Protocol of the Session on April 23, 2002

Ich kann nahtlos an die letzten Sätze meines ersten Beitrags anknüpfen. Die beiden großen Fraktionen geben sich wieder Mühe, sozusagen diejenigen, die sich im Land durch Fehlverhalten bekannt gemacht haben, zu decken. Herr Möllring, Sie sollten etwas präziser mit der Sachlage in Hildesheim umgehen. In diesem Fall scheinen Sie zu denjenigen zu gehören, die in der Tat sehr viel wussten. Jedenfalls kenne ich kein Dementi von Ihnen zu einer Aussage von Herrn Machens. Dazu zitiere ich jetzt die Hildesheimer Zeitung: Es sei ihm von beiden Firmen insgesamt eine Größenordnung für die Spenden von 1 Million DM in Aussicht gestellt worden. Darüber habe er Oberstadtdirektor Dr. Conrad Deufel, CDU-Stadtverbandschef Christof Engelke und CDU-Fraktionschef Hartmut Möllring in einem Achtaugengespräch informiert. Dass dieses Geld in Hildesheim war, wussten Sie.

(Möllring [CDU]: Lesen Sie doch o- ben! Da werde ich zitiert! Da steht, dass ich es erzählt habe!)

- Herr Möllring, Sie wussten das. Sie sind informiert worden. Meiner Meinung nach sollte sich ein Fraktionsvorsitzender dafür interessieren, was mit einer solchen Summe gemacht wird.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Ich meine, so, wie Sie sich in der Aufklärung im Fall Glogowski engagiert haben, sollten Sie auch in der Affäre in Hildesheim konsequent sein.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Punkt liegen nicht vor.

Wir kommen damit zu

c) Freiwillige vor! - Gesellschaftliches Engagement fördern statt erzwingen - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 14/3306

Das Wort hat Frau Kollegin Pothmer.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsklage eines Totalverweigerers hat zum Wiederaufleben der politischen Debatte über die Zukunft des Wehrdienstes und damit auch über die Zukunft des Zivildienstes geführt. Aber diese Debatte gleicht, wie ich finde, ein bisschen einem Tanz um Tabus. Kanzler Schröder, sein Verteidigungsminister Scharping, aber auch Kanzlerkandidat Stoiber wiederholen gebetsmühlenartig, es bleibe bei der Wehrpflicht. Die Realitäten sind jedoch anders. Ministerpräsident Gabriel, Sie wissen natürlich, dass die Wehrpflicht und damit auch der Zivildienst früher oder später fallen werden. Das ist aus meiner Sicht auch der Grund dafür, dass Sie und seit geraumer Zeit auch der Innenminister die Forderung nach der Einführung eines sozialen Pflichtjahres gestellt haben.

Ich finde, dass sich hinter dieser Forderung eine wichtige gesellschaftspolitische Frage verbirgt, nämlich: Wie können wir in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft Selbstentfaltung und soziale Verpflichtung zusammenbringen, und wie können wir das entwickeln? - Wir alle wissen: Soziale Rücksicht und soziales Engagement sind keine Ressourcen, die von selber nachwachsen. Dieser soziale Muskel einer Gesellschaft muss trainiert werden.

Ich glaube, dass wir im Ziel gar nicht so weit auseinander liegen. Es geht uns um eine soziale Bürgergesellschaft, in der sich die Bürgerinnen und Bürger nicht nur als Steuer- und Beitragszahler und als Anspruchberechtigte empfinden, sondern in der sie sich für die soziale Qualität ihrer Gesellschaft interessieren und engagieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber, meine Damen und Herren, die Antwort auf die Forderung nach der Abschaffung des Wehrund Zivildienstes darf doch kein neuer Zwangsdienst sein, sondern die Antwort muss der konsequente Ausbau der freiwilligen sozialen Dienste sein.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Bravo!)

