Ich eröffne die 2. Sitzung im 1. Tagungsabschnitt des Niedersächsischen Landtages der 15. Wahlperiode.
Zur Tagesordnung: Wir beginnen die heutige Sitzung mit der Mitteilung über die Zusammensetzung des Ältestenrates, setzen sie mit der Aussprache über die Regierungserklärung fort und haben dann noch über den in der Tagesordnung ausgedruckten Wahlvorschlag zu entscheiden.
Die Abgeordneten, die ihren Personalbogen noch nicht abgegeben haben, werden gebeten, dies umgehend bei der Landtagsverwaltung zu tun, da sonst die Abgeordnetenliste und das Handbuch nicht erstellt werden können.
Nach Mitteilung der Fraktionen setzt sich der Ältestenrat wie folgt zusammen: von der Fraktion der CDU Bernd Althusmann, Hermann Dinkla, Lothar Koch, Editha Lorberg, David McAllister, Heidemarie Mundlos, Matthias Nerlich, Katrin Trost, Dr. Kuno Winn; von der Fraktion der SPD Sigmar Gabriel, Wolfgang Jüttner, Dieter Möhrmann, Jutta Rübke, Uwe Schwarz, Karin Stief-Kreihe; von der Fraktion der FDP Carsten Lehmann; von der Frak
tion Bündnis 90/Die Grünen Enno Hagenah. Dem Ältestenrat gehören weiterhin an der Präsident und die Vizepräsidentinnen und die Vizepräsidenten.
Herr Präsident, wir müssen uns alle daran gewöhnen. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 2. Februar haben die Menschen in Niedersachsen sicherlich deutlicher, als viele es erwartet hatten, entschieden. Sie haben einen politischen Wechsel an der Spitze unseres Landes Niedersachen herbeigeführt. So schmerzlich das für viele meiner Parteifreundinnen und Parteifreunde auch sein mag - ich weiß, wovon ich rede -, so selbstverständlich ist es natürlich auch für uns, dass in einer Demokratie der politische Wechsel ihr womöglich wesentlichster Wesenskern ist.
Deshalb darf ich Ihnen, Herr Ministerpräsident Wulff, zur Wahl auch im Namen der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag herzlich gratulieren, Ihnen alles Gute, eine glückliche Hand bei allen Entscheidungen und vor allen Dingen die Durchsetzung der Entscheidungen zum Wohle unseres Landes Niedersachsen wünschen.
Herr Ministerpräsident, damit verbunden ist unser Angebot zur konstruktiven Zusammenarbeit hier im Parlament. Die Verfassungswirklichkeit sieht nun einmal - jedenfalls in der Öffentlichkeit - so aus, dass die Kontrolle der Regierung häufig wirksamer von der Oppositionsfraktion als von der Regierungsfraktion wahrgenommen wird. Auch da weiß ich, wovon ich rede, Herr Ministerpräsident. Für die SPD-Fraktion darf ich Ihnen versichern, dass wir diese Kontrollfunktion, für die uns die Menschen in Niedersachsen durch die Wahl am 2. Februar bestimmt haben, sehr ernst nehmen.
Sie können aber auch versichert sein: Für uns heißt Opposition nicht Nein-Sagen um jeden Preis. Opposition ist auch nach einem Wechsel von der Regierung in die Opposition nicht Selbstzweck. Wo immer wir den Eindruck haben, dass Entscheidungen und Maßnahmen politisch in die richtige Richtung weisen und zugleich die Entwicklung unseres Landes voranbringen, sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Ich bin sicher: Die Menschen in Niedersachsen und Deutschland wollen keine Regierungsfraktion der Ja-Sager und auch keine Oppositionsfraktion der Nein-Sager.
