Protocol of the Session on November 7, 2012

Soweit Sie kritisieren, dass niedersächsische Polizeibehörden und Gerichte nicht ausreichend in der Lage waren, gegen Nazis vorzugehen, so will ich nicht verhehlen, dass ich mich auch über die eine oder andere Gerichtsentscheidung geärgert habe. Das ist in einem Rechtsstaat allerdings normal und belebt die juristische und gegebenenfalls auch die politische Debatte. Aber zu behaupten, dass die Gerichte, die Staatsanwaltschaften und die Polizei sozusagen in Gänze eine Verfassungsänderung benötigen würden, um ihre Arbeit richtig zu machen, dem kann ich mich nicht anschließen.

Natürlich brauchen wir in unseren Polizeibehörden vor Ort mehr Fortbildung und in Teilen auch eine größere Sensibilisierung; das ist keine Frage. Aber eben nicht auf der Ebene der Verfassung und nicht mit dieser großen Pauschalkritik.

(Glocke des Präsidenten)

Ein letzter Satz. - Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass Sie selber gar nicht von der Wirksamkeit Ihres Gesetzentwurfs überzeugt sind. Denn wenn Sie davon ausgehen würden, dass er reale Auswirkungen hat, hätten Sie - und das meine ich ernst - unter Nr. II der Begründung unter der Frage z. B. nach den Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern oder auf schwerbehinderte Menschen schreiben müssen, dass es natürlich Auswirkungen hat, wenn man das NS-Regime mit seiner frauenfeindlichen Ideologie und seiner Behindertenfeindlichkeit bekämpfen würde. Dass Sie das leer lassen, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass Sie von den Aus

wirkungen Ihrer Änderungsvorschläge nicht überzeugt sind.

Vielen Dank.

(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der CDU und bei der FDP - Hans- Henning Adler [LINKE]: Das können wir ja ergänzen!)

Das sind vier Schlusssätze gewesen. - Für die CDU-Fraktion hat sich Frau Ross-Luttmann zu Wort gemeldet. Bitte schön, Sie haben das Wort.

(Jens Nacke [CDU]: Schließ dich ein- fach an!)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Limburg, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Hier in diesem Haus sind wir uns, denke ich, alle darin einig, dass wir gegen jede, aber auch wirklich gegen jede Form von Extremismus angehen müssen. Deswegen, meine Damen und Herren von der Linken, beantragen Sie auch etwas Selbstverständliches, was in unsere Verfassung aufgenommen werden soll.

Ich glaube, dass Sie bei der Einbringung Ihres Gesetzentwurfs völlig vergessen haben, dass unser Grundgesetz in vielen Punkten die schlimmen Erfahrungen in der Nazizeit mit massiver Missachtung von Menschenrechten, unermesslichem menschlichen Leid, Krieg, Völkermord und Massenvernichtung zur Grundlage hat. Als sich im September 1948 der Parlamentarische Rat zu seiner konstituierenden Sitzung traf, wollte er gerade für die Zukunft mithilfe einer neuen Verfassung Vorsorge treffen, dass niemals wieder wie 1933 ein Rechts- und Verfassungsstaat scheinbar legal zur Diktatur werden kann.

(Björn Thümler [CDU]: So ist es!)

So ist insbesondere in Artikel 1 unseres Grundgesetzes der Schutz der Menschenwürde als das zentrale Grundrecht, und nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugleich als die wichtigste Werteentscheidung des Grundgesetzes vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Nazizeit zu lesen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Artikel 1 besagt:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schüt

zen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Anspruch umfasst den Anspruch auf prinzipielle Gleichheit aller Menschen. Jede Form rassistisch motivierter Diskriminierung verletzt die Menschenwürde. Die hohe Bedeutung dieses Grundrechts kann man darin ablesen, dass der Staatsgewalt eine Einflussnahme auf diesen Kern des Grundgesetzes verwehrt ist: Artikel 1 und Artikel 20 stehen unter der Ewigkeitsgarantie, und jeder Eingriff, jede Änderung ist unzulässig. Deshalb sehe ich für Ihren Gesetzentwurf grundsätzlich keinen Raum, zumal wir Verfassungsänderungen nur dann beschließen sollten, wenn sie auch zwingend geboten sind.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur noch die älteste Generation in Deutschland hat einen Krieg erlebt. Schon meine Generation kennt nur Frieden. Seit 1989, dem Fall der Berliner Mauer, leben auch alle Deutschen in Frieden und Freiheit. Ich bin froh und dankbar, dass auch unsere Jugend die DDR und die Berliner Mauer nur noch als Geschichte kennt. Deshalb scheint es mir viel wichtiger zu sein, gerade auch vor dem Hintergrund immer weniger lebender Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, dass wir alles dafür tun, um auch 67 Jahre nach Kriegsende die Erinnerung an Sinnlosigkeit von Krieg wach zu halten und die Notwendigkeit der Abwehr totalitärer Gefahren weiter zu vermitteln.

