Protocol of the Session on June 6, 2007

Armut, meine Damen und Herren, ist weit mehr als ein Mangel an Einkommen. Die reinen Zahlen des Einkommens täuschen beinahe über das eigentliche Problem hinweg. Denn bei der Betrachtung der tatsächlichen Lebenslagen armer Menschen zeigt sich eine Unterversorgung in den unterschiedlichsten Bereichen wie z. B. Wohnen, Bildung, Gesundheit oder Kultur. Im Kern geht es um die ungleiche Verteilung von Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Statistisch lebt jede siebte Niedersächsin in Armut. Dieser Wert steigt an. Besonders sind die Kinder betroffen. Seit 1990 ist die Kinderarmut in Deutschland stärker gestiegen als in den meisten Industrienationen. Allein in Niedersachsen stieg im vergangenen Jahr die Zahl der Sozialgeldempfängerinnen im Alter unter 15 Jahren um 11 % an. Das sind 16,4 % der Kinder in dieser Altersgruppe.

Diese Zahlen, meine Damen und Herren, sind ein Skandal!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Kinder aus armen Familien wachsen mit stark verminderten Chancen auf. Ein armes Kind ist häufiger krank. Es ist häufiger übergewichtig. Es verfügt praktisch über keine Erfahrungen mit Ausflügen, Reisen oder kulturellen Veranstaltungen, während Gleichaltrige aus den bürgerlichen Vierteln schon im Kindergartenalter Sprachkurse absolvieren, Schwimmkurse machen, Musikinstrumente lernen, später an Schüleraustauschprogrammen und Feriensprachkursen teilnehmen und mit ihren Eltern die Welt bereisen. In Kindergärten werden inzwischen Kinder reicher Eltern aus den Kindergartengruppen genommen, privat im Fach Englisch unterrichtet und dann wieder in die Gruppen zurückgeführt. Das, meine Damen und Herren, nenne ich fatal; denn so kommen die einen Kinder konsequent auf die Überholspur und die anderen aufs Abstellgleis.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Politik der Großen Koalition vertieft die gesellschaftliche Spaltung. Der Ausbau des Niedriglohnsektors, der Verzicht auf Mindestlöhne, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Senkung der Unternehmenssteuern sowie die zunehmende Drangsalierung der Erwerbslosen stehen für eine Politik, die Ausgrenzung betreibt. Mit der Unternehmenssteuerreform wurde ein Milliardensegen für die Wirtschaft beschlossen. Sie kann sich bis zum Jahr 2012 auf Steuervergünstigungen in Höhe von fast 30 Milliarden Euro freuen.

Über eine Reform der Erbschaftsteuer, die dringend erforderlich wäre, damit endlich auch reiche Erben zu ein wenig mehr Steuergerechtigkeit beitragen, ist sich die Große Koalition bis jetzt leider noch nicht einig geworden.

(Beifall bei den GRÜNEN - Bernd Althusmann [CDU]: Frau Kollegin, das ist billige Polemik!)

In Niedersachsen wird diese Politik auf Landesebene seit einiger Zeit konsequent fortgeführt.

(Bernd Althusmann [CDU]: Das ist doch Blödsinn!)

Hausaufgabenhilfe und Lernmittelfreiheit wurden gestrichen, die Sprachförderung im Kindergarten zusammengeschossen, das selektierende Schul

system zementiert die Herkunftsabhängigkeit von Bildungschancen, und die Einführung von Studiengebühren erschwert Kindern aus armen Elternhäusern die Aufnahme eines Studiums.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dabei reden aber alle von der Wissensgesellschaft.

An den Schulen häufen sich die Probleme. Kinder werden vom Mittagstisch abgemeldet, weil die Eltern den Beitrag für das Essen nicht bezahlen können. Einmalige Bedarfe für die Schule sind von vielen Eltern schlicht nicht leistbar. Die Kosten für viele Arbeitsmittel, Hefte, Rechner oder für eintägige Schulausflüge können vom Kinderregelsatz, der 207 Euro im Monat beträgt, nicht bestritten werden. Schüler und Schülerinnen weiterführender Schulen ab Klasse 11 müssen die Fahrtkosten für den Schulbesuch selber bezahlen. Das kann im Flächenland Niedersachsen 80 Euro im Monat betragen.

(Ursula Körtner [CDU]: Bei der Ein- heitsschule wird es noch teurer!)

Damit werden arme Kinder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen. Auch das, meine Damen und Herren, ist ein Skandal.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD - Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Es ist ein Skan- dal, so einen Unsinn zu reden!)

Der Landkreis Friedland hat sich in dieser Angelegenheit schon an den Landtag gewandt. Sicherlich auch Sie werden dieses Schreiben bekommen haben.