Deutschland - kein Zweifel - steckt in der Krise. Unser Land ist davon genauso betroffen wie alle anderen auch. Ich glaube, wir stehen in unserem Land vor der dritten großen historischen Aufgabe in unserer Nachkriegsgeschichte. Die erste historische Aufgabe war der Wiederaufbau und auch die Aussöhnung mit den Völkern Europas. Die zweite Aufgabe historischen Ausmaßes war sicherlich die Wiedervereinigung; sie ist hinsichtlich der sozialen Einheit Deutschland bis heute nicht beendet. Die dritte große Aufgabe, vor der wir stehen, ist die Wiederbelebung unseres Verfassungsmodells einer sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Es ist, wenn Sie so wollen, die Wiederbelebung eines europäischen Modells; denn anders als in den USA und in Asien sind und waren bei uns, in der Geschichte unserer Verfassung, in der Nachkriegszeit Leistung und soziale Verantwortung keine Gegensätze. Sie waren und sie sollen sein zwei Seiten der gleichen Medaille, bei denen klar ist, dass die eine, die Leistungsseite, zuerst geprägt werden muss, bevor man die andere ausprägen kann. Aber sie sind eben keine Gegensätze.
Wenn ich mir manchmal anschaue, wie bei Entscheidungen nicht nur in Konzernvorständen, sondern auch in vielen anderen Bereichen die Realitäten aussehen, dann habe ich doch die Gewissheit, dass diese Verfassung offensichtlich als etwas angesehen wird, was dem letzten Jahrhundert angehört. Ich muss zugeben, dass ich manche Werte
debatte nicht mehr hören kann. Meine Damen und Herren, es würde völlig ausreichen, wenn wir uns gelegentlich einmal wieder an die alten Werte halten würden.
Ja, wir brauchen Wachstum in unserem Land. Aber wir brauchen eben auch Gerechtigkeit. Vieles, was die Bundesregierung nach der Bundestagswahl an Vorschlägen zu Steuererhöhungen und zur Energiepreiserhöhung beschlossen hat - da stimme ich Ihnen zu, Herr Ministerpräsident -, ist schädlich für das Wachstum in unserem Land.
- Das muss Sie nicht überraschen. Ein Teil meines Ärgers rührt daher, dass ich das schon vor der Wahl gesagt hatte. So ist das im Leben. - Aber umgekehrt gilt eben auch, dass es in der Bevölkerung nicht nur eine gefühlte Ungerechtigkeit gibt. Insbesondere bei denjenigen, die keine so hohen Einkommen haben, gibt es ein Gefühl der Ungerechtigkeit in der Frage, wer in diesem Land eigentlich wie viel zum Erhalt unseres Sozialstaates beiträgt. Deswegen: Außer dass es eine Vielzahl von falschen Vorschlägen zur Steuerreform geben kann, ist und bleibt es auch ungerecht, dass ein großer Teil unserer Wirtschaft und viele Menschen in diesem Lande die Chance haben, sich fast völlig davon zu befreien, zur Entwicklung des Gemeinwohls in unserem Lande beizutragen.
Sie zucken mit den Schultern. Lesen Sie doch einmal nach, wie sich die Entwicklung zwischen Vermögensverteilung, Einkommensbesteuerung und anderen Dingen in der Bevölkerung bei uns darstellt. Die Leute haben einen sehr konkreten Eindruck davon. Wir brauchen mehr Kaufkraft, na klar! Wenn wir mehr Kaufkraft brauchen, dann müssen wir aber auch den Mut haben, darüber zu reden, wer in Deutschland mehr Kaufkraft braucht. Das bedeutet auch für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, zu sagen: So wichtig die weitere Absenkung des Spitzensteuersatzes ist, ist das Ziel möglicherweise nicht, den Spitzensteuersatz auf 42 % zu senken, sondern wichtiger ist es möglicherweise, die Tarife für alle weiter herunterzudrücken, damit die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder mehr Geld ins Portmonee bekommt, meine Damen und Herren.
Ja, wir brauchen Maastricht, wir brauchen Stabilitätskriterien für unsere Währung. Aber wir müssen doch zugeben, dass wir, wenn wir - wie zurzeit - in der Krise stecken, die Situation in Deutschland nicht dadurch verbessern werden, dass wir Investitionsbereitschaft und anderes kaputtsparen oder dass wir den Menschen mehr Steuern aus der Tasche ziehen. Deswegen lautet natürlich die richtige Antwort, dass wir Investitionen brauchen in die Kommunen, in die Schulen, in den Straßenbau und dass wir so etwas wie einen europäischen Beschäftigungspakt brauchen, der in Zeiten schwerer wirtschaftlicher Krisen für die strukturellen Defizite Maastricht gelten lässt, aber sonst volkswirtschaftlich vernünftig handelt und nicht das Land und die Investitionen und die Kaufkraft unserer Bevölkerung kaputtspart, meine Damen und Herren.
