Protocol of the Session on July 1, 2015

Das Wort zur Begründung hat die Abgeordnete Frau Bernhardt von der Fraktion DIE LINKE.

(Torsten Renz, CDU: So wie bei dem Antrag davor, sachlich, die Debatte versachlichen.)

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil wir hier in letzter Zeit immer erleben, dass Worte definiert werden, möchte ich meine Rede damit beginnen. Ganz bewusst haben wir unseren Antrag „Strategische Ausrichtung der Kindertagesförderung“ genannt. Eine Strategie zu haben, bedeutet laut Definition im Duden, einen genauen Plan für die Handlungen, mit denen man ein Ziel verwirklichen will, zu entwickeln.

(Zuruf von Wolf-Dieter Ringguth, CDU)

Das ist etwas, was meine Fraktion seitens der Landesregierung vermisst. Was sind Ihre Prämissen bei der Weiterentwicklung der Kindertagesförderung hier im Land Mecklenburg-Vorpommern? Das werden wir heute sicherlich in der Aussprache zu unserem Antrag vernehmen dürfen. Ich hoffe, es ist substanziell mehr als die bloße Darstellung von Ausgaben, die Sie in den letzten Jahren im Bereich der Kindertagesförderung getätigt haben, und der Blick zurück. Was wir brauchen, ist der Blick nach vorn.

(Vincent Kokert, CDU: Die Landesregierung handelt schon.)

Vor allem brauchen wir jetzt eine Weichenstellung, auch schon mit Blick auf den Landeshaushalt 2016/2017. Was wir nicht gebrauchen können, ist ein weiteres Abwarten.

Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern ein gut ausgebautes Netz an Kindertageseinrichtungen und Tagespflegepersonen. Die Betreuungsquoten in unseren Kitas können sich sehen lassen. Gut jedes zweite Kind unter drei Jahren besuchte 2014 eine Kindertageseinrichtung. Bei den 3- bis 6-Jährigen haben wir mit einer Betreuungsquote von 96 Prozent eine nahezu flächendeckende Kindertagesbetreuung erreicht.

(Torsten Renz, CDU: Dank der Großen Koalition.)

Sehr geehrte Damen und Herren, jetzt kommt das Aber. Die Betreuungsquoten allein sind nicht ausschlaggebend. Maßgeblich für eine chancengleiche, gute frühkindliche Bildung für alle Kinder sind die Rahmenbedingungen.

(Beifall Marc Reinhardt, CDU)

Hier ist aus unserer Sicht noch einiges zu tun. Die Qualitätsstandards, insbesondere die Fachkraft-Kind-Relation, die mittelbare pädagogische Arbeitszeit, die Arbeitsbedingungen für Erzieherinnen und Erzieher, das alles gilt es

weiter zu verbessern. Es ist vertane Zeit, eine neue Re- gierung 2016 und deren Entscheidung abzuwarten, wann und wie weiter die Fachkraft-Kind-Relation gesenkt wird. Wir müssen mit dem jetzigen Doppelhaushalt 2016/2017 die Voraussetzungen für die dringend notwendigen Verbesserungen schaffen.

(Torsten Renz, CDU: Aber dass wir jetzt zum August absenken, das wissen Sie, ja?)

Die Fachkraft-Kind-Relation in Mecklenburg-Vorpommern ist in allen Altersgruppen bundesweit eine der schlechtesten, auch nach der gerade erfolgten Verbesserung im Kindergartenbereich. Will ich eine individuelle Förderung jedes Kindes in der Kindertagesförderung, so, wie sie als Ziel im KiföG niedergeschrieben ist, muss als dringendste Aufgabe die Absenkung der Fachkraft-Kind-Relation erfolgen.

Wir fordern Sie auf, in einem ersten Schritt Krippe und Hort kurzfristig um jeweils einen Punkt herabzustufen, zweitens langfristig einen Stufenplan zu erarbeiten, …

(Torsten Renz, CDU: Was kostet das?)

12 Millionen Euro, Herr Renz.

… langfristig einen Stufenplan zu erarbeiten und sich nicht von Legislaturperiode zu Legislaturperiode zu hangeln und nur sporadisch hier und da mal nachzubessern.

(Heinz Müller, SPD: Na, also! Aber Frau Bernhardt! – Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Ein klares Ziel, wo es mit der Fachkraft-Kind-Relation hingehen soll, ist nötig. Das wäre ein Zeichen an die Erzieherinnen und Erzieher, dass Sie ihre Arbeit wertschätzen und ihnen verbesserte Arbeitsbedingungen schaffen.

Ebenso brauchen wir diesen Stufenplan beziehungsweise diese Strategie auch dazu, um unsere Ausbildungsplatzplanung danach auszurichten.