(Vizepräsident Dieter Möhrmann über- nimmt den Vorsitz)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist nicht nur eine Pflicht gegenüber den vielen Opfern, sondern zugleich auch eine Mahnung an die Lebenden, sich für Frieden und Freiheit der Völker einzusetzen. Wir stehen zu dieser Verantwortung. Frieden ist auch das Ergebnis eines von Erinnerung getragenen politischen Bemühens.

Ich möchte noch kurz auf ein ganz besonderes Erlebnis von Schülern in einem Gymnasium eingehen. Dort ist in den Geschichtsunterricht ein jüdischer Mitbürger eingeladen worden, um über seine Kriegserlebnisse zu berichten. Am Ende seiner sehr eindringlichen Schilderung hat er zu den Kindern gesagt: Ich mache euch nicht verantwortlich für die Gräueltaten der Nazis, weil ihr damals noch gar nicht geboren wart. Ich mache euch aber verantwortlich, wenn ihr vergesst. Liebe Kinder, seid euch dieser Verpflichtung, die Erinnerung an diese Zeit wach zu halten und zu bewahren, bewusst.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das muss doch zwei Tage vor dem 9. November auch das Signal aus diesem Hause sein: die Erinnerung an diese Zeit zu bewahren und als Selbstverständlichkeit jedem Wiederaufleben nationalsozialistischen Gedankenguts entschlossen entgegenzuwirken.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, zu einer Kurzintervention hat sich der Kollege Adler von der Fraktion DIE LINKE gemeldet.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ross-Luttmann, was Sie da eben über den Frieden gesagt haben, hat mich etwas irritiert. Ich habe das Jahr 1999 nicht vergessen: Da hat die Bundeswehr nicht nur an einem Krieg teilgenommen, sie hat an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien teilgenommen.

(Beifall bei der LINKEN - Wilhelm Heidemann [CDU]: Unfug! Das ist Ihr verschrobenes Verständnis!)

- Das ist so. - Das war aber nur eine Nebenbemerkung.

Jetzt zu Ihrem Beitrag. Meiner Ansicht nach kann man Artikel 1 des Grundgesetzes in diesem Zusammenhang nicht heranziehen, weil er sozusagen nur die allgemeinste Bestimmung ist. Bei spezielleren Bestimmungen, die den Sachverhalt treffsicherer beschreiben, wäre es aber, wie ich glaube, sinnvoll und nützlich, wenn es eine solche Bestimmung gäbe. - Damit gehe ich auch auf den Einwand ein, den der Kollege Limburg vorgebracht hat.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Das hättest du nach mir machen sollen! Das ist nicht fair! So kann ich nicht antwor- ten!)

Unser Gesetzentwurf ist nicht nur ein symbolischer Akt - auch wenn er allein als solcher schon einen Wert hätte -, sondern er ist auch eine Hilfe für die Rechtsauslegung der bestehenden Gesetze, z. B. des Versammlungsgesetzes.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn z. B. eine Verwaltungsbehörde oder ein Verwaltungsgericht darüber entscheiden muss, ob ein Neonaziaufmarsch genehmigt wird - und diese Konfliktsituation gibt es häufiger -, dann gibt es immer einen Spielraum und unterschiedliche Beurteilungen. Mal gelingt es einem Polizeipräsidenten, eine solche Veranstaltung verbieten zu lassen, mal wird sie vom Verwaltungsgericht dann doch genehmigt und mal nicht. In diesen Konfliktfällen, die mal so und mal so entschieden werden, ist es nützlich, wenn wir eine Staatszielbestimmung haben, die in die Richtung geht, die wir beantragt haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sehe nicht, dass geantwortet werden soll. - Dann hat jetzt Herr Professor Dr. Dr. Zielke von der FDP-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich diesen Gesetzentwurf gelesen habe, war ich auch etwas irritiert. Verblüfft war ich nicht wegen des Inhalts - da stimme ich den Ausführungen von Herrn Limburg in weiten Teilen zu; darüber könnte und kann man durchaus reden -, sehr wohl aber über den Zeitpunkt. Ihre Kollegen in Thüringen haben einen wortgleichen Entwurf im April in den dortigen Landtag eingebracht - okay. Aber Sie bringen ihn bei uns in Niedersachsen in der vorletzten Plenarsitzung dieser Legislaturperiode ein. Was soll das?

