Protocol of the Session on January 23, 2002

Zugegeben, das ist sehr scharf formuliert. Aber ich meine, es ist so. Wir meinen, man handelt natürlich bei Verhandlungen. Do ut des, geben und nehmen ist ein alter Grundsatz. Aber er gilt nicht bei diesem Problem, meinen wir. Das ist ein schwieriges, ein auch menschlich schwieriges Thema. Hier geht es nicht um die bei solchen Beitrittsverhandlungen üblichen handfesten Fingerhakeleien. Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, wir sollten das geschehene Unrecht der Vertreibung hier nicht als Hebel ansetzen.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen während des Krieges und nach dem Krieg haben tiefe Spuren im

Gedächtnis auch unseres Volkes hinterlassen. Auch hier im Plenum gibt es Abgeordnete, die als Kinder ihre Heimat verlassen mussten. Fast in jeder Familie gibt es jemanden, der von Erlebtem und Gehörtem berichten kann.

Lassen Sie uns vor dem Hintergrund den vorliegenden Antrag im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten ruhig und besonnen beraten. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Wir hören jetzt den Kollegen Wenzel.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir alle haben in den letzten zwei, drei Tagen die Bilder der Flüchtlinge von Goma gesehen: Menschen mit Tüten unter dem Arm, ohne Wasser, ohne Nahrung. Viele suchen in diesem Chaos noch nach ihren Angehörigen, nach ihren Kindern. Der Grund: ein Naturereignis. Das Schicksal ist aber ein allgegenwärtiges auf diesem Planeten. Noch viel öfter liegt der Grund für Flucht aus der Heimat im menschlichen Handeln: Krieg, Bürgerkrieg, Folter, wirtschaftliche Not, politische Verfolgung oder gar ethnische Vertreibung ganzer Volksgruppen. Die Vorgänge in Jugoslawien sind uns ebenfalls noch in Erinnerung. Das Thema Flucht und Vertreibung hat heute eine globale Aktualität. Anders als vielleicht noch vor 50 oder 100 Jahren sind die Folgen heute auf jedem Fernsehbildschirm erkennbar.

Vor 50 Jahren hat eine Reihe von Regierungen die Genfer Flüchtlingskonvention ins Leben gerufen. Die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, geboren aus dem Entsetzen über die Folgen des Zweiten Weltkrieges, waren der Hintergrund. Im vergangenen Jahr, zum fünfzigsten Jahrestag des Beschlusses über die Genfer Flüchtlingskonvention, hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen den 20. Juni zum Weltflüchtlingstag erklärt.

Ebenfalls vor etwa 50 Jahren entstand die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die die CDU in ihrem Antrag angesprochen hat. Wenn man sie liest, ist es ein erstaunliches Dokument, wenn man die eher revisionistischen Töne der vergangenen Jahrzehnte im Kopf hat. Dieses Dokument enthält beispielsweise - das ist erstaunlich in Bezug auf den Zeitpunkt, zu dem es entstanden ist - eine klare

Absage an Rache und Vergeltung, die Forderung, den Wunsch nach einem geeinten Europa, und es spricht auch von Schuld.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten im Bewusstsein um die eigene Geschichte keinen neuen nationalen Gedenktag schaffen, sondern den Tag der Vereinten Nationen mit eigenen Aktivitäten aufwerten. Wir sollten auf globale Problemlösungen hinweisen. Dazu gehören auch die Erinnerung und die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte Europas. Dazu gehört auch Versöhnung. Ich meine aber, Versöhnung ist etwas, was man nicht einfordern kann, sondern Versöhnung ist ein Geschenk. Versöhnung ist etwas, was von beiden Seiten freiwillig erbracht werden muss. Ich meine aber auch, dass wir insbesondere durch eigenes Tun die Not heutiger Flüchtlinge mildern sollten. Der Schutz von Flüchtlingen ist kein wohltätiger Akt, sondern er ist moralische und auch unsere rechtliche Verpflichtung. Humanitäre Organisationen, die Flüchtlingen helfen, brauchen unsere Unterstützung, und zwar hier vor Ort, bei uns im Land, aber auch international. Auf der politischen Ebene kann jede Stimme diejenigen in der Regierung beeinflussen, die für Asylfragen oder für humanitäre Hilfe zuständig sind.