(Torsten Renz, CDU: Stellen Sie schon Ihr Wahlprogramm vor?)

Die aktuell geltende Ausbildungsplatzplanung von 2013 hat den Bedarf an Fachkräften – unter anderem von Erzieherinnen und Erziehern – bis 2020 ermittelt, wobei wir meinen, dass auch hier schon nachgebessert werden muss.

Wenn wir jetzt nicht weiter die Standards verbessern, sondern bis 2016/2017 abwarten und dann erst die Ausbildungsplatzplanung danach ausgerichtet wird, so steht bei einer vierjährigen Ausbildung erst ab circa Mai 2020 das dafür entsprechende Fachpersonal zur Verfügung. Deshalb ist es schon jetzt wichtig, die Weichen zu stellen, wie und wann eine weitere Absenkung der FachkraftKind-Relation erfolgen soll. Qualifiziertes Fachpersonal in den Kindertageseinrichtungen vorzuhalten, muss oberste Priorität haben.

In der Debatte zur KiföG-Novelle 2013 haben Sie mir entgegengehalten, dass wir die Fachkraft-Kind-Relation nicht weiter verbessern können, da wir keine Fachkräfte haben. Dann lassen Sie uns doch mit der Basisgrundlage

beginnen, einen Stufenplan und eine darauf ausgerichtete Ausbildungsplatzplanung zu entwickeln.

Zu den Qualitätsverbesserungen zählt auch, den Erzieherinnen und Erziehern im Krippen- und im Hortbereich mehr Zeit für die mittelbare pädagogische Arbeit einzuräumen. Unter die mittelbare pädagogische Arbeitszeit fallen alle Tätigkeiten, die nicht unmittelbar am Kind stattfinden, jedoch zur umfassenden Erfüllung des gesetzlichen Auftrages Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder notwendig sind.

Für alle Bereiche in der Kindertagesbetreuung sollten gleiche Zeiten für die Vor- und Nachbereitung von Angeboten, für Dienstberatungen sowie zur Durchführung von Elterngesprächen eingeräumt werden. Ich sehe keinen sachlichen Grund dafür, warum für die Krippenerzieherinnen nur zweieinhalb Stunden zur Dokumentation der Entwicklung, zur Vorbereitung von Angeboten, von Elterngesprächen und Elternabenden zur Verfügung stehen sollten und für eine Kindergartenerzieherin beziehungsweise einen Erzieher fünf Stunden. Beide haben gleichwertige Aufgaben für eine gute Bildung zu erledigen, werden aber in diesem Punkt, Zeitmanagement, ungleich behandelt.

Ein weiteres dringendes Problem entwickelt sich zunehmend dramatisch im Kita-Bereich. Die Beiträge für Eltern und der Wohnsitzgemeinden steigen immer weiter an. Im Jahr 2010 zahlten Eltern zwischen 110 und 170 Euro für einen Kindergartenganztagsplatz. 2013 zahlten sie dafür schon zwischen 111 und 192 Euro. 2015 wird es nun noch mal einen deutlichen Anstieg der Elternbeiträge geben.

Nach wie vor ist das Finanzierungssystem, das im KiföG Mecklenburg-Vorpommern verankert ist, zu bürokratisch und verteilt die Lasten der Kindertagesbetreuung ungleich. Insbesondere die Eltern und die Kommunen haben den deutlich größeren Teil der Kindertagesbetreuung zu leisten, das Land hingegen beteiligt sich an den Kosten der Kindertagesbetreuung für ostdeutsche Verhältnisse nur unterdurchschnittlich. Das sage nicht ich, sondern das ist eine Feststellung im finanzwissenschaftlichen Kurzgutachten von Professor Dr. Martin Junkernheinrich im Auftrag des Landesrechnungshofes Mecklenburg-Vorpommern.

Ein Kinderbetreuungsplatz darf nicht zum Luxusgut werden, sondern muss im Sinne der Chancengleichheit und des Anspruchs, dass frühkindliche Bildung von Anfang an für alle Kinder umgesetzt werden muss, für die Eltern bezahlbar sein und perspektivisch kostenfrei werden. Das Land muss daher eine stärkere Verantwortung für die frühkindliche Bildung in Mecklenburg-Vorpommern übernehmen.

Die Einführung der Vollverpflegung hat Mängel bei der Wahrnehmung der Elternrechte gezeigt. Für Eltern besteht derzeit keine Interessenvertretung auf Landesebene, um bei Änderungen von Gesetzen Einfluss zu haben oder um sich zu organisieren und gegen gewisse Umstände zu protestieren. Daher sollte die Bildung eines Landeselternrates aktiv unterstützt werden. Wir hatten das bereits mehrfach angeregt. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass bei der strategischen Weiterentwicklung der Kindertagesförderung die Stärkung der Elternrechte unbedingt dazugehört.