Meine Damen und Herren, die Regelsätze sind schlicht zu niedrig und müssen erhöht werden. Kostensteigerungen durch steigende Energiepreise, höhere Gesundheitskosten oder die Mehrwertsteuererhöhung müssen endlich ausgeglichen werden. Dies hat auch der Paritätische Wohlfahrtsverband in gutachterlich untermauerten Rechnungen bewiesen, und er hat den Nachholbedarf bei den Regelsätzen auf 20 % taxiert. Daran dürfen wir nicht vorbeisehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Außerdem müssen wieder einmalige Beihilfen für die Zwecke, die ich oben geschildert habe, gewährt werden können. Wir selbst haben uns in der

Vergangenheit für eine Pauschalisierung der Leistungen eingesetzt. Ich sage aber hier ganz offen, dass die Erfahrung, die wir inzwischen gemacht haben, zeigt, dass wir darüber noch einmal nachdenken müssen.

Solange das Problem an den Schulen besteht - da zeigt es sich tatsächlich brennpunktartig -, darf der Schulminister die Schulen nicht alleine lassen. Der Not gehorchend, haben ja bereits zwei Kommunen, nämlich Osnabrück und Oldenburg, in eigener Regie Sozialfonds aufgelegt. Darauf darf sich aber der Kultusminister nicht verlassen. Er ist als Schulminister dafür verantwortlich, dass kein Kind mit knurrendem Magen in der Ganztagsschule sitzt oder bei Ausflügen nicht mitmachen kann, weil das Geld nicht reicht.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Das kann doch wohl nicht wahr sein!)

Das Land sollte, unbeschadet dessen, dass im Bund eine vernünftige Regelung gefunden werden muss, hier eine Hilfe ermöglichen. Das Land Rheinland-Pfalz hat sich des Problems mit einem Sozialfonds angenommen, der den Schulen schnelle und unbürokratische Hilfe ermöglicht. Dies wollen wir uns in Niedersachsen bitte gemeinsam zum Vorbild nehmen, im Interesse der Kinder.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Aber Sie schauen beim Thema Armut ja gern zur Seite. Bereits im Jahr 2005 haben wir eine Fortschreibung des Armuts- und Reichtumsberichts angemahnt. Dies haben Sie hier im Plenum nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ abgelehnt. Sie können aber bei diesem Thema nicht agieren wie die berühmten drei Affen.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Sie haben immer Berichte angefor- dert, und nichts wurde getan!)

Das geht nicht; dazu ist es zu drängend.

(Glocke der Präsidentin)

Wir brauchen für eine gezielte Armutsbekämpfung eine solide Datengrundlage. Niedersachsen braucht eine Sozialberichterstattung, und zwar regionalisiert und lebenslagenorientiert.

(Zustimmung von Stefan Wenzel [GRÜNE])

Auf dieser Grundlage muss das Land ein tragfähiges Konzept zum Kampf gegen Armut entwickeln. Auch die Kommunen werden davon profitieren; denn indikatorengestützte Auswertungen machen Vergleichbarkeit und gezielte Interventionen auf kommunaler Ebene möglich.

Und noch etwas erwarte ich von dieser Landesregierung und insbesondere vom stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Christian Wulff: Setzen Sie sich doch, er und Sie alle gemeinsam, endlich dafür ein, dass in Deutschland die Menschen von ihrer Arbeit endlich wieder leben können! Mehr als 2,5 Millionen Menschen in Vollzeitbeschäftigung arbeiten in Deutschland für Armutslöhne, die weniger als 50 % des Durchschnittslohns betragen.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Das war Rot-Grün!)

Etwa 574 000 Menschen erhalten zurzeit aufstockende ALG-II-Leistungen, und die Dunkelziffer ist hoch. Es kann nicht sein, dass die Menschen zu Hungerlöhnen arbeiten und der Staat der Ausfallbürge für unanständig niedrige Löhne wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie verweigern sich der Lösung des Problems Mindestlohn seit mindestens 16 Monaten im Bund, und es wird wirklich Zeit, dass im Interesse der Menschen dieses Lohndumping endlich aufhört und eine Regelung für existenzsichernde Löhne gefunden wird.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Helmhold. Ihre Redezeit ist zu Ende.

Einen letzten Satz noch.

Die Redezeit ist zu Ende. Sie hätten das alles ein bisschen kürzer machen können.

Es wird Zeit, dass dieses Politikdumping beendet wird. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Kollege Böhlke das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mir den Antrag der Grünen durchlese, habe ich das Gefühl, dass die Opposition jetzt endgültig auf unbelehrbar geschaltet hat. Wenn ich ferner das höre, was gerade Frau Helmhold als Antragstellerin hier vorgetragen hat, dann wird mir deutlich, dass es hier nur darum geht, eine Plattform für Polemik und für Horrorgeschichten im Vorfeld des Landtagswahlkampfs zu finden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Ursula Körtner [CDU]: Das ist die Landesliste der Grünen!)

Wenn wir uns die Mühe machten, zu zählen, wie oft Sie Sozialberichterstattung eingefordert haben, kämen wir zu dem Ergebnis, dass wir dann nichts anderes mehr zu tun hätten.

Herr Böhlke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wenzel?