Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Hartz IV – sind das nur Regelsätze, deren Höhe nach Auffassung der Verfassungsrichter willkürlich festgesetzt wurden, die nach Forderungen von Gewerkschaften, Sozialverbänden der Linkspartei und vielen anderen erhöht, nach den Vorstellungen der Bundesminister Westerwelle und de Maizière künftig jedoch gekürzt werden sollten?
Lassen Sie mich einfach in Erinnerung rufen: Hartz IV ist das umgangssprachliche Kürzel für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und umfasst seit dem 01.01.2005 die gesetzlichen Regelungen der Sozialgesetzbücher II und XII. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe markiert als Kernstück der schröderschen Agenda 2010 ein sozialpolitisches Epochenereignis, denn Hartz IV war 2005 für Hunderttausende in Deutschland der Übergang aus der Arbeitslosenhilfe
als lohnabhängiger und damit dynamisierter Leistung in das Arbeitsniveau der Sozialhilfe mit festen Regelsätzen. Hartz IV war damit für Millionen Menschen in Deutschland eine Drohung, sie und ihre Familie für jede Verschlechterung der Entlohnung der Arbeitsbedingungen gefügig zu machen.
Hartz IV reduzierte die individuellen Einnahmen der Betroffenen, aber eben auch die Einnahmen der lohnabhängigen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen. Hartz IV führte eine Schaffung von Beschäftigungsverhältnissen auf der Basis von Mehraufwandsentschädigungen, sogenannten Ein-EuroJobs ohne jedwede arbeitsrechtliche und arbeitsvertragliche Bindung ein. Hartz IV war damit der millionenfache Ausstieg des Staates aus einem über Jahrzehnte erkämpften Tarif- und Arbeitsrecht. Hartz IV diszipliniert, Hartz IV entfaltet Wirkungen auf alle Teile der Gesellschaft, vor allem aber auf Kinder und Jugendliche der betroffenen Familien.
Mit der Einführung von Hartz IV hat sich über Nacht die Zahl der in Armut lebenden Kinder in Deutschland verdoppelt. Gegenwärtig leben 5,9 Millionen Kinder in Haushalten mit einem Jahreseinkommen von weniger als 15.300 Euro. Im Jahre 1965 war in Deutschland nur – das sage ich mal in Anführungsstrichen – jedes 75. Kind unter sieben Jahren auf Sozialhilfe angewiesen. Heute ist es mehr als jedes sechste Kind.
Mecklenburg-Vorpommern, das Land, in dem wir leben, ist das ärmste Land der Republik. Hier leben circa 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Familien, deren Eltern Hartz-IV-Leistungen beziehen beziehungsweise über ein so geringes Einkommen verfügen, dass sie genötigt sind, als sogenannte Aufstocker ergänzende staatliche Leistungen der Arge in Anspruch zu nehmen.
Diese Tatsachen – Hartz IV und geringe Einkommen – prägen die Lebenswirklichkeit vieler Kinder dieses Landes. Armut steht für wenig Geld, aber zugleich für Ausgrenzung und persönliche Demütigung. Das zeigt sich gerade in unserem dünn besiedelten Flächenland, wo jeder Weg in die Bibliothek, zu Arbeitsgemeinschaften, in Jugendzentren, ins Theater oder wohin auch immer mit hohen Fahrkosten verbunden ist. Armut ist somit ein Synonym für eingeschränkte Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Armut schränkt die Selbstverwirklichung der Kinder und Jugendlichen ein.
Und diese Seite des Lebens, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, haben die Verfassungsrichter beleuchtet und folgerichtig an Hartz IV moniert, dass die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes erfüllen.
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind, so die Verfassungsrichter. Das ist zweifellos sehr klar und überzeugend, gerade auch vor dem Hintergrund, dass Politik und Verwaltung bei der
Ableitung der Kinderregelsätze aus den Erwachsenenregelsätzen auf Bildungsausgaben verzichtet haben. Allerdings waren die Ausgaben für Tabakwaren und Alkohol berücksichtigt. Babys wurden auf diese Weise regierungsamtlich 11,90 Euro für Tabak und alkoholische Getränke zugerechnet, jedoch kein Geld für Windeln. Die Ausgaben wurden halt gegengerechnet.
„Gegenrechnen“ ist ohnehin so ein verwaltungstechnisches Unwort, das stets jene zu hören bekommen, die beklagen, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien kein Kindergeld erhalten. Politik und Verwaltung meinen allerdings, dass sie es doch erhalten würden. Es werde eben nur gegengerechnet. Übersetzt heißt das, es wird mit den Regelsätzen verrechnet oder, auf gut deutsch noch besser gesagt, es wird vom Staat einbehalten.
