Sie haben auch gesagt, warum sie dagegen sind. Ich möchte jetzt ein neues Argument in Ergänzung zu den Argumenten anführen, die wir heute Morgen schon gehört haben. Ein zentrales Argument war: In der geschlossenen Heimunterbringung gibt es irgendwann - nach einem Vierteljahr, nach einem halben Jahr - den Übergang von der geschlossenen in die offene Unterbringung innerhalb der Einrichtung. Da wechseln für die Jugendlichen die Personen, die Bezugsmenschen. Dabei wechseln für die Jugendlichen die Menschen, die für sie verantwortlich sind. Auch die Gleichaltrigen, mit denen sie in einer Gruppe waren, wechseln. Von daher waren sich alle darüber einig, dass die geschlossene Unterbringung als Dauerkonzept keine Lösung ist.
Sehr wohl aber haben die Sachverständigen gesagt - das ist der Punkt -, dass es einen Bedarf dafür gibt, ein Kind für eine kürzere Frist „aus dem Verkehr zu ziehen“, weil es sich mit seinem Verhalten in der Öffentlichkeit selbst gefährdet und weil es für andere gefährlich ist. Dafür brauchen wir Lösungen. - Das war das Konzept, dem Frau Merkel und ich am Ende der Veranstaltung in einer Podiumsdiskussion uneingeschränkt zugestimmt haben. Von daher brauchen wir einige wenige Einrichtungen, die das realisieren können, was man „Krisenintervention“ nennt. Wir brauchen aber nicht ein Konzept, das es Richtern ermöglicht, Kinder und Jugendliche - insbesondere Kinder, um die es heute ja geht - für ein Jahr oder zwei Jahre hinter Gitter zu bringen, damit sie dort richtig erzogen werden. Hier gelten die Gefahren, von denen der Ministerpräsident vorhin gesprochen hat, nämlich die Gefahr der Ansteckung, vor allem aber auch die Gefahr, wegzulaufen; denn in dem Augenblick, in dem sie aus der geschlossenen in die offene Phase übergehen, ist der Freiheitsdrang so gewaltig - es sind ja neue Menschen für sie zuständig -, dass ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen diese Phase zur Flucht nutzt. Dann ist alle Mühe vergebens gewesen. Das war der Hauptgrund für Herrn Professor Remschmidt, zu sagen, dass auch er ebenfalls gegen das Konzept Dauererziehung unter geschlossenen Rahmenbedingungen votieren wird.
Ich möchte jetzt noch einmal auf Stadthagen eingehen, weil ich an diesem Beispiel so schön konkretisieren kann, was die Landesregierung unternimmt. Wir reden nicht nur davon, dass wir die Ächtung von Gewalt stärken wollen, dass wir die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag stärken wollen, dass wir die Lehrer stützen wollen, sondern wir tun dies auch. Ich möchte das am Beispiel dessen, was in Stadthagen gerade läuft, einmal konkretisieren.
Als Erstes stand die Analyse der Situation vor 200 Zuhörern an. Herr Pörtner war dabei. Er wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass es eine ehrliche und offene Debatte war, in die sich alle eingebracht haben. Darauf gestützt haben wir gesagt: Als Erstes müssen wir die Kultur des Hinschauens an dieser Schule stützen. Dann kamen gleich die Forderungen: Wir wollen das aber auch an anderen Schulen. Darauf habe ich gesagt: Mit einem gemeinsamen Ausbildungskurs, der zu 80 % von der Landesregierung finanziert wird, stärken wir die Kultur des Hinschauens an Schulen in Stadthagen.
Ich weise darauf hin, dass das schon in ganz vielen Städten und Landkreisen des Landes läuft. Von wem wird es finanziert? - Selten von uns, von der Landesregierung, oft von den Kommunen, aber auch - das freut mich besonders - von Lions Clubs, von Rotary Clubs, von Bürgerstiftungen. Da haben die Bürger erkannt, dass es auch ihre Sache sein muss, die Schulen in dieser Kultur des Hinschauens zu stärken, und wir sind mit dabei.
Ein weiterer Punkt: Schule schwänzen. Das ist ein ernstes Thema. Wir haben im Landtag schon einmal darüber debattiert, und ich verweise kurz noch einmal darauf. Von Schulschwänzern geht etwa viereinhalb mal mehr Gewaltkriminalität aus als von Nichtschwänzern.
