Protocol of the Session on June 25, 2003

(Ursula Körtner [CDU]: Das werde ich nie begreifen!)

Sie haben sich auf ein statisches Modell festgelegt, das Entwicklungssprünge jenseits des dritten Schuljahres weitestgehend ignoriert, Herr Klare. „Von Bayern lernen heißt Siegen lernen“ - das hat Ihnen Herr Wulff in den letzten Jahren eingebläut. Deshalb nun strikte Selektivität, Stopp für die Gesamtschulen und keine weiteren Experimente.

Aber, meine Damen und Herren, was bedeutet denn Bayern für die Schulpolitik? - Im internationalen Vergleich war Bayern allenfalls Mittelmaß, wie wir in den letzten Jahren zur Kenntnis genommen haben.

(Zurufe von der CDU)

Herr Klare hat hier eingefordert, die niedersächsischen Schülerinnen und Schüler auf die Gewinnerseite zu führen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU: Selbst Glogowski hatte das begriffen! - Weitere Zurufe von der CDU - Glocke des Präsidenten)

Ich sage Ihnen: Von Bayern in der Schulpolitik zu lernen heißt nichts anderes, als im Mittelmaß zu verharren.

(Beifall bei der SPD)

CDU und FDP haben die Dramatik des Reformbedarfs in der Bildungspolitik überhaupt nicht realisiert. Dazu passt die messerscharfe Diagnose unserer immer wieder gern zitierten Kollegin Heidemarie Mundlos in der Braunschweiger Zeitung vom 23. Juni 2003:

„Ich warne allerdings vor einer zurzeit um sich greifenden Gläubigkeit gegenüber Eintagstests wie PISA oder IGLU.“

Die internationale PISA-Studie zum „Eintagstest“ zu erklären, ist der Höhepunkt bildungspolitischen „Kenntnisreichtums“ und für mich ein wirklich herausragendes Beispiel politischer Beratungsresistenz. Anders kann man das wirklich nicht sagen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: Dreist! Sie hat sie doch nicht gelesen! - Gegenruf von Bernd Althusmann [CDU])

- Herr Althusmann, ich habe wörtlich zitiert. Das ist ein autorisiertes Interview der Braunschweiger Zeitung vom 23. Juni. Ich habe es auch nicht glauben wollen, das will ich gerne zugeben, da können Sie sicher sein.

Meine Damen und Herren, wenn dieses angeblich so neue Zukunftsmodell „begabungsgerechte Dreigliedrigkeit“ so überzeugend ist, wie Sie hier vortragen, wundert mich, warum uns nicht Vertreterinnen und Vertreter solcher Länder wie Schweden, Finnland, Kanada und die Niederlande besuchen kommen. Warum kommen die nicht, um in Niedersachsen zu hospitieren? Warum kupfern die nicht Ihren Gesetzentwurf ab? Das wüsste ich gerne.

(Lachen bei der CDU - Zuruf von der CDU: Das ist ja ein Eigentor! - Unru- he - Glocke des Präsidenten)

- Ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht. Kommen die zu Ihnen, um von Ihnen zu lernen? Das glaube ich nun weiß Gott nicht, meine Damen und Herren!

(Zuruf von der CDU: Die Karawanen kommen noch!)

- Ach, die kommen in Zukunft, damit sie endlich Anschluss an das hohe niedersächsische Niveau finden. Das ist ja großartig.

Wenn Ihr Bildungsbegriff so gut ist, müssen Sie einmal erläutern, warum die Ergebnisse in Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg im internationalen Vergleich so schlecht sind.

(Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU - Zurufe von der CDU)

- Hören Sie einmal, wir haben das hinreichend diskutiert. Wir reden über die deutsche Bildungspolitik im internationalen Vergleich. Sie können gerne auf die nationale Studie hinweisen. Da gibt es Differenzen, das weiß ich auch. Aber in der

internationalen Studie gibt es nur eine Aussage, nämlich dass Deutschland im Vergleich mit den starken Ländern, unbeschadet der jeweiligen Mehrheiten in diesen Ländern, schlecht dasteht. Deshalb greifen Ihre Analysen an dieser Stelle viel zu kurz.

(Zuruf von der CDU: Nein!)

Deshalb sage ich: Wie ist das möglich, dass in diesen Ländern die Schlauen schlauer sind als bei uns und dass die weniger Schlauen deutlich besser sind als bei uns? Das kann doch wohl mit dem Thema Dreigliedrigkeit nichts zu tun haben. Aber Sie reduzieren es auf genau diese Frage.

(Zuruf von der CDU: Aber mit der Gesamtschule hat das auch nichts zu tun!)

Mein Thema - Herr Althusmann, um das deutlich zu machen - heißt auch nicht: Die Gesamtschule, wie sie sich in Deutschland gegenwärtig darstellt, löst die Probleme. - Das glaube ich nämlich nicht. Aber Sie glauben, dass Sie mit der Dreigliedrigkeit die Probleme lösen. Das ist Ihr Problem. Das wird Ihnen nämlich nicht gelingen.

(Beifall bei der SPD)

Die Länder, die ich Ihnen eben genannt habe, haben augenscheinlich eine andere Unterrichtskultur, die gewährleistet, dass sich Stärken entwickeln können, dass Potenziale ausgeschöpft werden und dass Motivation aufgebaut wird. Und wie sieht es bei uns aus? - Das waren die Ergebnisse von PISA: In keinem anderen Land ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulabschluss so eng wie in Deutschland. Das ist kein niedersächsisches Thema, sondern ein nationales Thema.

(Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

In keinem anderen der in der PISA-Studie untersuchten Länder hat sich der Migrationshintergrund so niedergeschlagen, wie das in Deutschland der Fall ist.