Ja, werden sich nun für die Kinder, deren Eltern Hartz-IVLeistungen oder Niedriglöhne erhalten, die Lebensperspektiven nach diesem Urteil ändern? Vielleicht, könnte man meinen. Es wird dann aber schnell an eine andere, zwei Jahre zurückliegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV, die heute auch schon mal thematisiert wurde, erinnert. Die mit dem Vollzug von Hartz IV betrauten Mischverwaltungen aus Bundes- und kommunalen Verwaltungen, kurz Arge genannt, sind verfassungswidrig. Zu ihrer Existenz bedarf es einer Grundgesetzänderung. Diese ist in der Diskussion. Sollte es dazu kommen, werden die Strukturen einer unsozialen Politik damit grundgesetzlich legitimiert. Dies bedenkend, Frau Müller hat das erwähnt, hat meine Fraktion hier immer wieder auch in Rückkopplung mit Vereinen und Verbänden Vorschläge zur Verbesserung der Lebensbedingungen jener Kinder unterbreitet, deren Eltern Hartz IV oder Niedriglöhne erhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, fast 11 Prozent unserer Landeskinder besuchen gegenwärtig eine Förderschule. Etwa 18 Prozent der Jungen in Ostvorpommern sind Schulabbrecher. Das ist dramatisch und belegt die schwierige Situation gerade der Eltern dieser Kinder.
Verbesserung der Lebenssituation dieser Kinder, Herr Kokert, ist also mehr als ein höherer Regelsatz oder ein für Hartz-IV-Kinder gesponserter Schulranzen, also für Sachleistungen, die schon von Weitem davon künden, welcher Art das Einkommen von Mama und Papa ist, und die damit auch ein Stück weit ausgegrenzt werden.
Also, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Verbesserung der Lebenssituation der Kinder ist vor allem ein sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplatz mit einem gesetzlichen Mindestlohn für die Eltern. Selbstverwirklichung, Integration der Kinder vollzieht sich vor allem über die Selbstverwirklichung, also die Integration der Eltern.
Solange Kinder in unserem Land – es sind etwa 50 Prozent oder 35 Prozent, Entschuldigung – kein Kindergeld erhalten, weil ihre Eltern Hartz-IV-Leistungsempfänger sind, ist es einfach erforderlich, diese Themen hier immer wieder in die Debatte zu bringen, auch zu verlangen, zu fordern, wie es unser Antrag vorsieht, dass es angesichts der Situation von Kindern und Jugendlichen im Land geboten ist, von der Landesregierung
darüber informiert zu werden, wie sie als Mitglied des Bundesrates auf die Umsetzung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung Einfluss nimmt.
Wir erwarten einfach, dass über die Regelsätze gesprochen wird, aber wir erwarten künftig auch, dass Kinder von Hartz-IV-Leistungsempfängern anderen Kindern gleichgestellt sind, ein Kindergeld erhalten und solange die Situation so ist, wie sie ist, unentgeltlich Lehr- und Lernmittel erhalten, dass sie Ganztagsplätze mit Mahlzeiten in den Kitas und Schulen unentgeltlich erhalten, dass die Schulbeförderung, Sportangebote, Museen, Theater und Bibliotheken unentgeltlich sind und ihnen nicht verschlossen bleiben. Ich bitte um Annahme unseres Antrages. – Danke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Bilanz von fünf Jahren Hartz IV sagt heute nichts anderes aus als eine Prognose, die jemand schon vor fünf Jahren gestellt hätte, wenn er denn gesunden Menschenverstand geboten hätte. Man hätte schon damals ohne Weiteres vorhersagen können, dass ein Überleben mit dem Regelsatz von damals 345 Euro ohne weitere Unterstützung auf Dauer gar nicht möglich sein würde.
Der Regelsatz ist genauso knapp kalkuliert wie die Arbeitspläne der Postboten bei der Post AG. Laut Computerberechnungen soll der Postbote alle 4,2 Sekunden einen Brief zustellen, ein Einschreiben mit Unterschrift darf anderthalb Minuten dauern, er hat in einer Stunde 42 Pakete zu schaffen. Das funktioniert nur, wenn nichts schiefgeht. Da muss nur eine Tür klemmen oder der Gehweg ein bisschen glatt sein und schon stimmt die ganze schöne computergestützte Rechnung nicht mehr.
Genauso ist es beim Hartz-IV-Regelsatz, auch bei dem erhöhten, der jetzt 359 Euro beträgt. Man kann gerade so davon leben, wenn aber auch gar nichts Unvorhergesehenes geschieht. Schuhe dürfen nicht vor der Zeit kaputtgehen. Man darf den Schlüssel nicht verlieren, weil allein die 100 Euro für den Schlüsseldienst einen umbringen würden. Da niemand immer Glück hat, wird es früher oder später jeden treffen, der über längere Zeit Hartz IV bezieht. Er wird nicht über den Monat kommen.