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Stellen wir jetzt die Arbeit ein oder was?)

Verfassungsänderungen, gerade solche von erheblicher Tragweite, gehören sorgfältig und tiefgehend beraten, einschließlich Anhörungen im Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen und Stellungnahmen des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes. Wie soll das in diesem Fall gehen? Entweder Sie haben die parlamentarischen Abläufe immer noch nicht begriffen, oder Sie wollen sie gar nicht respektieren, was übrigens genau zu der Geringschätzung des Parlaments passt, die Dr. Sohn mehrfach von sich gegeben hat.

Fast fünf Jahre lang hatten Sie Zeit, so einen Entwurf hier einzubringen, aber Sie haben es nicht getan. Der richtige Zeitpunkt zur Einbringung wäre der Beginn der nächsten Legislaturperiode, nicht jetzt.

(Wilhelm Heidemann [CDU]: Dann sind sie ja nicht mehr da!)

Dass Sie ihn jetzt einbringen, legt eine gewisse Torschlusspanik nahe. Sie glauben wohl selbst nicht mehr daran, dass Sie dem nächsten Landtag noch angehören werden.

(Zustimmung bei der CDU - Hans- Henning Adler [LINKE]: Das müssen Sie gerade sagen!)

Zuletzt: So einfach könnten Sie dieses Gesetz vermutlich auch gar nicht beschließen; denn Sie wollen eine Verpflichtung „aller staatlichen Gewalt“. Wir sind aber ein Bundesland und können den anderen 15 Bundesländern nichts per Niedersächsischer Verfassung vorschreiben.

(Hans-Henning Adler [LINKE]: Das ist doch albern! Wir sind doch auch ein Staat!)

Ihr Entwurf gehört, wenn überhaupt, in den Bundestag und nicht hierher.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Kreszentia Flauger [LINKE]: Wozu haben wir dann überhaupt eine Ver- fassung, Herr Zielke? - Gegenruf von Professor Dr. Dr. Roland Zielke [FDP]: Das betrifft die Bundesverfassung! - Gegenruf von Kreszentia Flauger [LINKE]: Und wozu brauchen wir dann eine Landesverfassung?)

Meine Damen und Herren, soll ich einen Moment unterbrechen, damit Sie sich austauschen können? - Nein. - Dann hat jetzt Frau Zimmermann das Wort zu einer Kurzintervention.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Zielke, ich habe in dieser Legislaturperiode eine ganze Menge gelernt. Vor allem habe ich gelernt, dass die Regierungsfraktionen Gesetze und auch Gesetzesnovellen - und zwar selbst hochkomplexe - im Schweinsgalopp durchziehen können. Das ist in der Legislaturperiode immer wieder passiert.

Ich habe auch gelernt, dass die Regierungsfraktionen besonders durch Selbstbeweihräucherungsanträge glänzen wollen. Insofern empfinde ich es als unangebracht, jetzt zu sagen, das sei nicht der

richtige Zeitpunkt für den Gesetzentwurf. Hier geht es um die Inhalte.

Die Fraktion DIE LINKE hat ganz konsequent immer wieder auf das Problem des Neonazismus in Niedersachsen hingewiesen und darauf, dass dieser in der Mitte der Gesellschaft stattfindet und kein Randproblem ist. Wir haben einen Antrag für ein Landesprogramm gegen Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus eingebracht, wir haben die Diskussion über die Städtekoalition gegen Rassismus auf den Weg gebracht, wir haben die institutionelle Förderung von der Arbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus und Gewalt gefordert, wir haben den Antrag für ein NPD-Verbotsverfahren zuerst eingebracht.