Gleiches gilt in Bezug auf Ladendiebstahl. Was machen wir? - Wir haben ein Programm entwickelt, das bereits konkret in vier Regionen umgesetzt wird, in der Region Osnabrück, in Delmenhorst, in Hannover und im Landkreis Friesland. Jetzt kommt es auch in Stadthagen - das Angebot habe ich den Schulen dort gemacht - zu dieser Kooperation von Schule, Jugendhilfe und Polizei und damit zu einem konkreten Bemühen, das Schuleschwänzen deutlich zu reduzieren,
weil wir wissen, dass das der richtige Ansatzpunkt ist, weil wir hier Möglichkeiten erkennen, die gefährdeten Jugendlichen aus der großen Gruppe herauszufischen, ohne dass wir Fehlgriffe tun, und sich intensiv um sie zu kümmern.
Wenn einer schwarz arbeitet, statt in die Schule zu gehen, wird ihm durch ein Bußgeld der finanzielle Vorteile wieder genommen.
- Bei Zwölfjährigen ist das Schuleschwänzen anders motiviert, aber auch das gibt es. Dann gibt es ein konkretes Kümmern, und zwar durch mehr Kontrolle und durch die Polizei als Partner, die in diesen Regionen Kinder und Jugendliche konkret anspricht, die sich während der Schulzeit herumtreiben und ersichtlich nicht auf dem Rückweg vom Arzt sind, sondern auf dem Hinweg zum „Abenteuerspielplatz Kaufhaus“ oder was immer sie im Kopf haben. Die Polizei ist Partner für diese Kinder. Sie führt diese Kinder der Schule zu und informiert die Eltern, so wie es die Schule am selben Tag auch noch macht. Das ist konkrete Prävention.
Nun haben wir aber festgestellt - Herr Pörtner wird sich erinnern -, dass es in Stadthagen - und nicht nur dort, sondern an vielen Orten in Niedersachsen - ein konkretes Problem mit den Einwandererkindern gibt. In Stadthagen sind es konkret die Türken, anderswo sind es die Aussiedler oder wieder andere. In Stadthagen sind die 50 Täter an der Schule - oder besser gesagt: die 50 Tatverdächtigen, weil die Ermittlungen noch nicht komplett abgeschlossen sind - mehrheitlich Türken. Türken sind aber auch unter den Opfern massiv vertreten.
An dem Abend ist deutlich geworden: Zur Analyse des Problems brauchen wir eine Sonderveranstaltung mit den türkischen Eltern. Was haben wir getan? - Die Amtsgerichtsdirektoren und der Leitende Staatsanwalt schreiben Briefe an alle Eltern dieser 50 Jugendlichen. Am 14. Oktober geht es zur Sache. Darüber hinaus lädt der türkische Elternverein alle türkischen Eltern ein. Ich lade dazu alle ein, die von den Behörden her zuständig sind. Wir werden an diesem Abend konkret darüber diskutieren, wo speziell die Probleme bei den jungen Türken liegen, angefangen beim Kindergartenbesuch. In der letzten Woche ist schon deut
lich geworden, dass viele türkische Kinder erst im Alter von vier oder fünf Jahren in den Kindergarten kommen. Das muss sich ändern. Wie ändern wir es landesweit? - Das Sozialministerium hat eine Broschüre über die Notwendigkeit und die große Bedeutung des Kindergartenbesuchs für den Spracherwerb gedruckt.
Diese Broschüre geht in Stadthagen und landesweit in türkischer Sprache und in anderen Sprachen an die Eltern ausländischer Kinder. Das ist der richtige Weg, um die Eltern davon zu überzeugen, den Kindergarten als Sprachschule zu nutzen, damit ihre Kinder nicht langsam und benachteiligt in der Grundschule starten.
Ein weiterer Punkt: Im Sozialministerium stehen für ein Programm für Toleranz und gegen Gewalt 500 000 Euro zur Verfügung. Bei den Bezirksregierungen können entsprechende Anträge gestellt werden. In Stadthagen werde ich Schulen, Jugendhilfe und Sportvereine dazu aufrufen, gemeinsam Anträge zu stellen für tolle interkulturelle Konzepte, die Jugendliche miteinander verzahnen, die auch Selbstverteidigungskurse und anderes beinhalten können. Mal sehen, ob sie darauf anspringen.
Ferner: Die Landesregierung legt gemeinsam mit dem Kinderschutzbund, der Sparda-Bank und dem Radio 21 landesweit ein Programm auf, mit dem 10 000 Eltern dafür interessiert werden sollen, an Elternschulen teilzunehmen. Auch das wird in Stadthagen angeboten werden.