Wir müssen jetzt mit Macht für ein geeintes Europa, für die Überwindung nicht nur der politischen Grenzen, sondern vor allem auch der sozialen, der kulturellen und der wirtschaftlichen Barrieren streiten. Wenn wir das schaffen und wenn sich diejenigen, die Flucht und Vertreibung selbst erlebt haben, auch in diesem Sinne engagieren, können wir einen großen Schritt nach vorn tun. Ich meine, dann werden wir auch unserer historischen Verpflichtung gerecht. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Für seinen Redebeitrag erhält der Kollege Schwarzenholz bis zu zwei Minuten.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da mein Vater selbst aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten stammt, ist mir als Kind erklärt worden, ich sei Vertriebener, obwohl ich in Niedersachsen geboren bin. Ich habe versucht, zu begreifen, was dieser Generation geschehen ist. Man hat

uns als Kindern damals an den Schulen erklärt - das war offizielle Doktrin -: Es sind vorübergehend Gebiete abhanden gekommen, die wir uns wiederholen werden, die wir wiederbekommen werden. Das ist deutsches Staatsgebiet, und das wird auch entsprechend so gemacht. - Als ich als Jugendlicher in den 70er-Jahren in Polen war - das werde ich nie vergessen -, habe ich erlebt - das war der Zeitpunkt, als Willy Brandt in Erfurt war und von der DDR-Bevölkerung bejubelt wurde -, wie derselbe Willy Brandt von Vertriebenenfunktionären, die sich auf die Charta der Vertriebenen berufen haben, als Vaterlandsverräter und als Schuft, der die deutschen Ostgebiete verschenkt, beschimpft wurde und ein im wahrsten Sinne des Wortes revanchistisches Gedankengut von diesen Funktionären vertreten worden ist. Auch das ist Teil der historischen Wahrheit. Dies hat nichts damit zu tun, dass man das kleinredet, was den Vertriebenen geschehen ist, und zwar wie allen Opfern des Zweiten Weltkrieges, wie allen Opfern Hitlers - das muss man ganz deutlich sagen -, auch den Spätopfern Hitlers. Es gibt nicht ohne Grund eine Fernsehsendung, die von den letzten Opfern Hitlers spricht, wenn sie von den Vertriebenen redet. Aber wenn man über die Historie redet, muss man diese Zusammenhänge darstellen, und dann muss man auch den schmerzhaften Prozess darstellen, auch schmerzhaft für Polen und Tschechen, nämlich was es für sie bedeutet, wenn Deutsche in dieser Form die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges mit allen Folgen der neuen Vertreibung, die zum Teil angedacht waren, wieder umdrehen wollten.

Wobei mir sehr mulmig wird, ist, wenn ich den dritten Teil lese und gleichzeitig erlebe, dass über Österreich und zum Teil über Bayern eine sozusagen Benisch-Dekret-Debatte über FPÖ und andere Formen des Rechtspopulismus leider auch in Deutschland läuft und damit Bedingungen an die EU-Mitgliedschaft von Ländern gestellt werden, wobei eine Art Kniefall gegenüber Deutschland verlangt wird. Das ist eine sehr gefährliche Debatte, die es nicht geben darf.

Wir haben in Braunschweig bei der Versöhnung mit Polen mit dem Schulbuchinstitut, dem EckertInstitut, vorgemacht, wie man es machen kann. So muss es laufen. Wir müssen uns über die historischen Ereignisse in allen ihren Facetten verständigen. Dabei darf nichts beschönigt werden. Aber es darf auf keinen Fall der Eindruck erweckt werden - deswegen ist der Antrag für eine Beschlussfassung absolut ungeeignet -, als wenn sich in irgend

einer Form unsere östlichen Nachbarn bei Deutschland entschuldigen müssten. Das kann es nicht geben, das darf es nicht geben.

Das Wort hat Herr Minister Bartling. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Landesregierung wird den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU in der vorliegenden Form nicht unterstützen. Sie sieht ebenso wie die Bundesregierung keinen Anlass, den 5. August zum nationalen Gedenktag für die deutschen Opfer der Vertreibung zu erheben. Das gilt auch hinsichtlich der übrigen Teile des Entschließungsantrages der Fraktion der CDU.

Meine Damen und Herren, wir meinen, dass die Sichtweise, wie sie in dem Antrag zutage tritt, zu eng ist, die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte außer Acht lässt und daher nicht in die Zukunft gerichtet ist. Dabei verkennt die Landesregierung keinesfalls das schwere Schicksal, das die deutschen Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten erlitten haben. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Entschließung des Deutschen Bundestages aus dem Februar 1997 hin, in der die deutsche Öffentlichkeit an die schreckliche Zeit der Vertreibung erinnert wurde. Der Deutsche Bundestag gedachte dabei besonders der Millionen Menschen, die während Deportation, Flucht und Vertreibung ums Leben kamen oder schweren Schaden an Körper und Seele erlitten haben. In der Entschließung wurde festgestellt, dass die Vertriebenen durch ihr hartes Schicksal die Last der Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches in besonderer Weise tragen mussten und dass dieses die Solidarität aller Deutschen mit den Vertriebenen begründet. Auch der Bundeskanzler hat in seiner Rede zum Tag der Heimat 2000 im September 2000 in Berlin auf die Leiden der Vertriebenen besonders hingewiesen und sich dazu wie folgt geäußert:

„Vertreibung heißt in jedem Fall Not und Elend bis hin zum Tod, Verlust von Hab und Gut, brutales Abschneiden der historischen und kulturellen Wurzeln. Vertreibung, das hat die zivilisierte Völkergemeinschaft inzwischen mehrfach betont, lässt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung daran

kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.“

Meine Damen und Herren, im Übrigen ist auch die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom August 1950, auf die Frau Grundmann in ihrer Rede hingewiesen hat, ein Dokument des Friedens und der Versöhnung. Sie war auch deshalb von weit reichender Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzog und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete. Mit dieser Haltung haben sich die deutschen Heimatvertriebenen große Verdienste um Deutschland und Europa erworben. Sie haben dazu beigetragen, dass im zusammenwachsenden Europa das Wissen um die geschichtliche Wahrheit zu einer verbindenden Klammer wurde.

