Protocol of the Session on March 6, 2007

Meine Damen, meine Herren, wir haben als SPDFraktion vor drei Wochen eine Anhörung zum Thema Mindestlohn durchgeführt. Nach eingehender Diskussion mit Vertretern von Verbänden wie dem Bundesverband der Zeitarbeit, der Gebäudereinigerinnung, den Gewerkschaften, der NIHK und vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass wir differenzierte Möglichkeiten für Mindestlöhne in Deutschland brauchen. Wie wollen wir das sicherstellen?

Erstens. Mindestlöhne sollten aus unserer Sicht in erster Linie - wir haben schließlich hier in Deutschland auch eine Tarifautonomie - durch die Tarifvertragsparteien vereinbart werden. Die untersten Tariflöhne stellen dabei den Mindestlohn dar. Insbesondere wollen wir durch Erleichterungen die Allgemeinverbindlichkeit, die ja in den letzten Jahren nicht zuletzt wegen der Arbeitgeberverbände aus der Mode gekommen ist, in möglichst vielen Branchen zur Anwendung bringen. Wir wollen also, dass die Löhne als allgemeinverbindlich erklärt werden und der unterste Tariflohn der Mindestlohn ist.

Zweitens. Wir wollen in den Branchen, in denen es keine tariffähigen Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften gibt, durch eine neu einzurichtende Niedriglohnkommission ergänzende Mindestlöhne vorschlagen lassen, die dann vom Arbeitsministerium als verbindlich erlassen werden.

Drittens. Wir wollen, dass das Arbeitnehmerentsendegesetz auf weitere Branchen ausgedehnt wird, die eine mit dem Baugewerbe vergleichbare Situation haben, z. B. auf das Gebäudereinigerhandwerk.

Herr Kollege Lenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möhrmann?

Ja, natürlich.

Herr Kollege, wie finden Sie es denn, dass es sowohl auf den Bänken der Regierungsfraktionen als auch auf der Regierungsbank gerade bei einer so wichtigen Debatte immer leerer wird?

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: Das ist unerhört!)

Herr Abgeordneter Möhrmann, auf den Bänken der Regierungsfraktionen sind nur noch so wenige Abgeordnete, dass oben sogar schon das Licht ausgemacht wird.

(Zuruf von der CDU: Das liegt an Ihrer Rede! - Weitere Zurufe von der CDU)

- Das ist in der Tat ein Thema. Wir kommen gleich darauf zu sprechen, warum wir es in Berlin nicht schaffen, zu entsprechenden Regelungen zu kommen. Hören Sie sich das an! Ihre Partei hat das ja mit in den Koalitionsvertrag geschrieben. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD steht

(Jörg Bode [FDP]: Der gilt nicht in Niedersachsen!)

zum Thema Mindestlohn - ich zitiere, Herr Bode -:

„Wir wollen... sicherstellen, dass Löhne nicht in den Bereich der Sittenwidrigkeit heruntergedrückt werden können...“

Dazu kann ich nur sagen: In ganz vielen Branchen sind wir schon bei sittenwidrigen Löhnen.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der FDP)

- Frau Kuhlo, würden Sie es denn nicht als sittenwidrig ansehen, was einer Beschäftigten, die in unserer Anhörung gesprochen hat, widerfährt? Sie verdient im Hotelgewerbe 3,35 Euro in der Stunde. Ich finde, das ist sittenwidrig. Das hat uns nicht irgendjemand geschildert, sondern eine gelernte Hotelfachfrau.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen, meine Herren der Regierungsfraktionen, Herr Hirche - Herr Wulff ist leider nicht da -, wir fordern Sie auf, die Blockade in Berlin endlich aufzugeben und mit der von uns vorgeschlagenen Bundesratsinitiative für ein Ende von Dumpinglöhnen zu sorgen. Differenzierte Mindestlöhne führen nicht zum Wegfall von Arbeitsplätzen - dies hat uns das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung auch noch einmal dargestellt -, sondern tragen zur Stärkung der Binnenkonjunktur bei. Diese Binnenkonjunktur hat uns gerade in den letzten Monaten die Arbeitsmarktzahlen verschafft, die wir überall loben. Deswegen ist es das Gebot der Stunde, hier zu handeln. Wir fordern Sie eindringlich auf, mit uns gemeinsam zu handeln. Eine Bundesratsinitiative kann dabei helfen. - Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Herzlichen Dank. - Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Dinkla das Wort.