Der Wandel der Familienstrukturen, wachsende Ansprüche an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie vielfältige gesellschaftliche und ökonomische Herausforde

rungen an die Eltern, all dies stellt neue Anforderungen an pädagogische Fachkräfte im Rahmen frühkindlicher Entwicklung dar. Von daher ist zu prüfen und gegebenenfalls ein Modellprojekt, was wissenschaftlich begleitet wird, einzusetzen, wie Kindertageseinrichtungen mit besonders ausgeprägter Familien- und Sozialraumorientierung entstehen könnten. In den Kindertagesstätten sollten multiprofessionelle Teams eingesetzt werden, die auch die Familien mit entsprechend niederschwelligen Angeboten in der Kindertagesstätte stärken würden. Dies kann zum Beispiel durch eine Verbindung der Aufgaben der Kindertageseinrichtungen zur Betreuung, Erziehung und Bildung mit denen der Familienbildung nach Paragraf 16 SGB VIII geschehen.

Hier ist Mut gefragt, an noch ungewöhnliche Muster anzuknüpfen. Die professionelle Zukunft einer Kindertagesstätte könnte oder vielmehr sollte in einer multidisziplinären Zusammensetzung der Teams gesehen werden. In einem ersten Schritt könnten sich die Kitas öffnen für die Zusammenarbeit mit Partnern der Familienbildung. Thüringen, Sachsen, all diese Bundesländer unterstützen diesen Gedanken bereits aktiv. Auch in MecklenburgVorpommern treffe ich hier und da auf diese Ansätze, doch noch ist es in unserem Land nicht strukturell verankert beziehungsweise nicht wissenschaftlich begleitet. Lassen Sie uns gemeinsam beraten, wie ein solches Fachkräfteteam zusammengesetzt sein könnte.

Nach dem aktuell geltenden KiföG Mecklenburg-Vorpom- mern wird nicht allen Kindern der Zugang zu Regeleinrichtungen gewährt. Vielmehr ist bei Kindern mit körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung vorgesehen, dass diese integrative oder Sonderkindergärten besuchen. Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft sind durch eine Expertengruppe Maßnahmen zu erarbeiten, wie Inklusion in der Kindertagesbetreuung gewährleistet werden kann.

Für den Bereich der Kitas ist zumindest dahin gehend ein erster Dialog aufgenommen worden, den ich sehr begrüße. Allerdings möchte ich hier an die Worte der Expertenkommission aus dem Jahr 2012 erinnern, die sich nur auf einige Bereiche der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Förderung beschränken konnte und als dringende Empfehlung riet, „eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um diesem Thema“ – Inklusion in Kindertagesstätten – „die notwendige Aufmerksamkeit zu geben“.

Sie sehen, es gibt viele Baustellen im Kita-Bereich. Nehmen Sie sich selber ernst und setzen Sie weitere wichtige Schwerpunkte in frühkindlicher Bildung und Betreuung im Kinderland Mecklenburg-Vorpommern. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 60 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat die Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales Frau Hesse. Bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

Herr Renz, ich pflichte Ihnen bei: Auch ich habe den Eindruck, dass Frau Bernhardt hier im Parlament schon mal ihre Wahlkampfthesen testen möchte.

(Rainer Albrecht, SPD: Ah! – Udo Pastörs, NPD: Testen!)

Anders lassen sich aus meiner Sicht die populistischen Forderungen dieses Antrages nicht interpretieren. Und ja, ich nutzte hier gerne die Gelegenheit, um erneut aufzuzeigen, was sich alles in den vergangenen Jahren in der Kindertagesförderung unseres Landes getan hat.

(Rainer Albrecht, SPD: Richtig. – Torsten Renz, CDU: So ist es.)

Und mit „getan“ meine ich „verbessert hat“, worum uns andere Bundesländer beneiden.

Zuallererst: Innerhalb eines Jahrzehnts wird die Landesregierung die Gelder für die Kindertagesförderung um 115 Millionen Euro gesteigert haben. Die Gesamtinvestition lag 2006 bei 91,8 Millionen Euro und 2016 wird sie bei 207 Millionen Euro liegen. Im Jahr 2006 übrigens – und das, finde ich, gehört einfach zur Wahrheit dazu – war noch eine Ministerin der LINKEN im Amt. Das wollen wir an dieser Stelle nicht vergessen. Sie hatten also mal die Zuständigkeit für dieses Thema. Und da ist es doch auch erstaunlich, wie viel noch für uns zu tun blieb.

(Zuruf von Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE)

Jeder qualifiziert sich eben so gut, wie er kann.