Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 36. Sitzung des Landtages. Ich stelle fest, dass der Landtag ordnungsgemäß einberufen wurde und beschlussfähig ist. Die Sitzung ist eröffnet. Die vorläufige Tagesordnung der 36., 37. und 38. Sitzung liegt Ihnen vor. Wird der vorläufigen Tagesordnung widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Damit gilt die Tagesordnung der 36., 37. und 38. Sitzung gemäß Paragraf 73 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung als festgestellt.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich ganz herzlich nachträglich unseren Kollegen Ingulf Donig zum 60. Geburtstag und Ralf Mucha zum 50. Geburtstag gratulieren.
(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gratulationen)
Ja, wenn der Frühling nicht zu uns kommt, kommen wir zum Frühling. Herzlichen Glückwunsch noch mal! Alles Gute!
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde. Die Fraktion DIE LINKE hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Agenda 2010 – 10 Jahre Sozialabbau – Auswirkungen auf Mecklenburg-Vorpommern“ beantragt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren, am 14. März 2003, hat Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag die Agenda 2010 verkündet. Damit hat der Sozialdemokrat Gerhard Schröder das bis zu diesem Zeitpunkt geltende Sozialstaatsprinzip aufgekündigt,
wonach der Staat verpflichtet ist, für einen sozialen Ausgleich in der Gesellschaft, für einen Ausgleich zwischen Arm und Reich zu sorgen. Mit der Einführung der Agenda 2010 wurden die Armen belastet und die Reichen entlastet.
Ja, die wirtschaftliche Entwicklung war schlecht, die Arbeitslosenzahlen stiegen bundesweit auf Rekord- höhe, die Lohnnebenkosten stiegen und die Sozialsysteme waren praktisch seit 50 Jahren nicht verändert worden. Die einzigen Antworten auf diese Herausfor- derungen hat die rot-grüne Bundesregierung damals in einem nie dagewesenen Sozialabbau mit einer gigantischen Umverteilung von unten nach oben gesehen. Mit einer Abrissbirne wurde der Weg geebnet für Pri- vatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Verarmung.
Bundeskanzler Schröder formulierte das so, Herr Renz, Zitat: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Und weiter formulierte er: „Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt …, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“ Soweit die Zitate.
Ich finde es bemerkenswert, wie Gerhard Schröder neben deutlichen Worten auch eine Sprache eingeführt hat, die verschleiert und Dinge auf perfide Art und Wei- se in ihr Gegenteil verkehrt. Nehmen wir nur mal das positiv besetzte Wort „Anreiz“. Es entspringt dem neuen Agenda-Denken und -Handeln der SPD, Transferleistungen auf Armutsniveau und ein bisher nie gekanntes Sanktionssystem als Anreiz darzustellen, um Beschäftigte und Arbeitslose damit zu erpressen, jede Arbeit anzunehmen. Und das ist nur ein Beispiel. Alle sollten ihren Beitrag leisten, forderte Schröder damals, eine gewaltige gemeinsame Anstrengung sei nötig.
Die Realität ist freilich eine andere. Während Aktionäre und Großverdiener, Konzerne und Großunternehmer bei dieser beschworenen gewaltigen Anstrengung weitgehend verschont bleiben, mussten die sogenannten kleinen Leute für die Agenda und den vermeintlichen wirtschaftlichen Aufstieg bluten. Bluten mussten Hunderttausende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz und damit ohne Perspektive, auch hier in Mecklenburg-Vorpom- mern. Bluten mussten die Beschäftigten, denen mit der Drohkulisse von Hartz IV im Hintergrund jahrelang Realeinkommensverluste und prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgepresst wurden.
Die Lohnquote, meine Damen und Herren, ist gegen- über dem Jahr 2000 um etwa fünf Prozent gesunken von 72,2 Prozent im Jahr 2000 auf 67,3 Prozent im Jahre 2011. Das sind rund 100 Milliarden Euro, die den Beschäftigten aus der Lohntüte gestohlen wurden. Gleichzeitig stieg aber die Nettogewinnquote um dieselbe Größe, nämlich von circa 30 Prozent auf 34,9 Prozent – ein deutliches Indiz dafür, dass die Gesellschaft weiter in Arm und Reich gespalten wurde, und das innerhalb von zehn Jahren.
Bluten mussten die Beschäftigten auch, weil sie zu viel schlechteren Bedingungen in Leiharbeit gezwungen wurden, weil ihre Stammarbeitsplätze abgeschafft wurden.
Die Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter hat sich verdreifacht und stieg von 327.000 im Jahre 2003 auf mehr als 900.000 im Juni 2012. Allein von Juni 2007 bis Juni 2012 stieg die Anzahl der Zeitarbeitsfirmen in unserem Bundesland von 209 auf 266 und die Anzahl der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer von 8.777 auf 10.676, also fast um 2.000.
Bluten, meine Damen und Herren, mussten für die Agenda auch die Rentnerinnen und Rentner, die in zig Nullrunden ebenfalls um den verdienten Lohn ihrer Arbeitsjahre gebracht wurden.
Auf die Angleichung der Renten Ost an West warten wir heute noch. Und Sie, meine Damen und Herren von der SPD, Herr Ministerpräsident und Frau Sozialministerin,
haben bis zu Ihrem Parteikonvent im November 2012 gebraucht, um überhaupt einen Beschluss zu fassen, ob die Rentenangleichung Ost an West stattfinden soll. Jahrelang haben Sie rumgeeiert und auch gegen Ihre Basis alle Anträge in dieser Richtung abgelehnt.
Bluten mussten auch alle Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung, also wieder die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeitslosen, die Rentnerinnen und Rentner.
(Vincent Kokert, CDU: Was ist bloß aus der deutschen Sozialdemokratie geworden? – Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)
Allein durch diese Zuzahlungen und Sonderbeiträge wurden die gesetzlich Versicherten in der Zeit von 2004 bis 2012 um 100 Milliarden Euro belastet.
(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Ja, ja, die Sozis, die bösen, bösen Sozis! Guck mal, wo wir heute stehen, Herr Holter!)
(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Gucken Sie mal, wo Deutschland steht, und dann können wir uns weiterunterhalten.)
und nach zehn Jahren müssen wir mal die Wahrheiten aussprechen, wer die Kosten der Agenda 2010 getragen
hat. Das waren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeitslosen, die Rentnerinnen und Rentner.
(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Wo wären wir denn heute, wenn wir es nicht gemacht hätten, Herr Holter? Wo denn?)