Meine Damen und Herren, Niedersachsen und die Landesregierung fühlen sich nach wie vor mit dem Schicksal der Vertriebenen eng verbunden. Das zeigt sich u. a. darin, dass das Land nach dem Krieg viele Vertriebene, insbesondere Schlesier, aufgenommen und integriert hat und viele Jahre Ausrichter und Förderland für das Deutschland-Treffen der Landsmannschaft Schlesien war. Das zeigt sich aber auch im Kulturpreis Schlesien, der vor 25 Jahren gestiftet wurde und zwischenzeitlich ein deutsch-polnischer Begegnungspreis geworden ist, der die deutsch-polnische Aussöhnung in besonderem Maße fördert.

Meine Damen und Herren, Vertreibungsunrecht gehört bedauerlicherweise nicht der Vergangenheit an. Auch heute findet die Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen statt. Weltweit sind 21 Millionen Menschen auf der Flucht. Man spricht vom 20. Jahrhundert als einem Jahrhundert der Vertreibungen. Erinnern wir uns nur an den widerlichen Euphemismus der „ethnischen Säuberungen“ hinsichtlich der Vertreibungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Gerade unsere eigene geschichtliche Erfahrung von verursachtem und erlittenem Vertreibungsunrecht verpflichtet uns Deutsche deshalb besonders, genau hinzuschauen und zu handeln, wenn Menschen - aus welchen Gründen auch immer - aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden sollen. Sie verpflichtet uns zu besonderer Wachsamkeit in der Gegenwart und in der Zukunft.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung weiß sich mit der Bundesregierung, der zivilisier

ten Völkergemeinschaft und den deutschen Heimatvertriebenen einig, dass das Verbrechen der Vertreibung, das in den Konventionen der Vereinten Nationen gegen den Völkermord weltweit geächtet ist, zu einem sanktionsbewehrten völkerrechtlichen Tatbestand gemacht wird.

Meine Damen und Herren, die Erklärung eines nationalen Gedenktages für die deutschen Opfer der Vertreibung hieße, den Blick national zu verengen und nach rückwärts zu richten.

(Beifall bei der SPD)

Das wäre zu kurz gegriffen. Das gilt auch für die anderen Forderungen der CDU-Fraktion. An das Vertreibungsschicksal der deutschen Vertriebenen wird bereits in vielfältiger Weise auf Bundes- wie auf Landesebene gedacht und erinnert. So ist z. B. der Tag der Einheit ein Tag des Erinnerns und des Gedenkens an die Tragödie der Flucht, Vertreibung und Deportation von Millionen Deutschen. An diesem Tag werden alljährlich die Dienstgebäude des Bundes beflaggt. Auch in Niedersachsen wurde am 1. September 2001 zum Tag der Heimat die Beflaggung der Dienstgebäude angeordnet.

Auch am Volkstrauertag, der bereits Erwähnung fand, wird unter Beteiligung des Bundespräsidenten der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht.

Die zentrale Mahn- und Gedenkstätte des Bundes in der Neuen Wache in Berlin dient auch dem Andenken der deutschen Vertriebenen.

Darüber hinaus beteiligt sich der Bund finanziell am Mahnmal der Vertriebenen auf dem Theodor-Heuss-Platz in Berlin.

Meine Damen und Herren, der Einführung weiterer Gedenktage und zusätzlicher Aktionen in Form von zentralen Gedenkveranstaltungen über die bereits bestehenden hinaus bedarf es aus Sicht der Landesregierung nicht. Das, was der Kollege Räke in Bezug auf Veranstaltungen zum Ausdruck gebracht hat, an denen wir vonseiten der Kommunen alle mitwirken, halte ich für den sinnvolleren und richtigeren Weg, dieser unserer Vertriebenen zu gedenken. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Ich schließe die Aussprache. Die weitere Beratung soll im Ausschuss für Bundes- und Europaangele

genheiten erfolgen. Wer so beschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Das wird dann so geschehen.

Ich bedanke mich für Ihre Mitarbeit und mache darauf aufmerksam, dass wir die Beratung morgen früh um 9 Uhr mit den Dringlichen Anfragen fortsetzen. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.

Schluss der Sitzung: 19.24 Uhr.