Ja, wir brauchen Reformen für die sozialen Sicherungssysteme, keine Frage. Wir haben enorme Schwierigkeiten in unserer Gesundheitsversorgung und bei vielem anderem in den sozialen Sicherungssystemen. Aber wir müssen doch auch daran denken, wenn wir Vorschläge machen, dass sich Menschen privat versichern sollen, dass zwischen Wahl- und Pflichtleistung unterschieden werden soll, dass nicht alle die Gehälter niedersächsischer Landtagsabgeordneter oder Regierungsmitglieder haben, sondern dass ein Elektrogeselle 1 000 Euro netto verdient, eine Verkäuferin, wenn sie vollzeitbeschäftigt ist, manchmal noch weniger. Wie sollen die diese Wahlleistungen bezahlen? - Es muss auch darum gehen, dass wir bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme nicht nur immer alles bei Patienten, Alten und Pflegeversicherten abladen, sondern dass wir auch die Mächtigen, die Starken in diesem System - Ärzte, Apotheken, Pharmaindustrie - beteiligen und dass wir uns vor dieser Auseinandersetzung nicht drücken dürfen. Das heißt auch soziale Gerechtigkeit in Deutschland!
Ja, wir müssen den Arbeitsmarkt flexibilisieren, keine Frage. Aber wer den Kündigungsschutz angehen will, der muss dafür einfordern, dass es Garantien für Ausbildung und Arbeit gibt. Ich muss auch sagen: Wer immer der Flexibilisierung des Tarifrechts das Wort redet und betriebliche Lösungen will, der muss mir mal erklären, wieso er gegen eine Stärkung der Betriebsräte im Betriebsver
Zu all diesen Fragen, Herr Ministerpräsident, finden wir in Ihrer Regierungserklärung und auch in der Koalitionsvereinbarung wenig Konkretes. Der Süddeutschen Zeitung haben Sie gestern gesagt, Sie wollten nicht zu den großen Themen Stellung beziehen. Ich zitiere mal Ihre Antwort. Sie sagten wörtlich: „Erstens bin ich dazu nicht kompetent. Zweitens ist es das Gegenteil dessen, was mit mir verbunden wird.“ An diesen Stellen, Herr Ministerpräsident, könnte man sagen, dass wir Ihnen zustimmen können. Aber ich glaube, Sie werden lernen müssen, zu diesen Fragen Stellung zu beziehen. Man kann sich davor nicht drücken!
Bei aller Wichtigkeit des Landes Niedersachsen, die ökonomischen Rahmenbedingungen werden Sie über Ihre Einflussnahme im Bundesrat mit beeinflussen. Sie müssen zu diesen Positionen vor allen Dingen dort Stellung beziehen, wo es darum geht, bei aller Notwendigkeit der Veränderung soziale Gerechtigkeit sicherzustellen.
Wir wollen in vielen Bereichen mitarbeiten. Angesichts Ihrer Koalitionsvereinbarung können wir übrigens auch gar nicht zu allem Nein sagen. Das gilt vor allem für die Bereiche, zu denen Sie in der Koalitionsvereinbarung konkret geworden sind, z. B. in der Wirtschaftspolitik: Innovationsbank, Beteiligungskapital für Existenzgründer und kleine und mittlere Unternehmen, Turnaround-Fonds für Unternehmer in der Krise, Bündelung von 68 Förderprogrammen, Regionalfonds für regionale Strukturpolitik.
Jetzt mal unter uns, Herr Ministerpräsident, es hört ja kaum einer zu. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, das bei uns abzuschreiben? Sie, oder war es Walter selber?
Ich finde, so viel Fairness muss doch sein, dass Sie offen zugeben, dass das nichts anderes ist als die bisherige Regierungspolitik von Sozialdemokraten. Ich gebe zu, das „neue Modell Susanne“ wäre uns lieber gewesen als das des „Oldtimers Walter“. Aber sei es drum, wir finden es gut, dass Sie in der Wirtschaftspolitik auf Kontinuität setzen. Aber
trauen Sie sich ruhig mal, das öffentlich zu sagen. Sie dürfen ruhig stolz auf unsere Arbeit sein; wir sind es nämlich auch, meine Damen und Herren.