Protocol of the Session on May 10, 2000

Nur mit großer Mühe konnte im vergangenen Jahr die Verschlechterung der Lebenssituation für Schwerstbehinderte von den Oppositionsparteien und von den verschiedenen betroffenen Organisationen bezüglich der Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung verhindert werden. Dies war nicht gerade eine Glanzleistung der Landesregierung.

(Beifall bei der CDU)

Letztlich hat dazu natürlich auch die SPD-Fraktion im Sozialausschuss beigetragen. Die SPD-Sozialpolitiker haben den Entwurf der Landesregierung nicht befürwortet.

(Möllring [CDU]: Aber hier im Ple- num noch!)

Eine weitere Verschlechterung der Lebensperspektive der Behinderten wird sich durch die Änderung des Altenpflegeberufegesetzes bezüglich der Umlagefinanzierung im Rahmen der Verschlechterung der Pflegequalität älterer Menschen und Behinderter ergeben. Zwischenzeitlich ist in Niedersachsen eine katastrophale Situation einge

treten: Träger privater Altenpflegeschulen haben sich dazu entschlossen, zum 1. August 2000 keine Auszubildenden mehr einzustellen, weil sie nicht mehr wissen, wie sie diese Ausbildungsvergütung refinanzieren sollen. Das hat natürlich zur Folge, dass es in Niedersachsen zukünftig kaum noch ausgebildete Fachkräfte geben wird. Das wird sich natürlich auch auf die Pflegesituation der Behinderten auswirken.

(Frau Elsner-Solar [SPD]: Frau Jahns, Sie sind desorientiert!)

Meine Damen und Herren, hinsichtlich des Gesetzentwurfes der Grünen möchte ich ganz kurz auf Folgendes hinweisen, auch wenn Frau Pothmer vorhin angedeutet hat, dass die finanziellen Auswirkungen noch geprüft werden. Ich halte es aber für sehr wichtig, dass man über diese Angelegenheit auch noch in den Ausschussberatungen spricht. Es ist wichtig, dass man weiß, welche finanziellen Auswirkungen sich aus diesem Gesetzentwurf ergeben und wie sich die Auswirkungen insbesondere für die Kommunen darstellen, auch wenn wir bereits gestern in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ lesen konnten, dass das Finanzministerium die finanziellen Auswirkungen des Gesetzes mit 80 Millionen DM kalkuliert hat.

(Zustimmung von Eveslage [CDU])

Wir von der CDU-Fraktion werden im Rahmen der Beratungsphase noch einige Änderungen einbringen.

Lassen Sie mich noch darauf hinweisen, dass Folgendes, was ich Frau Pothmer jetzt schon einmal mitgeben möchte, sicherlich auch zu diskutieren sein wird: In § 11 des Gesetzentwurfes steht, dass für ausreichenden Versicherungsschutz der im Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit betroffenen Personen Sorge zu tragen ist. - Es ist noch nicht geklärt, wer dafür zu sorgen hat. Ich denke, dass auch dieses Thema zu diskutieren sein wird.

(Frau Pothmer [GRÜNE]: Das ist ja auch erst eingebracht und noch nicht verabschiedet!)

Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend noch eine kleine Bemerkung zu § 10 Abs. 2 Nr. 4 des Gesetzentwurfes anfügen. Danach sollen behinderte Frauen auf Wunsch persönliche Hilfen

nur durch Frauen erhalten können. Wenn es sich hierbei um ein Gleichstellungsgesetz handelt, ist damit meines Erachtens auch eine Gleichstellung zwischen Mann und Frau gemeint. Das heißt, dass auch behinderte Männer auf Wunsch persönliche Hilfen nur durch Männer erhalten können sollten, denn dies ist ja insbesondere ein Frauenberuf, und deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es auch Männer gibt, die diesen Pflegeberuf ausüben oder ähnliche Berufe ergreifen, damit auch die Männer ihre Wünsche entsprechend artikulieren können.

(Zustimmung von Möllring [CDU] und Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das waren die Ausführungen, die ich für meine Fraktion zu diesem Antrag der SPD und zu dem Gesetzentwurf gemacht habe.