Es geht nicht um das Pflichtjahr. Es geht vielmehr um die Verpflichtung des Staates, für jeden jungen Menschen, der einen sozialen Dienst verrichten will, entsprechende Angebote zur Verfügung zu

stellen. Eine Entscheidung über staatlichen Zwang in dieser Frage bedeutet aus meiner Sicht, auf eine wichtige aktuelle politische Frage eine vormoderne Antwort zu geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Pflichtjahr passt schlicht nicht zum Konzept einer Zivilgesellschaft. Gemeinsinn lässt sich nun einmal nicht obrigkeitsstaatlich verordnen. In Niedersachsen brauchen wir vor allem den Ausbau der freiwilligen Dienste. In diesem Bereich gibt es in Niedersachsen ganz erhebliche Defizite. Solange in unserem Bundesland Jahr für Jahr junge Menschen zurückgewiesen werden, die sich freiwillig engagieren wollen,

(Beifall bei den GRÜNEN - Frau Harms [GRÜNE]: Da hat sie Recht - Frau Pawelski [CDU]: Das ist so!)

und zwar in großer Anzahl, haben Sie, Herr Ministerpräsident, und ihr Innenminister jede Legitimation verloren, den jungen Menschen ein soziales Pflichtjahr abzuverlangen.

(Frau Pawelski [CDU]: So ist es!)

Auch in Niedersachsen kommen auf einen Platz im Bereich des Freiwilligen Ökologischen Jahres ungefähr fünf Bewerbungen. Auf einen Platz im Bereich des kulturellen Jahres kommen weitaus mehr Bewerbungen, nämlich ungefähr zehn. Grundsätzlich anders sieht es auch nicht im Bereich des Freiwilligen Sozialen Jahres aus. Das Taschengeld für den Bereich des Freiwilligen Ökologischen Jahres ist seit 1987 nicht mehr angehoben worden mit der Konsequenz, dass sich dieses Freiwillige Ökologische Jahr nur die Jugendlichen leisten können, deren Eltern das auch bezahlen können. Es gibt in diesem Bereich eine soziale Selektion, die sich diese Gesellschaft bei weitem nicht leisten kann.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich finde, dass Sie in der Debatte um das Pflichtjahr nichts anderes tun, als von Ihren eigenen Verantwortlichkeiten abzulenken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn Sie dann auch noch, Herr Ministerpräsident, diesen Zwangsdienst den Frauen abverlangen wollen, dann wird doch damit die Gerechtigkeitslücke, die es zwischen Männern und Frauen in dieser Gesellschaft gibt, nur noch größer.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir alle wissen doch, dass der Sozialdienst der Kindererziehung nach wie vor zu 98 % von Frauen geleistet wird und dass es die Frauen sind, die sich um die Pflege von alten Menschen kümmern. Wie weit sind Sie eigentlich von der Lebensrealität der Frauen in diesem Lande entfernt, dass Ihnen dazu nichts anderes einfällt, als den Frauen diese Verpflichtung auch noch aufzubürden?

(Frau Harms [GRÜNE]: Zu weit! Lichtjahre!)

Meine Damen und Herren, ich finde, Ihre Aufgabe als Ministerpräsident dieses Landes ist es, die Gerechtigkeitslücke zwischen Männern und Frauen zu schließen und sich Wege, Strategien und Möglichkeiten zu überlegen, wie das geht. Ein Pflichtjahr auf Frauen auszudehnen, ist konsequent der falsche Weg. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Wort hat der Herr Ministerpräsident

(Frau Pawelski [CDU]: Aha!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich direkt nach der Kollegin Pothmer zu Wort gemeldet, damit nicht eine Behauptung im Raum stehen bleibt. Sie und auch die CDU behaupten, ich hätte am 7. April in der Bild am Sonntag ein Pflichtjahr auch für Frauen gefordert. Das ist schlicht falsch. Ich kenne ja solche Versuche, Äußerungen in die Welt zu setzen. Die CDU versucht das seit Monaten bei dem Thema Lehrer, und zwar ohne jeden Beleg dafür.