(Gerd Will [SPD]: Es hört Ihnen so- wieso niemand zu! Es ist von Ihnen kaum noch einer da!)

Doch, es gibt großes Interesse. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lenz, Ihre Rede passte nur sehr begrenzt zu dem Antrag, den Sie gestellt haben. Mit Vorwahlkampfgetöse und Ideologie werden wir das Problem nicht lösen, und Ihre Genossen in Berlin sind schon längst weiter. Polemik ist nur für das Protokoll. Wir brauchen aber endlich Lösungen über den Tag hinaus,

(Beifall bei der CDU)

allerdings unter der Prämisse - dies füge ich ausdrücklich hinzu -, dass die übliche ideologische Denkblockade nicht weiter stattfindet. Deswegen ist der Begriff „ungebremstes Streben nach Gewinnmaximierung“ in Ihrem Antrag vielleicht für den einen oder anderen nationalen oder internationalen Konzern richtig und angemessen. Für die Diskussion über den Niedriglohnsektor ist das jedoch schlicht und ergreifend falsch. Über 70 % der Niedriglohnanteile liegen nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, gegen die Sie schlecht etwas haben können, in Betriebsgrößen unter 49 Vollzeitbeschäftigten.

(Günter Lenz [SPD]: Das haben Sie nicht verstanden, Herr Dinkla! Gucken Sie sich mal an - - -)

Herr Kollege Lenz, Sie haben die Möglichkeit, sich noch einmal zu Wort zu melden. Herr Dinkla hat jetzt das Wort.

Herr Kollege Lenz, mit Ihrem Antrag und der Formulierung „ungebremstes Streben nach Gewinnmaximierung“ unterstellen Sie auch vielen mittelständischen Unternehmen und Betrieben in Niedersachsen eine übermäßige Gewinngier zulasten der Arbeitnehmer. Das ist schlicht und ergreifend Unfug.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zurufe von Günter Lenz [SPD])

Herr Dinkla, einen kleinen Moment, bitte! - Herr Kollege Lenz, wenn Sie ständig dazwischenrufen, dann stört das irgendwann. Die SPD-Fraktion hat noch eine Redezeit von 3:33 Minuten. - Herr Dinkla!

Ein gelegentlicher Adrenalinstoß bei Herrn Lenz ist doch durchaus okay.

(Heiterkeit)

Richtig ist, Herr Lenz, dass viele Branchen in Deutschland nach schweren rot-grünen Jahren des Stillstands endlich wieder Luft zum Atmen haben, um überhaupt wieder arbeiten und überleben zu können. Am Ende dieser Diskussion, die sich nicht allein auf den Mindestlohn beschränken darf, sondern in der es um eine Umstrukturierung des gesamten Niedriglohnsektors gehen muss, dürfen im Ergebnis aber nicht weniger, sondern müssen mehr Arbeitsplätze in Deutschland da sein. Ich meine, dass wir das Ziel mit einer isolierten Betrachtung über die Einführung eines gesetzlichen einheitlichen flächendeckenden Mindestlohnes von 7,50 Euro, den Sie eben noch einmal angesprochen haben

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Hat keiner gefordert!)

und der ja auch von verschiedenen Seiten massiv gefordert wird, nicht erreichen werden. Gleichzeitig sage ich aber auch: In Deutschland dürfen nicht sittenwidrige Löhne gezahlt werden. Dies ist inakzeptabel. Wenn Hotelzimmer im Akkord gereinigt werden und die Arbeitnehmerin im Ergebnis einen Stundenlohn von 2,60 Euro erhält und anschließend das Einkommen auf das Grundsicherungsniveau aufgestockt wird, dann beteiligt sich der Staat quasi an der günstigen Zimmerreinigung. Da hört der Spaß wirklich auf, meine Damen und Herren!