(Zuruf von der CDU: In Bayern war das aber anders! - Ursula Körtner [CDU]: Niedersachsen hat das runter- gezogen!)

In keinem anderen Land geht die Schere - dort gibt es zwar auch Starke, das ist klar - so weit auseinander wie bei uns. Ich glaube, es gibt nur wenige Länder, in denen im Verlauf der Bildungsbiogra

fien die Motivation der Schülerinnen und Schüler so stark rückläufig ist, wie das bei uns der Fall ist.

Die IGLU-Studie hat hier und da überrascht und gezeigt, dass Ihre Kritik an der Grundschule als Hort vorgeblicher Kuschelpädagogik dramatisch überzogen ist, bei allen Problemen, die es auch da gibt. Wir haben doch mit Erstaunen und Erschrecken zur Kenntnis genommen, dass es in Deutschland beispielsweise in den Gymnasien - die Hamburger Untersuchung kennen Sie auch - zwischen der siebten und der neunten Klasse null Lernzuwachs gab. Das sind doch Dinge, die zur Kenntnis zu nehmen sind und die deutlich machen, dass die Probleme deutscher Bildungspolitik nicht vorrangig in Strukturfragen begründet sind, sondern genau in der Frage der Unterrichtsqualität, also in der Hinwendung zu den Schülerinnen und Schülern.

(Zuruf von Ursula Körtner [CDU])

Wenn Herr Klare hier erzählt, dass das sein Ausgangspunkt sei, sage ich Ihnen: Das schlägt sich in der Beschlussempfehlung, die heute auf dem Tisch liegt, nicht nieder. Mit Dreigliedrigkeit und zusätzlichen Lehrerstellen ist das Problem nicht behebbar,

(Beifall bei der SPD)

wobei ich darauf hinweisen will, dass die zusätzlichen Stellen, die Sie in diesem Jahr aufgrund Ihrer Wahlversprechen vom letzten Jahr verankern wollen, in hohem Maße von der Umwandlung in ein dreigliedriges Schulsystem absorbiert werden. Das haben Sie der Bevölkerung in diesem Zusammenhang natürlich nicht erzählt.

Das Thema „Qualität des Unterrichts“ gehört in den Mittelpunkt. Wir sollten uns selbst als lernende Verantwortliche in einem bildungspolitischen Paradigmenwechsel begreifen, bei dem Dinge wie Fordern, Fördern, Selbständigkeit und Kooperation die Messlatte darstellen und Schülerzentriertheit keine Fiktion ist, sondern alltägliche Realität wird.

Einige Schritte auf diesem Weg sind auch eingeleitet worden und im Übrigen in diesem Hause unstrittig. Es geht beispielsweise um die Bedeutung der Sprachkompetenz für jedweden schulischen und beruflichen Lernerfolg. Das gilt für die Notwendigkeit einer offenen Eingangsstufe und für die Intensivierung des Fremdsprachenunterrichts. Hier haben Sie das übernommen, was in unserer Regierungszeit vorbereitet und schon realisiert worden ist.

Es ist ja nicht so, dass Sie alles umwerfen. Sie haben im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren bei Nebensächlichkeiten ja auch hinreichend flexibel reagiert; das ist überhaupt keine Frage. Es gibt einige wenige Punkte, bei denen Sie voller ideologischer Verbohrtheit sind. Dort haben Sie nicht gewackelt, und darauf sind Sie auch stolz. Bei dem Rest haben Sie eher darauf geguckt: Wie organisieren wir das so, dass sich möglichst wenig Widerstand dagegen aufbaut? - Das war die Logik, nach der Sie durchaus erfolgreich verfahren sind, denn der Protest hält sich ja in Grenzen. Das muss man sagen.

(Beifall bei der CDU)

Es stehen zwar einige hundert Schülerinnen und Schüler vor der Tür, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen, aber es ist vergleichsweise friedfertig für Sie abgelaufen.

(Zuruf von der CDU: Von den Jusos organisiert!)

Bei anderen Details - das gilt insbesondere für die Ausgestaltung der gymnasialen Oberstufe und für den Übergang von Klasse 4 nach Klasse 5 - schlägt aber genau wieder diese ideologische Borniertheit durch.

Für CDU und FDP gibt es nur drei Wege durch die Bildungslandschaft, nur drei Wege durchs Leben. Mein Gott, wie armselig ist dieses Weltbild im Hinblick auf die Komplexität unseres Alltagslebens!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist mehr Mut zu Reformen, selbst dann, wenn wir heute die Konsequenzen dieser Reformen noch nicht in jedem Detail ermessen können. Aber von diesen Reformen, um die es im Kern geht, ist Ihre Beschlussempfehlung umfassend verschont geblieben; das muss man wirklich sagen.

Aber es sind natürlich auch noch einige konkrete Dinge dieser Beschlussempfehlung anzusprechen, die unsere Kritik finden. Zum Beispiel das Thema Elternwille. Herr Klare hat deutlich gemacht, der Elternwille wird ganz hoch gehalten. Ich finde, der Landeselternrat hat eine hoch qualifizierte Stellungnahme abgegeben.

Aber in wichtigen Punkten interessiert Sie der Elternwille überhaupt nicht. Wie wollen Sie der

niedersächsischen Bevölkerung erklären, dass Sie einem Drittel der Niedersachsen verwehren, den Weg zu gehen, den sie gehen wollen, beispielsweise bei der Gründung neuer Gesamtschulen? Was hat es mit Elternwillen zu tun, an dieser Stelle Sperren zu errichten? Selbst die kommunalen Spitzenverbände haben dafür kein Verständnis. Es wäre ein Zeichen von Souveränität und Wettbewerbsorientierung, dies ganz bewusst zuzulassen.