(Zuruf von Klare [CDU])

Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass am Ende Leute an ihre eigenen Legenden glauben, schlage ich Ihnen vor, dass Sie mir ein einziges Zitat aus meinem Namensartikel bringen.

Die Überschrift, die die Bild am Sonntag gewählt hat, stammt selbstverständlich nicht von mir. Übrigens liegt der Ursprungstext der CDU-Fraktion vor. Es ist ausdrücklich gesagt worden - das ist auch meine Position -, dass ich mir, solange eine derartige Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit gegenüber Frauen existiert, überhaupt nicht vor

stellen kann, einen Wehr- oder Zivildienst oder ein soziales Pflichtjahr für Frauen zu schaffen.

(Beifall bei der SPD)

In dem Namensartikel in Bild am Sonntag wird es der CDU schwer fallen - außer dem Versuch, die Überschrift zu instrumentalisieren -, auch nur ein Wort dazu zu finden.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Wie heißt die Überschrift? Machen Sie doch mal ein paar Überschriften!)

- Entschuldigung, Herr Wulff, was meinen Sie, was es für Überschriften über Sie gibt? Sollen wir die immer ernst nehmen? Das würde selbst ich Ihnen nicht antun wollen. - Die Überschrift über meinem Artikel lautete: „Aktion Gemeinsinn - ein Jahr für Menschen“. In dem Text finden Sie keinen einzigen Beleg. So etwas haben Sie auch in der Lehrerdebatte versucht. Ich warte bis heute darauf, dass Sie einen Beleg für Ihre Behauptungen bringen. Ich rede hier für meine Position, und ich sage Ihnen auch gleich, was Sie zu dieser Debatte machen sollten. Ich finde nur, dass es nicht in Ordnung ist, wenn wir versuchen, Nebenkriegsschauplätze zu finden.

Ich fand Ihren Hinweis, Frau Pothmer, dass wir im Ziel einig sind, wichtig. Ich glaube, wir haben die Chance, hier eine Debatte zu führen; ich würde so weit gehen, zu sagen, dass wir nicht so weit gehen sollten, nur innerhalb der Parteien oder Fraktionen über dieses Thema zu debattieren, sondern dass wir die unterschiedlichen Positionen, die wir zu dieser Frage haben, auch miteinander quer zwischen den Fraktionen diskutieren.

(Frau Pothmer [GRÜNE]: Doch!)

Ich glaube, dass es im Kern nicht um die Wehrpflicht geht, auch nicht um den Zivildienst. Meiner Meinung nach geht es auch nicht um die Alternative ehrenamtliches Engagement oder soziales Jahr. Ich glaube, dass es im Kern um das Verhältnis zu unserem Staat geht. In meiner Debatte, die ich gerne führen würde - das ist meine politische Position, die man nicht teilen muss -, geht es um die Frage, welches Verhältnis wir eigentlich zu unserem Staat haben. Das hat mit ehrenamtlichem Engagement nichts zu tun. Da geht es um die Frage, ob wir nur von einer Zivilgesellschaft reden oder ob es staatliche Aufgaben gibt, die wir in Zukunft gar nicht mehr finanzieren können, sodass wir vielleicht sogar sagen müssten: Selbst wenn wir es

könnten, sollten wir es nicht tun. Diese Frage wollen wir über ein gesellschaftliches Engagement lösen. - Ich werde gleich noch ein paar Themen dazu nennen.

Ich will nur etwas zu dem FÖJ und dem FSJ sagen, zum Freiwilligen Ökologischen Jahr und Freiwilligen Sozialen Jahr.

Beim ökologischen Jahr liegen wir - das wissen Sie - an der Spitze aller Länder.

(Frau Pothmer [GRÜNE]: Das ist doch Unsinn! - Wulff (Osnabrück) [CDU]: Das ist auch von der CDU erfunden worden!)