(Frau Elsner-Solar [SPD]: Schwach!)

Ich sage der SPD-Fraktion: Sie haben die Chance, bei den Anträgen der CDU zur Pflege behinderter Menschen durch Zivildienstleistende und zur Gebärdensprache endlich etwas Konkretes zu tun und nicht nur diese Allgemeinplätze zu vertreten. Ich meine, dass Sie Ihren Antrag entweder zurückziehen oder ihn wenigstens nachbessern sollten. Danke.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Elsner-Solar.

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wenn Sie sich die Drucksachennummern der beiden Beratungsgegenstände dieses Tagesordnungspunktes anschauen, dann wird Ihnen sehr schnell klar, welche Fraktion hier nachgeklappt hat. Nur der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages mit der Gepflogenheit, Gesetzesentwürfe vor Anträgen zu beraten, haben es die Grünen zu verdanken, dass ihr Anliegen vor dem unseren steht. Genauso verhält es sich mit den folgenden Anträgen der CDU. Es ist vielleicht nicht so ganz verkehrt, wenn jetzt auch in den Parlamenten so eine Art Wettrennen um die Belange von Menschen mit Benachteiligungen einsetzt.

(Frau Harms [GRÜNE]: Wie lange lag denn der Gesetzentwurf?)

- Ich komme darauf gleich zurück, verehrte Frau Harms.

(Frau Harms [GRÜNE]: Nun sagen Sie es doch!)

Was mich an dieser Anordnung stört, ist, dass die Grünen wieder einmal den Eindruck vermitteln, sie seien an der Spitze der Bewegung. Nein, meine Damen und Herren. Insbesondere gerichtet an die Menschen mit Benachteiligungen und an ihre Verbände sage ich, dass das nicht der Fall ist. Wir in der SPD-Landtagsfraktion können und wollen es uns nicht so einfach machen wie die verehrten Kolleginnen von den Grünen. Ich möchte gar nicht darauf verweisen, was hier los wäre, würde z. B. die SPD-Landtagsfraktion einen Gesetzentwurf einbringen, der beispielsweise die Ansiedlung von Wirtschaft und Industrie zum Inhalt hätte und der von der Industrie- und Handelskammer geschrieben und von uns ungeprüft übernommen worden wäre. Ich würde gern einmal erleben, wie Sie dann argumentieren würden. Von Lobbyismus pur, der nun die Parlamente erobert hätte, sinkender politischer Kultur und sonstigen Dramen wäre hier mit Sicherheit die Rede.

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllring?

Nein. Ich möchte im Zusammenhang vortragen.

Bitte schön.

Ich will dieses Thema auch gar nicht erst lange vertiefen, sondern insbesondere für die Menschen draußen, die uns beobachten und beurteilen, Folgendes verdeutlichen.

(Anhaltende Zurufe von der CDU - Frau Harms [GRÜNE]: Seit wann sind Beauftragte der Landesregierung Lobbyisten?)

- Herr Präsident, könnten Sie bitte einmal für Ruhe sorgen?

Sie müssen einfach weiterreden. Die beruhigen sich schon.

(Heiterkeit)

Ich versuche es. - Die Aufgabe von Politik ist nach meiner Meinung, vorgetragene Problemlösungen und stünden noch so berechtigte Einzelinteressen dahinter - mit den Interessen anderer zu vergleichen. Aus diesem Abwägungsprozess, dieser Diskussionsnotwendigkeit mit den unmittelbar Betroffenen - und hier zähle ich zu den Menschen mit Benachteiligungen auch diejenigen Institutionen, die unsere Gesetze umsetzen müssen - eine mangelnde Unterstützung oder gar mangelndes Interesse für das Anliegen des Behindertenbeauftragten der SPD-gestützten Landesregierung zu konstruieren, werte ich nach wiederholter Äußerung, Kollegin Pothmer, inzwischen als böswillige Unterstellung.

(Frau Zachow [CDU]: Das war aber hart!)