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD - Wolfgang Jüttner [SPD]: Unse- re Rede!)

Der aktuelle Vorschlag der CDU, sittenwidrige Löhne besser definieren zu können und damit Arbeitnehmern leichter die Einreichung einer Klage zu ermöglichen, gehört mit in die Gesamtüberlegung. Entsprechend gibt es ja auch den § 138 BGB. Im Niedriglohnbereich ist davon aus

zugehen, dass - soweit es sich nicht um Hinzuverdienste handelt - auf Antrag eine Aufstockung, auch orientiert am ALG II, vorgenommen wird. Das heißt aber in der Konsequenz, dass de facto je nach Familienstand ein Ausgleich über ALG II in einer Spanne von 4,88 Euro bis 9,30 Euro erfolgt. Verheiratete mit zwei Kindern erhalten mit allen Zuschlägen 1 950 Euro im Monat, ohne Zuschläge sind es noch 1 574 Euro. Damit sind diese Beträge der Grundsicherung bei der Neuordnung des Niedriglohnsektors zu berücksichtigen und dürfen in der Diskussion nicht verdrängt werden. Diese Grundsicherung, Herr Lenz, gibt es in den meisten anderen europäischen Ländern mit Mindestlohn eindeutig nicht. Auch das gehört mit in die Gesamtbewertung des Problems.

Wir haben nach wie vor - niemand wird das leugnen - eine unbefriedigende Situation im Niedriglohnsektor. Wir haben dort nach wie vor eine viel zu hohe Arbeitslosenquote. Die bisherigen Instrumente bringen zwar erste gute Ergebnisse - ich will ausdrücklich den Niedersachsen-Kombi als ein Erfolgsmodell erwähnen -, aber das durchgreifende Gesamtkonzept des Bundes fehlt noch. Das kann man nicht leugnen. So ist die Ausgangssituation. Es gibt starke regionale Schwankungen und auch starke Branchenunterschiede. Zudem muss man davon ausgehen - Herr Lenz, Sie haben es angesprochen -, dass in einigen Wirtschaftszweigen ab 2009 durch die Dienstleistungsrichtlinie die Marktöffnung greift. Die Große Koalition in Berlin hat sich ja im Februar 2006 bei der Verabschiedung im Europaparlament darauf verständigt, in diesem Zusammenhang geeignete Instrumente gegen Dumpinglöhne einzuführen.

In weiteren Branchen gilt ab 2009 oder bald darauf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Beitrittsstaaten. Die Beschränkung der Freizügigkeit kann allenfalls bis 2011 verlängert werden, danach geht das nicht mehr. In dem gestrigen Gespräch in Berlin war von zehn weiteren Berufsbereichen die Rede, für die über das Entsendegesetz eine Regelung herbeigeführt werden soll.

Der laute Ruf nach dem gesetzlichen Mindestlohn, der besonders von Teilen der Gewerkschaften erklungen ist, offenbart nach meiner Auffassung zugleich die Schwäche der Gewerkschaften und der Tarifautonomie. Für mich steht fest, dass das Thema des Mindestlohns, der unteren Lohngruppen - der neue Begriff heißt Entgeltsicherungsmarke; oder welchen Begriff man auch immer wählen

will - in erster Linie eine Herausforderung für die Tarifparteien ist. Der schnelle Ruf nach dem Staat ist insoweit nur begrenzt zu akzeptieren.

