Protocol of the Session on May 25, 2011

Was ist nun die Aufgabe von uns Politikerinnen und Politikern in diesen Debatten? - Wir sollten gemeinsam alles unternehmen, um Opfern von Straftaten zur Seite zu stehen, und wir sollten alles tun, um zu verhindern, dass Jugendliche überhaupt zu Straftätern werden.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Was wir nicht tun sollten, ist, die Angst der Menschen, Opfer von Straftaten zu werden, zu schüren, wie Sie, Herr Kollege Thümler, dies jüngst in einer Pressemitteilung getan haben. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken oder verstärken, dass die Menschen überall und andauernd auf öffentlichen Plätzen Opfer von Gewalttaten werden könnten.

(Zuruf von der CDU: Aber es ist so!)

Meine Damen und Herren, wir sollten nicht einzelne schreckliche Straftaten missbrauchen, um unsere jeweilige politische Agenda durchzuboxen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Björn Thümler [CDU]: Sie sind ja ein ganz toller Hecht!)

Wir sollten zur Kenntnis nehmen - auch Sie, Herr Kollege Thümler -, dass die Jugendkriminalität in Deutschland sinkt.

(Björn Thümler [CDU]: Gott sei Dank!)

Auch die Gewaltkriminalität unter Jugendlichen sinkt. Heute ist es in Deutschland viel unwahrscheinlicher als früher, Opfer einer Straftat zu werden.

Aber anstatt das alles zur Grundlage Ihrer Politik zu machen, meine Damen und Herren von der CDU, lassen Sie keine Gelegenheit, keinen Bericht über Straftaten aus, um wahlweise Sicherungsverwahrung für Jugendliche, die Heraufsetzung

der Höchststrafe oder den Warnschussarrest zu fordern. Sie bedienen bereitwillig populistische Reflexe.

Sie lassen sich nicht davon beeindrucken, dass Sie weder die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe noch den Richterbund noch irgendeinen Kriminologen an Ihrer Seite haben. Sie missachten jeglichen Expertenrat. Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, reicht klassische Stammtischpolitik völlig aus.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Heinz Rol- fes [CDU]: Na, na, na! Was soll das denn?)

Das ist keine aufgeklärte und rationale Kriminalpolitik, sondern billige Stimmungsmache.

(Heinz Rolfes [CDU]: Nein, nein!)

Unsere Gesellschaft ist heute viel friedfertiger als noch vor 50 Jahren, als Adenauer und Co. am Ruder waren. Eine wichtige Ursache für den Rückgang der Gewaltkriminalität ist die Ächtung der Gewalt auch im sozialen Nahraum. Wir wissen doch längst, dass die meisten Gewalttäter früher selbst Opfer von Gewalt geworden sind oder innerfamiliäre Gewaltakte erleben mussten. Die Ächtung von Gewalt in der Ehe musste die Frauenbewegung gegen den Widerstand der Konservativen erkämpfen. Die endgültige Ächtung von Gewalt als Mittel der Erziehung im Jahr 2000 unter Rot-Grün musste gegen den Widerstand von CDU und CSU erstritten werden. Dabei ist es diese Ächtung von Gewalt, die unsere Gesellschaft zivilisierter macht, und nicht Ihre Racheallüren, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Björn Thümler [CDU]: Sie sind ja ein ganz Guter!)

Wenn es wenigstens so wäre, dass Sie den Opfern von Straftaten mit Ihren Forderungen nach härteren Strafen und zusätzlichem Arrest dienen würden! Aber was sagen denn die Opfer von Straftaten? - Die große Mehrzahl der Opfer sagt, dass ihnen die Strafhöhe nicht so wichtig ist. Das Wichtigste ist zunächst die Anerkennung durch die Gesellschaft: Du bist Opfer einer Straftat geworden. Wir solidarisieren uns mit dir. Wir begleiten dich im Strafverfahren und unterstützen dich gegebenenfalls im Täter-Opfer-Ausgleich.

Es geht nicht um Rache und Strafhöhe, sondern um Akzeptanz. Auf einige niedersächsische Beispiele könnten Sie da sogar stolz sein. Sie könnten z. B. statt des Warnschussarrestes anregen, eine Einrichtung wie die Stiftung Opferhilfe, die hervorragende Arbeit leistet, bundesweit einzuführen. Sie könnten die Anstrengungen zum Täter-Opfer-Ausgleich bundesweit verstärken. Sie könnten echte Anstrengungen für langfristige Prävention leisten. Aber wie steht es mit dem Krippenausbau in Niedersachsen? Wie steht es mit echten Ganztagsschulen in unserem Bundesland? Wo bleiben denn die Schulsozialarbeiter an allen Schulformen?

(Dr. Karl-Ludwig von Danwitz [CDU]: Zum Thema! - Gegenruf von der SPD: Das ist das Thema!)

Warum verstärken Sie nicht das Personal um Streetworker, statt nur neue Überwachungskameras aufzustellen oder Polizisten zu Alkoholkontrollen bei Jugendlichen auf die Straßen zu schicken?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Björn Thümler [CDU]: Sie sind ja ein niedlicher Mensch!)

Die rationalen Präventionsmaßnahmen sind bekannt.

(Ulf Thiele [CDU]: Was sagen Sie ei- gentlich der älteren Frau, die zum drit- ten Mal auf der Straße überfallen wurde?)

Die Konservativen, Herr Kollege Thiele, verweigern sich dem oder treiben es, wie Sie es gerade beweisen, nur halbherzig voran. Für sie ist es eben leichter und bequemer, in öffentliche Angstdebatten einzusteigen, als sich wirklich mit den Problemen auseinanderzusetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Lieber Herr Kollege Thiele, dass Opfer von Straftaten emotional reagieren, ist absolut nachvollziehbar und verständlich. Dass konservative Politiker darauf mit populistischen Forderungen reagieren, ist peinlich und beschämend.

Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Editha Lorberg [CDU]: Was für ein Kindskopf! Er hat doch überhaupt keine Lebens- erfahrung!)

Für die SPD-Fraktion hat sich Frau WeddigeDegenhard zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein bisschen überraschend, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute die Jugendkriminalität als Thema für die Aktuelle Stunde gewählt hat, zumal Herr Busemann ausnahmsweise mal keine Schlagzeile produziert hat.

(Zurufe von der SPD: Doch, vor 14 Tagen schon!)

Oder sollte mir da etwas entgangen sein? Es ist die Frage, ob sich dieses Thema wirklich für die Aktuelle Stunde eignet. Es ist sehr differenziert zu betrachten.

Meine Damen und Herren, in den Fokus der Öffentlichkeit kommt die Jugendkriminalität in der Regel nur dann, wenn von Jugendlichen ein besonders abscheuliches Gewaltverbrechen begangen wird. In der Sensations-, zunehmend aber auch in der seriösen Presse liest man dann von „Monsterkids“ oder „Komaschlägern“. Dann wird häufig - zu häufig - populistisch eine Verschärfung des Jugendstrafrechts gefordert und angekündigt.

So war es auch vor drei Wochen nach dem Überfall in der Berliner U-Bahn. Das Stichwort „Warnschussarrest“ kam wieder ganz schnell auf die Tagesordnung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wiederholen der Forderung macht sie nicht richtiger, zumal die Kriminalstatistik sinkende Zahlen aufweist; Herr Kollege Limburg hat darauf hingewiesen. Wir alle sind uns darüber einig, dass Gewaltverbrechen bestraft werden müssen, auch wenn sie von Jugendlichen begangen werden. Wir dürfen aber nicht dem Irrglauben verfallen, dass die Formel „Härtere Strafen = weniger Straftaten“ richtig sei. Dann müssten wir in den USA ja paradiesische Zustände vorfinden.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Es muss uns doch zu denken geben, wenn der Deutsche Richterbund, der Deutsche Anwaltverein und ebenso das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen das gesetzliche Instrumentarium für den Umgang mit straffälligen Jugendlichen als absolut ausreichend beurteilen. Das Jugendstrafrecht ist, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen titelte, „keine Kuschelecke“ der deutschen Justiz. Es gibt ein wirkungsvolles Instrumentarium,

mit dem angemessen auf den Jugendlichen eingewirkt werden kann,

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

von Trainingskursen bis zum Arrest, von gemeinnütziger Arbeit über den Täter-Opfer-Ausgleich bis auch zum Jugendstrafvollzug. Das Jugendstrafrecht hat auch und gerade eine erzieherische Komponente. Deshalb soll die Haft nur dann ausgesprochen werden, wenn die Schwere der Tat, die Schuld und die Gefährlichkeit des Täters dies wirklich notwendig machen. Wir alle wissen doch, dass gerade nach einer Jugendstrafe die Rückfallquote besonders hoch ist. Sie liegt bei 70 %. Manch einer kommt besser „trainiert“ aus der Anstalt, als er hineingekommen ist. Das kann doch nicht unser Ziel sein.

(Zustimmung bei der SPD)

Zielführend wäre es, im Rahmen der kommunalen Erziehungshilfe frühzeitig einzugreifen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Zur Delinquenz neigenden Jugendlichen müssen Grenzen aufgezeigt werden, und im Falle einer Straftat muss die Strafe auf dem Fuße folgen. Ein Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch die Tatsache, dass durch die Überlastung der Justiz zwischen Tat und Strafe zu viel Zeit vergeht.

(Zustimmung bei der SPD)

Nicht vergessen dürfen wir die Rolle des Alkohols bei diesen Gewalttaten. 2009 lag bei 35 % der Jugendlichen, die eines Gewaltverbrechens verdächtigt wurden, starker Alkoholeinfluss vor. Bei Jugendgewalt gegen Polizeibeamte war dies sogar bei bis zu 90 % der Täter der Fall.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit komme ich auf eine Debatte zurück, die wir über einen Entschließungsantrag zum Thema „Gewalt gegen Polizeibeamte“ vor nicht allzu langer Zeit in diesem Hause geführt haben. Sie erinnern sich sicherlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wie Innenminister Schünemann Sie erst davon überzeugen musste, dass die im SPDAntrag geforderte Verstärkung der Prävention gegenüber dem Alkoholmissbrauch ein wichtiger Schritt zur Verringerung von Jugendgewalt wäre. Das haben wir dann ja auch gemeinsam beschlossen.

(Beifall bei der SPD)

Aber, Frau Özkan, was ist seitdem passiert? Was tut die Landesregierung? - Appelle, Alkohol nur in

Maßen zu genießen, reichen nicht aus und gehen an der Lebenswirklichkeit vieler Jugendlicher vorbei. Alkoholprävention, Präventionsarbeit insgesamt, eine gute Sozial- und Bildungspolitik sowie ausreichende Berufschancen sollten unsere zusätzlichen Antworten sein, wenn es um die Jugendkriminalität geht. Der plakative Ruf nach härteren Gesetzen, das reflexhafte Fordern von Strafverschärfungen ist in unseren Augen jedenfalls der falsche Weg.

Herr Limburg, wir stimmen insofern Ihrem Anliegen zu, das Thema in die Aktuelle Stunde zu bringen. Aber es sollte uns auch in den Ausschüssen noch mehr beschäftigen.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])