Vielleicht kann mancher von uns Ihnen diesen Ausrutscher nachsehen, weil Sie erfahrungsgemäß nicht gewohnt sind, breite Wählerschichten anzusprechen und viele Menschen mit auf den Weg zu nehmen. Ich will Ihnen insoweit auch gar keinen Nachhilfeunterricht erteilen. Ich bin ganz froh darüber, dass die Dinge so liegen. Aber ich möchte Sie dringend auffordern, auf den Boden der Realität zurückzukehren und diese Profilierungsversuche am untauglichen Objekt oder - besser gesagt mit untauglichen Argumenten zu unterlassen.

(Frau Pothmer [GRÜNE]: Seien Sie doch nicht so beleidigt!)

Meine sehr verehrten Herren und Damen, ich bitte um Verzeihung für diese lange Vorbemerkung; doch ich habe mich am letzten Freitag beim Aktionstag der Menschen mit Benachteiligungen schon sehr über das polemische Auftreten meiner Landtagskollegen von den Grünen geärgert. Nachdem die Presse das gestern wieder aufgegriffen hat,

(Frau Harms [GRÜNE]: Ärgern Sie sich noch mehr! - Zuruf von Frau Pothmer [GRÜNE])

tut meiner Ansicht nach Aufklärung Not.

Um auf die Sachdiskussion zurückzukommen: Worum geht es? Mauern einreißen und Barrieren beseitigen. Dieses Motto des jüngsten Aktionstages der Benachteiligten ist auch unser Motto, meine Herren und Damen, und das nicht erst seit diesem Jahr. Doch etwas ist neu bei diesen Aktionen insbesondere für die Fürsorgenden unter uns, die einen Teil ihres beruflichen oder politischen Wirkens oft über viele Jahre in den Dienst der Hilfe oder der Förderung von Menschen mit Behinderungen - besser gesagt: Menschen mit Benachteiligungen - gestellt haben: Das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft und Integration in die Gesellschaft steht in diesem Jahr unter der Forderung nach einem Gleichstellungs- bzw. Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit Benachteiligungen. Zwar symbolisch, aber sehr eindrücklich demonstriert wurde dieser andere Ansatz der Gruppen, die sich zur Information und Diskussion auf dem Marktplatz hier in Hannover getroffen haben. Sie nahmen diese Arbeit auch in Ihre eigenen Hände. Sie zerstörten die dort aufgebaute Mauer und warteten nicht darauf, dass jemand von uns käme und sie Ihnen aus dem Weg räumte, genauso wie unser Behindertenbeauftragter, der die Zeit reif sieht für neue, weitere Schritte auf dem Weg zur Emanzipation.

Auch wir in der SPD-Fraktion nehmen wahr, dass die vielen freiwilligen Schritte und Bemühungen um Integration von Menschen mit Benachteiligungen in Politik und Gesellschaft die Ausgrenzung nicht endgültig beseitigen. Immer wieder stärken Kostenfragen alte Barrieren oder verhindern normalen Zugang zu öffentlichen Gebäuden, Verkehrsmitteln, Einrichtungen, ja oftmals sogar zu Bildung, Beruf und gesellschaftlichem Leben. Hierbei jedoch Ignoranz oder gar böswillige Absicht zu unterstellen, ist infam.

Es gibt ein differenziertes Hilfesystem auf der Ebene von Bund, Ländern und Gemeinden. Wir geben den größten Teil der Haushaltsmittel in der Sozialpolitik für die Förderung für Menschen mit Benachteiligungen aus. Ist das nicht genug, ist das nicht hervorragend? Das fragt sich da mancher Zeitgenosse oder manche Zeitgenossin aus anderen Politikfeldern und mit Blick auf andere Weltgegenden. Betrachtet man diese Entwicklung des Verhältnisses unserer nicht benachteiligten Mitglieder der Gesellschaft zu den benachteiligten, so lässt sich feststellen, dass nach den gesellschaftlichen Aufbauaktivitäten der 50er-Jahre mit dem InKraft-Treten des BSHG im Jahre 1961 die spezielle Förderung von Menschen mit Behinderun

gen durch gesetzliche Grundlagen möglich wurde und nicht nur barmherziger Aktivität von Kirchen und Stiftungen überlassen blieb. Das folgende Jahrzehnt entwickelte Fachlichkeit und Förderprogramme, die niemandes Kompetenz in der erstmals zurückgehenden Bevölkerung ungenutzt lassen wollte, und begünstigte die Mobilisierung finanzieller Mittel für Bildung und Qualifizierung in einem vielfältigen Hilfesystem. Zunehmend wurde in diesem differenziert ausgebauten Hilfesystem deutlich: Es beschäftigte und befriedigte eine Menge Menschen, nicht jedoch in ausreichender Weise die Menschen, denen Förderung und Fürsorge galt. Unter dem Slogan „Behindert ist man nicht, behindert wird man“ wurden die unerwünschten Ausgrenzungsmechanismen der positiv angelegten Fördersysteme deutlich. Nunmehr werden aus Sorgenkindern Menschen, aus Behinderten werden Benachteiligte, sodass alle, die heute Mauern einreißen und Barrieren beseitigen wollen, an einem Punkt stehen, an dem es heißt, sich neu zu orientieren.

Eine wichtige Aufgabe - von uns angeregt und durch einstimmigen Landtagsbeschluss auf den Weg gebracht - wird es in Niedersachsen sein, die geteilte Kostenträgerschaft der finanziellen Leistungen in der so genannten Behindertenhilfe zu beseitigen, damit neue Formen von integrativen Förderangeboten nicht länger am Finanzmangel einzelner Kommunen scheitern müssen. Wie weit dann noch gesetzliche Neuregelungen notwendig wären, hätte ich gerne schon jetzt gewusst. Daher bleibt festzustellen, dass die andere Säule der Akzeptanz noch in der Schaffung von spezialgesetzlichen Grundlagen gesehen werden kann.

Wir haben in den vielen Jahren gesellschaftlichen Lebens in der Bundesrepublik lernen müssen, der Aufmerksamkeit, die Problemlagen gewidmet war, in der Regel gesetzliche Grundlagen zur Problemlösung folgen zu lassen. Obgleich die SPDgeführte Landesregierung und die sie stützende Mehrheitsfraktion in ihren Haushaltsentscheidungen immer wieder Finanzmittel auch ohne gesetzlich festgelegte Notwendigkeit für integrative und selbstbestimmte Ansätze der Bildung und Förderung von Menschen mit Benachteiligungen gesichert hat, stellt diese Art von Freiwilligkeit eine nicht geringe Hürde im Verteilungskampf um knappe finanzielle Ressourcen dar, sodass ganz entschieden die Notwendigkeit verfolgt wird, durch gesetzliche Neuregelungen zu verbesserten Lösungen zu kommen. Mit den anderen Fraktionen

werden wir uns um das Wie streiten, genau wie auf Bundesebene, und das ist gut so.

Die SPD-Fraktion diskutiert seit 1994, seit der Aufnahme des Benachteiligungsverbotes in die Bundesverfassung, ob unser gemeinsames Ziel der Teilhabe, Integration und Akzeptanz von Menschen mit Benachteiligungen in und an der Gesellschaft durch konkrete gesetzliche Vorgaben Stichwort „Antidiskriminierungsgesetz“ - besser zu erreichen sei als durch Einzelschritte oder Einzelaktivitäten. Ich stelle fest: Wir befinden uns noch in der Meinungsfindung und stehen in der Republik keineswegs alleine da. Einzig das Land Berlin hat ein entsprechendes Gesetz in Kraft gesetzt. Das wirkt allerdings so dünn, dass man sich überlegen sollte, ob die Mühen im Verhältnis zum Aufwand stehen.

(Frau Litfin [GRÜNE]: Einfach in Niedersachsen ein dickeres machen!)

Da der Weg der gegenseitigen Geduld keine Einbahnstraße ist, bitte ich um Verständnis dafür, dass insbesondere wir in der SPD-Fraktion die vorliegenden Vorschläge mit den Vorschlägen der Bundesregierung abgleichen wollen, dass wir mit unseren Vorschlägen einen weit angelegten Diskurs einleiten wollen und dass wir diesen in Ruhe führen wollen.