Die Gewerkschaften in Deutschland haben im Gegensatz zu denen in anderen EU-Ländern - z. B. Österreich - ein großes Problem, und zwar das der mangelnden Tarifbindung. Über Branchentarifverträge greifen zur Zeit 61 % und über Haustarife 7 %. Das heißt, im Ergebnis gibt es zu 32 % keine Tarifbindung, im Osten sogar zu 48 %. Dagegen liegt die Tarifbindung in Österreich bei über 90 %. Deshalb wird dort die Frage des gesetzlichen Mindestlohns überhaupt nicht wie bei uns diskutiert.

Im Antrag der SPD-Fraktion wird der Versuch unternommen, die Allgemeinverbindlichkeit über verschiedene Wege zu erreichen: Änderung des § 5 TVG, erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch das Ministerium, und Sie haben eben die Niedriglohnkommission angesprochen. Meine Damen und Herren, das heißt im Klartext aber auch, dass unser bisheriges System der Tarifpartnerschaft zum Teil aufgeweicht wird. Jede weitere gesetzliche Regelung stärkt die Position der Gewerkschaften nicht. Darüber müssen sie sich auch im Klaren sein. Der Ruf nach dem staatlichen Eingriff bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen ist das Eingeständnis der Gewerkschaften, an Macht und Einfluss verloren zu haben. So ist die Situation.

(Zuruf von Enno Hagenah [GRÜNE])

Hinzukommt, dass die Gewerkschaften in der aktuellen Diskussion, Herr Hagenah, kein Bild der Geschlossenheit bieten. Die IG BCE sei nur als ein Beispiel erwähnt.

Wie geht es weiter, und welche Ziele müssen erreicht werden? - Erstens. Wir brauchen am Ende eine Lösung, mit der im Niedriglohnsektor nicht weniger, sondern mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Ziel muss sein, den schwierigen Bereich des Niedriglohnsektors zu öffnen und weiter zu erschließen. Deshalb sind flächendeckende einheitliche Mindestlöhne nicht das, was Arbeit bringt. Davon sollte sich die SPD eigentlich klar distanzieren, auch wenn sie dadurch einen Konflikt mit den Gewerkschaften hat. Eine vernünftige Lösung ist nur über Branchendifferenzierung erreichbar. Das wird zunehmend so gesehen.

Zweitens. Wir müssen eine Lösung finden, damit im Zuge der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer - gerade aus Osteuropa - ab 2009, spätestens ab 2011, keine sozialen Verwerfungen stattfinden. Ungehemmtes Lohndumping zulasten deutscher Arbeitnehmer kann niemand wollen. Deshalb wird es nach meiner Überzeugung zu einer fundiert begründeten Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf weitere Berufsbereiche kommen.

Drittens. Eine durchgreifende Neustrukturierung des gesamten Niedriglohnsektors, in der auch Elemente des sogenannten Mindestlohns oder Entgeltsicherungsmarken einbettet sind, sehe ich als dringlich an. Ich erinnere nur an die Diskussion um den sogenannten Bofinger-Vorschlag. Dieser wird ja auch in der SPD-Fraktion diskutiert. Es gab ja auch die entsprechende Bremer Erklärung.

Meine Damen und Herren, es gibt aber noch einen Anspruch, dem wir alle uns politisch zu stellen haben. Auch im Niedriglohnbereich muss - auch in Verbindung mit neuen Konzepten, ähnlich wie im Kombilohnbereich - eine angemessene Einkommenssituation erreicht werden, sodass auch junge Menschen mit einer geringeren beruflichen Qualifikation ein Gefühl der Sicherheit und den Mut haben können, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Das erreichen wir nicht mit politischen Kampfparolen und der ideologischen Brechstange, sondern mit Augenmaß und Vernunft. Ich hoffe, dass das, was der Vizekanzler gestern Abend gesagt hat, nämlich „Wir kriegen das hin“, in diesem Jahr mit einem klugen Kompromiss Realität werden kann. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.