Des Weiteren: Es gibt das vorrangige Jugendgerichtsverfahren, das wir kürzlich mit allen Leitenden Staatsanwälten und Polizeibeamten vereinbart haben. Ziel ist, innerhalb von vier Wochen nach der Tat oder in komplizierteren Fällen spätestens vier Wochen nach Ende der Ermittlungen ein Jugendgerichtsverfahren durchzuführen. Zu meiner Freude haben die Staatsanwälte und Polizeibeamten gesagt: Das schaffen wir schon landesweit und nicht nur, wie ich dachte, in einigen Bezirken. In Stadthagen wird es das erste Beispiel geben. Das erste vorgezogene Jugendgerichtsverfahren, das ich kenne, läuft Anfang Oktober gegen den Jugendlichen, der gegenwärtig in U-Haft sitzt, weil er in dieser Schule so massive Gewalttaten begangen hat.
Außerdem: Wir haben seit dem 1. August landesweit eine spezialisierte Jugendbewährungshilfe. Wenn in dem Verfahren in Stadthagen eine Bewährungsstrafe ausgesprochen wird, hat der Jugendliche den Vorteil, dass er auf einen Bewährungshelfer mit geringerer Fallzahl trifft, der auf junge Menschen spezialisiert ist, der mit der Jugendhilfe eng zusammenarbeitet und der dadurch Möglichkeiten hat, konkret etwas zu entwickeln.
Zu all dem, was ich berichtet habe, sagen Sie vielleicht: Na ja, da ist der Minister mal hingefahren. Nein, das ist ein Modell für jeden unserer 130 kommunalen Präventionsräte, die aufgefordert sind, ähnlich konkret vorzugehen, wie wir, der Direktor und ich, das jetzt gemeinsam mit dem türkischen Elternvertreter in Stadthagen machen. Solche Veranstaltungen können überall stattfinden, wenn sich zeigt, dass es mit einer Gruppe konkrete Probleme gibt. Wir brauchen alle im Boot, um ein vernetztes Angebot von Jugendhilfe, Schule, Strafverfolgung und Eltern zu organisieren.
Sie haben in Ihrem Entschließungsantrag erneut gebetsmühlenartig wiederholt: möglichst viele Heranwachsende nach allgemeinem Strafrecht.
Ich weise noch einmal darauf hin: Das wäre unsinnig, denn das allgemeine Strafrecht bietet wesentlich weniger Optionen. Für einen, der nicht ins Gefängnis kommt, ist das Jugendstrafrecht eindeutig differenzierter. Nehmen wir einen Heranwachsenden, der arbeitslos ist: In einem solchen Fall kann der Jugendrichter nach Jugendstrafrecht sagen, er soll vier Wochen gemeinnützig arbeiten, er soll in einen sozialen Trainingskurs gehen, wo er lernt, sich um Arbeitsstellen zu bewerben. Diese Möglichkeiten hat ein Erwachsenenrichter nicht. Und milder ist das Jugendstrafrecht ganz bestimmt nicht, mit Ausnahme der ganz wenigen Fälle von vorsätzlichen Tötungsdelikten, bei denen in der Tat der Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts anders ist. Das JGG gibt dem Richter gegenwärtig weite Spielräume. Ich bin dagegen, dass wir daran irgendetwas ändern. Das JGG hat sich bewährt. Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Minister Pfeiffer, Herr Wulff möchte eine Zwischenfrage stellen. - Der Herr Minister wird sie noch beantworten. Bitte sehr!
Ich frage Sie, ob Sie dem Parlament den RegelAusnahme-Mechanismus zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht erläutern können - niemand will am JGG etwas ändern - und ob Sie erläutern können, wo im Ausnahmefall Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist.