„Monat“ ist das Schlüsselwort. Journalisten machen gern mal Experimente, probieren aus, wie man so einen Monat lang von Hartz IV lebt, und hinterher schreiben sie ein Buch oder machen eine Sendung und sagen, war gar kein Problem. Aber einen Monat geht alles. Einen Monat kann ich auch von Toastbrot und Gummibärchen leben, aber eben nicht über Jahre.
Hartz IV beruhte auf der Illusion, dass die Leute nur kurzfristig Hilfe brauchen würden, ein paar Monate. Man hat nicht vorausgesehen, dass es eine langfristige Versorgungseinrichtung werden würde, und das leistet es nicht. Wir hätten längst eine Massenverelendung wie in den USA mit ganzen Heerscharen von Obdach
losen, wenn es nicht als Reparaturbetrieb des Sozialstaates private Initiativen gäbe, wie etwa die Tafeln. Der Staat verlässt sich mittlerweile auf diese und beutet sie regelrecht aus. Während er seinen Machtanspruch gegenüber den Bürgern in keiner Weise zurücknimmt, erfüllt er seine eigenen Aufgaben nicht mehr. Er lässt die Schulen verkommen und verlässt sich darauf, dass die Eltern schon mit Eimern und Farbe kommen und mit eigenem Geld einspringen, und er zahlt unzureichende Regelsätze, weil irgendwer schon kommen wird, um die Katastrophe zu verhindern aus der sogenannten Zivilgesellschaft.
Es war auch schon 2005 klar, dass unter den Hartz-IV-Empfängern diejenigen die größten Schwierigkeiten haben würden, die am produktivsten und staatstragendsten gelebt hatten:
Wer Kinder hat, lebt besonders gefährlich, weil Kinder eben öfter einmal etwas kaputt machen, sodass die Aussicht, mit Kindern verlässlich mit dem Regelsatz das Monatsende zu erreichen, viel geringer und unsicherer ist.
Wer ein Haus gebaut hat, findet sich bei jeder Reparatur und bei den Heizkosten in einem ewigen kleinen Krieg mit der Sozialbehörde. Man hat viel mehr Ärger als die, die in Mietwohnungen leben. Und man hat auch viel weniger Geld zum Leben, weil immer etwas für das Haus notwendig ist, was die Behörde nicht übernimmt.
Wer ein Geschäft betreibt, befindet sich in einer ganz ähnlichen Lage. Kleine Selbstständige, die als Aufstocker zusätzlich Hartz IV beziehen, werden dafür nicht etwa belohnt als besonders aktiv, sondern sie werden von den Sozialbehörden permanent schikaniert. Sie betreiben Selbstausbeutung, die ihnen nicht gedankt wird.
Wer schließlich etwas gespart hat, wird bestraft, indem er erst einmal von Leistungen ausgeschlossen wird, bis sein Notgroschen auf das Niveau des sogenannten Schonvermögens geschrumpft ist.
Die Botschaft von Hartz IV lautet: Spar nix! Bau kein Haus! Betreibe kein Geschäft! Gründe keine Familie! Dann kommst du als Langzeitarbeitsloser am besten zurecht. Der Staat macht genau diejenigen fix und fertig, die ihn tragen,
Natürlich war auch schon 2005 klar, dass der Regelsatz niemals eine Teilhabe am kulturellen Leben ermöglichen würde, auch wenn die offizielle Rechnung das so wahrhaben will. Ein Einsparpotenzial ist in diesen 359 Euro selbstverständlich auch nicht vorhanden. Dass etwa eine neue Waschmaschine angespart werden kann, ist kompletter Irrsinn, auch wenn man solche Formulierungen häufig sogar in Sozialgerichtsurteilen findet. Man kann gar nichts sparen von Hartz IV.
Zustande gekommen sind diese Regelsätze, die solches ermöglichen sollen, aufgrund äußerst dubioser Machenschaften. Man nennt das die Top-down-Methode. Man gibt ein Ergebnis vor, 345 Euro, und die Beamten in den zuständigen Ministerien rechnen sich dann diesem Resultat entgegen. Auf dem Papier erwecken sie den Eindruck, sie würden wirklich den Bedarf der Betroffenen ermitteln,
aber im Blick haben sie nur eines: Das vorgeschriebene Ergebnis. Top sagt zu Down: „Rechne mal etwas aus! Hier ist das Ergebnis.“ Down sagt: „Ich hab’s ausgerechnet. Hier das Ergebnis.“ Und Top sagt: „Was für ein Zufall. Genau mein Ergebnis.“ So ist das gelaufen. Wie bei den DDR-Wahlen – Top sagt: „Hier ist das Wahlergebnis.“ Down zählt aus und beide in schönster Übereinstimmung.
Es würde mich nicht wundern, wenn diejenigen, die damals die DDR-Wahlen ausgezählt haben, auch die Regelsätze von Hartz IV ausgerechnet hätten. Die nötige Qualifikation hatten sie jedenfalls.