieder bitter beklagt wird, dass kein Geld z. B. für die kulturelle Jugendbildung zur Verfügung steht, so beispielsweise vorgestern beim 25jährigen Jubiläum des Landesverbandes der Kunstschulen, bei dem auch Herr Minister Stratmann anwesend gewesen ist, frage ich die Landesregierung, ob sie mit mir das kämpferische Plädoyer von Frau Nannen, der Geschäftsführerin der Kunsthalle Emden, teilt, die die Frage in den Raum stellte: Wäre dieser Vorfall in München auch passiert, wenn die Täter seit frühester Kindheit mit Kunst und Kultur in Verbindung gekommen wären, sich hätten ausprobieren können, Selbstbewusstsein und Bestätigung hätten finden können? - Ich frage die Landesregierung, ob auch sie das so sieht und ob es nicht eine viel wichtigere Maßnahme ist, auch für das früheste Kindesalter viel mehr Geld in Kunst und Kultur, etwa Kunstschulen, zu investieren, um überhaupt nicht über eine Aufrüstung nachdenken zu müssen. Wäre es insofern nicht der falsche Ansatz zu sagen, wie Herr Stratmann es getan hat, es sei kein Geld dafür da?

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung von Stefan Wenzel [GRÜNE])

Herr Minister Schünemann, bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe hier ein breites Programm vorgestellt, das nicht nur Videoüberwachung beinhaltet, sondern sich gerade auch auf den Bereich der Prävention bezieht. Schauen Sie sich einmal an, welche Präventionsmaßnahmen nicht nur von uns, sondern insgesamt auf der kommunalen Ebene auf den Weg gebracht worden sind! Das ist beeindruckend. Wir müssen aber immer darauf schauen, ob wir die Maßnahmen insgesamt noch optimieren können. Ich bin absolut Ihrer Meinung, dass gerade im Bereich der Musikschulen und Kunstschulen, aber auch im Bereich der Sportvereine hervorragende Präventionsarbeit geleistet wird. Es gibt gerade in Niedersachsen ein hervorragendes Netz, mit dem diese Präventionsarbeit auch für Kinder und Jugendliche ermöglicht wird. Nun aber einen Gegensatz zu konstruieren und zu sagen, eine Überwachung gerade auch in S-Bahnen müsse im Prinzip gegenüber Maßnahmen im Bereich der Kulturförderung abgewogen werden, ist völlig abwegig. Das eine hat etwas mit der Sicherheit insgesamt zu tun. Hierbei handelt es sich um ein Grundbedürfnis, das der Staat natürlich insgesamt hat. Wenn Sie gerade in den Zügen eine Videoüberwachung vornehmen, so ist das kostengünstiger, als überall in unserem Lande zu versuchen, noch mehr Personal zur Verfügung zu stellen. Die Maßnahmen müssen in einem vernünftig ausgewogenen Verhältnis stehen.

Noch wichtiger ist aber - darüber sollten wir uns einig sein -, ein Klima in unserem Land zu schaffen, in dem die Zivilcourage wieder einen höheren Stellenwert gewinnt. Auch mithilfe von Präventionsmaßnahmen, mithilfe von kultureller Bildung und mithilfe von Sport sollten wir es in unserer Gesellschaft schaffen, dass jeder im Prinzip auf den anderen achtet. Das ist nach meiner Ansicht der wichtigste Punkt. In dieser Hinsicht wollen wir gerade in Niedersachsen neue Akzente setzen und das, was in Niedersachsen bisher schon hervorragend gewesen ist, weiter unterstützen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Stratmann hat sich zu Wort gemeldet.

Herr Präsident! Lieber Herr Perli, ich lege gesteigerten Wert darauf, dass ich nicht gesagt habe, für kulturelle Jugendbildung sei kein Geld vorhanden.

(Victor Perli [LINKE]: Nicht mehr Geld!)

Ich habe in der Tat darauf verwiesen, dass wir für den Bereich der kulturellen Jugendbildung seit vielen Jahren erhebliche Anstrengungen unternehmen. Denken sie etwa an das Thema Musikland Niedersachsen und an unsere Musikalisierungskampagne! Denken Sie an das, was wir im Bereich der Theaterpädagogik für Kinder und Jugendliche tun! Denken Sie auch an das, was wir im Bereich der bildenden Kunst tun! All dies sind Maßnahmen - Sie können unsere Anstrengungen gerne mit den Anstrengungen der Vorgängerregierungen vergleichen -, für die erheblich und signifikant mehr Mittel eingesetzt wurden. Ich habe allerdings gesagt, dass sich im Kulturbereich natürlich jeder noch mehr Geld wünscht, dass wir insoweit aber Rahmenbedingungen zu akzeptieren haben, die uns für einen erhöhten Mitteleinsatz derzeit keine Optionen bieten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Zur letzten Zwischenfrage hat jetzt Herr Ahlers von der CDU-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund des heutigen Presseberichtes in der HAZ, wonach sich in Hamburg ein ähnlicher Fall ereignet hat und Jugendliche einen Passanten zu Tode geprügelt haben, frage ich die Landesregierung, welche Ziele und Maßnahmen sie mit dem Sicherheitspaket vom 22. September im Hinblick auf das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung verfolgt.

(Zuruf von der SPD: Jetzt kommt noch eine Regierungserklärung!)

Herr Minister, bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorfall in Hamburg, über den heute in der Zeitung

berichtet wird, zeigt, dass Videoüberwachung notwendig ist. Wir haben den Täter dadurch dingfest machen können. Das ist wichtig. Die Konzepte, die wir als Landesregierung jetzt vorschlagen, zielen aber vor allen Dingen darauf ab, Straftaten zu verhindern. Das ist eigentlich die Hauptaufgabe. Die Videoüberwachung, wie wir sie jetzt vorgeschlagen haben, ist insofern ein Beitrag dazu, Straftaten zu verhindern.

Ansonsten kann ich darauf verweisen, dass wir, wie ich hier ausführlich dargestellt habe, im Bereich der Prävention die Maßnahmen evaluieren und weiter ausbauen wollen. Wir wollen vor allen Dingen alles daransetzen, um zu erreichen, dass Zivilcourage in unserer Gesellschaft zu einer Selbstverständlichkeit wird. Alle unsere Maßnahmen sind genau auf dieses Ziel ausgerichtet. Ich bin ganz optimistisch, dass wir dieses Ziel auch erreichen werden.

(Beifall bei der CDU)

Wir kommen damit zur nächsten Dringlichen Anfrage, also zu Tagesordnungspunkt 14 c:

Das Schicksal früherer Heimkinder aufarbeiten: Warum steht die Landesregierung weiter auf der Bremse? - Anfrage der Fraktion der SPD - Drs. 16/1664

Die Anfrage wird von Frau Tiemann von der SPDFraktion eingebracht. Bitte!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem einstimmigen Beschluss „Verantwortung für das Schicksal früherer Heimkinder übernehmen: Aufklärung für die betroffenen niedersächsischen Institutionen ermöglichen - runden Tisch in Berlin unterstützen“ hat der Landtag auf Initiative der SPD-Fraktion am 17. Juni 2009 die Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels niedersächsischer Heimerziehung vereinbart. Das Land Niedersachsen bekennt sich darin erstmals zu seiner unmittelbaren Mitverantwortung für die vom Kriegsende bis Mitte der 70er-Jahre herrschenden skandalösen und vielfach menschenverachtenden Zustände in den damaligen „Fürsorgeheimen“.

In diesem Zusammenhang hat der Landtag klare Handlungsaufträge an die Landesregierung erteilt,

um die Aufarbeitung nach jahrzehntelangem Vergessen, Verzögern und Vertuschen endlich konkret in Angriff zu nehmen.

Zu den Handlungsaufträgen gehören u. a. die möglichst schnelle und umfassende Sicherung, Sichtung und Offenlegung der Akten, die Ausschreibung eines Forschungsprojektes des Landes zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Heimerziehung, die Beratung ehemaliger Heimkinder bei psychischen oder sozialen Problemen, die aus ihrer Heimbiografie herrühren, sowie der Aufbau eines nach fachlichen Gesichtspunkten besetzten Gesprächsarbeitskreises, der dem Landtag bis 2010 seine Arbeitsergebnisse vorlegen muss.

Obwohl seit dem Landtagsbeschluss ein Vierteljahr vergangen ist und die Arbeitsaufträge des Parlaments an die Landesregierung bei einem engen Zeitkorsett sehr komplex und umfassend sind, ist seitdem kaum etwas geschehen. Zwischenzeitlich hat die SPD-Fraktion eine entsprechende Kleine Anfrage gestellt, die bis heute von der Landesregierung nicht beantwortet wurde.

Angesichts der Tatsache, dass nach Auffassung u. a. der Betroffenen die Sozialministerin versucht hat, den o. g. Landtagsbeschluss zu verhindern, verstärkt sich der Eindruck, dass Frau RossLuttmann weiterhin alles tut, um die Aufarbeitung der niedersächsischen Heimerziehung auszubremsen.

(Norbert Böhlke [CDU]: Wer sagt das denn?)