Herr Abgeordneter Wulff, Sie wissen auch, dass Richter unabhängige Menschen sind. Wenn sie das JGG so anwenden, dass in Niedersachsen 70 % der Fälle von Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht behandelt werden, dann halte ich das für nachvollziehbar. Ich kritisiere es nicht. Ich befürworte aber im Ergebnis, dass die Flexibilität des Jugendstrafrechts genutzt wird, und ich meine, wir können es den Jugendrichtern gut überlassen, wie sie § 105 JGG auslegen. Sie sind in den letzten 50 Jahren damit bestens klar gekommen und werden das auch in Zukunft tun.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion nimmt das Thema sehr ernst. Ich finde, die fast zweistündige Fragestunde und die Debatte heute Morgen mit den Aussagen des Ministerpräsidenten und mit den Aussagen von Frau Dr. Trauernicht, Herrn Dr. Pfeiffer und Frau Kultusministerin Jürgens-Pieper haben deutlich gemacht: Wir packen die Probleme energisch an. Wir sehen zu, dass wir konsequent handeln. Wir betrachten die Probleme differenziert, und wir achten auf die Zuständigkeiten.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, meine Damen und Herren: Zuständig für die Kinder, über die wir hier diskutieren, sind ohne Zweifel die örtlichen Jugendbehörden bei den kreisfreien Städten und bei den Landkreisen, die sozialen Dienste und die Jugendämter. Ich empfand es
überhaupt nicht als schlimm, dass dort, wo bisher diese Fragen augenscheinlich nicht so ernst genommen wurden, deutlich gemacht wurde: Liebe Leute, schaut doch bitte mal genauer hin! Wenn ein Kind ein Register von fast 50 Straftaten hat, auch wenn es noch nicht strafmündig ist, und es nicht dazu gekommen ist, dass Jugendamt, Schule, Elternhaus, Polizei und andere relevante gesellschaftliche Kräfte zusammenarbeiten, muss dort ein Netzwerk gebildet werden, um darüber zu reden: Wie können wir diesem Kind helfen, um es vor einer kriminellen Karriere schützen? Wie können wir gleichzeitig insbesondere aber auch die Opfer unter Schutz stellen und den Opfern helfen?
Wenn das alles nicht passiert ist, dann ist es doch richtig, dass der Ministerpräsident gesagt hat: Liebe Freunde in Hannover und in anderen Bereichen, so geht das nicht weiter. Wir müssen mit euch darüber reden, wie wir euch beraten und unterstützen können, wie dieses Thema mehr als bisher ernst genommen werden kann.
Meine Damen und Herren, wir bieten ja nicht nur vom Landesjugendamt den gesetzlich vorgesehenen Rat und die Unterstützung an, sondern wir legen auch bares Geld auf den Tisch. Das Land Niedersachsen unterstützt die Heimunterbringung in Niedersachsen seit Jahrzehnten zu 30 %. Das sind in diesem Jahr 90 Millionen Euro oder knapp 180 Millionen DM. Jede Heimunterbringung wird also durch das Land zu 30 % mitfinanziert. Wir befinden uns dabei in einem Ausnahmezustand. Die meisten der 16 Bundesländer leisten keine Unterstützung in dieser Form. Jedes Kind, das für 250 Euro pro Tag in ein Heim geschickt worden wäre, wäre zu 30 % durch das Land bzw. die Kommune unterstützt worden. Außerdem wollen wir 100 DM pro Tagessatz dazugeben. Es wären also über 50 % der Summen durch das Land aufgebracht worden, wenn die Jugendämter einen entsprechenden Antrag an das Gericht gestellt und eine Heimunterbringung auf den Weg gebracht hätten. Aber es gab diese Fälle nicht. Es gab gar
Meine Damen und Herren, wer sich die Angebote genauer ansieht, wird feststellen, dass vier von 16 Bundesländern Plätze in geschlossener Heimunterbringung haben: zwei sozialdemokratisch regierte, nämlich Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, und zwei christdemokratisch bzw. CSU-geführte Bundesländer, nämlich Bayern und Baden-Württemberg. In Hessen sitzt Herr Koch, der Oberhardliner der CDU. Dort gibt es kein Angebot an geschlossener Heimunterbringung. Trotzdem regelt Hessen seine Jugendhilfe genauso gut wie andere Bundesländer. Es ist also überhaupt nicht erforderlich, dass jedes Bundesland in diesem Bereich tätig wird und Plätze vorhält, die am Schluss überhaupt nicht genutzt werden, weil keine entsprechenden Anträge gestellt werden.
Meine Damen und Herren, wir haben deutlich gemacht, dass wir die zeitlich befristete Inobhutnahme mit einer guten pädagogischen und therapeutischen Betreuung der Kinder wollen. Das ist notwendig. Wir müssen aber darüber nachdenken, wie es eigentlich vor der Situation, in der ein Kind überhaupt erst in der Form vom Jugendamt betreut werden muss, aussieht.
Ich möchte vorher noch einmal zurückgreifen, um deutlich zu machen, wo die Unterschiede liegen. Herr Wulff, ich muss Sie damit konfrontieren, was Sie am 15. Juli 1998 hier im Landtag gesagt haben. Damals hat Frau Jürgens-Pieper in ihrer Eigenschaft als Kultusministerin zum gleichen Thema Folgendes vorgetragen: