Protocol of the Session on December 6, 2006

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 8. Sitzung des Landtages. Ich stelle fest, dass der Landtag ordnungsgemäß einberufen wurde und beschlussfähig ist. Die Sitzung ist eröffnet. Die vorläufi ge Tagesordnung der 8. und 9. Sitzung liegt Ihnen vor. Wird der vorläufi gen Tagesordnung widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Damit gilt die Tagesordnung der 8. und 9. Sitzung gemäß Paragraf 73 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung als festgestellt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, von der Fraktion der Linkspartei.PDS liegt Ihnen auf Drucksache 5/103 ein Antrag zum Thema „Internationale Wanderausstellung ‚Anne Frank und wir‘“ vor. Auf Wunsch der Antragsteller soll die Tagesordnung um diesen Antrag erweitert werden. Gemäß Paragraf 74 Ziffer 1 unserer Geschäftsordnung kann diese Vorlage beraten werden, wenn zwei Drittel der Mitglieder des Landtages die Dringlichkeit bejahen. Zugleich muss die Einreihung in die Tagesordnung beschlossen werden. Wird das Wort zur Begründung der Dringlichkeit gewünscht?

(Gabriele Měšťan, Die Linkspartei.PDS: Ja. – Dr. Wolfgang Methling, Die Linkspartei.PDS: Frau Dr. Linke.)

Ja, das ist der Fall. Dann bitte ich Frau Dr. Linke um die Begründung.

Dr. Marianne Linke, Die Linkspartei.PDS (zur Geschäfts- ordnung): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Der Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS zum Thema Internationale Wanderausstellung ‚Anne Frank und wir‘“ lautet:

„Der Landtag möge beschließen:

1. Der Landtag begrüßt die Präsentation der internationalen Wanderausstellung ‚Anne Frank und wir‘ in der Stadt Grimmen. Die Ausstellung wird vom 07. bis 21.12.2006 auf Initiative des Anne Frank Zentrums, der Stadtjugendpfl ege Grimmen, der Bildungsstätte Jambus gGmbH Bad Sülze, der Civitas Netzwerkstelle Nordvorpommern, des Jugendfreizeit e. V. Grimmen, des JAM e. V. Bad Sülze, des Soziokulturellen Familienzentrums mit Unterstützung des Landkreises Nordvorpommern gezeigt.

Das Schicksal der fünfzehnjährigen Jüdin Anne Frank steht für Millionen Menschen, die während der Nazizeit in den Vernichtungslagern Opfer einer Menschen verachtenden Politik wurden.

Die Ausstellung konfrontiert uns Nachgeborene mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte und appelliert an unsere Verantwortung für eine an demokratischen Werten verpfl ichtete Gegenwart und Zukunft.

2. Der Landtag verurteilt das Agieren rechtsextremer Kräfte unmittelbar vor der Eröffnung der Ausstellung, das in der erklärten Absicht erfolgt, das Ansehen von Anne Frank herabzuwürdigen und damit die Verbrechen der Nazizeit zu bagatellisieren.“

Die Dringlichkeit dieses Antrages ergibt sich daraus, dass die Ausstellung heute, am 06.12., um 14.30 Uhr in Grimmen eröffnet wird und in Vorbereitung der Ausstellung Seminare mit jungen Leuten als Ausstellungsbegleiter unter dem Motto „Jugendliche begleiten Jugendliche“ organisiert wurden. Diese Seminare wurden am Montag

massiv gestört. In Grimmen und Umgebung wurden von jungen Männern CD’s mit rechtsextremen Inhalten verteilt.

Vielen Dank, Frau Dr. Linke.

Wird das Wort zur Gegenrede gewünscht? – Das sehe und höre ich nicht.

Dann frage ich jetzt, wer stimmt der Erweiterung der Tagesordnung um diese Vorlage zu? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Die Erweiterung der Tagesordnung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU, Linkspartei.PDS und FDP gegen die Stimmen der Fraktion der NPD beschlossen worden.

Kann ich davon ausgehen, dass wir diese Vorlage am Schluss der heutigen Sitzung behandeln? – Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, von der Fraktion der Linkspartei.PDS liegt Ihnen auf Drucksache 5/104 ein Antrag zum Thema „Verwaltungsvereinbarung G8-Gipfel“ vor. Diese wurde zwischenzeitlich von den Antragstellern zurückgezogen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, von der Fraktion der NPD liegt Ihnen auf Drucksache 5/105 ein Antrag zum Thema „Nein zur Rente erst ab 67“ vor. Auf Wunsch der Antragsteller soll die Tagesordnung um diesen Antrag erweitert werden. Gemäß Paragraf 74 Ziffer 1 unserer Geschäftsordnung kann diese Vorlage beraten werden, wenn zwei Drittel der Mitglieder des Landtages die Dringlichkeit bejahen. Zugleich muss die Einreihung in die Tagesordnung beschlossen werden.

Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Stefan Köster.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Dringlichkeit unseres Antrages „Nein zur Rente erst ab 67 Jahre“ ergibt sich daraus, dass die Bundesregierung während ihrer Kabinettssitzung vom 29. November 2006 den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografi sche Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung, dem sogenannten Rentenversicherungsaltersgrenzenanpassungsgesetz, beschlossen hat, welches nun in das übliche Gesetzgebungsverfahren des Bundestages beziehungsweise des Bundesrates eingebracht wird. Hauptbestandteil dieses Gesetzes wird die Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre sein. Die aufgezeigten Folgen des Gesetzentwurfes machen eine frühzeitige Positionierung des Landes MecklenburgVorpommern zu diesem Gesetzentwurf notwendig, da die Pläne der Bundesregierung schon heute in der Kritik vieler Interessenverbände stehen.

Da der Gesetzentwurf des Bundeskabinetts erst am 29. November 2006 beschlossen und am 30. November 2006 auf der Weltnetzseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales veröffentlicht wurde, war es unserer Fraktion, der NPD-Fraktion, leider nicht möglich, den Antrag fristgerecht einzureichen. Aufgrund der Aktualität sollte eine Positionierung des Landtages nicht erst im Januar 2007 erfolgen.

Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern werden von diesem Gesetz besonders betroffen sein. Eine Stellungnahme und Beschlussfassung des Landtages ist daher

dringend geboten, da zum Beispiel aufgrund einer bis Ende 2007 befristeten Übergangsregelung Arbeitslosengeld-II-Empfänger künftig zum frühestmöglichen Zeitpunkt unter Inkaufnahme der entsprechenden Abschläge Altersrente beantragen müssen.

Vor dem Hintergrund, dass immer weniger Menschen in unserem Land, vor allem auch aus gesundheitlichen Gründen, bis zum noch gültigen Renteneintrittsalter von 65 Jahren berufstätig sind, wird durch das Gesetzesvorhaben die Abzocke der Rentner noch planmäßiger vollzogen. Hohe Abzüge bei vorzeitigem Renteneintritt sind wohl vom Gesetzgeber beabsichtigt. Eine Beschlussfassung des Landtages noch im Dezember 2006 kann in der Bundesrepublik gegebenenfalls eine Initiative in Gang setzen, die die drohende renteneintrittsbedingte Altersarmut verhindert.

Herr Köster, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Folgen Sie nicht Ihrem Parteibuch, sondern Ihrem Gewissen und ermöglichen Sie ein schnelles Handeln dieses Hohen Hauses! – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei Abgeordneten der NPD)

Wird das Wort zur Gegenrede gewünscht? – Das sehe und höre ich nicht.

Dann frage ich jetzt, wer stimmt der Erweiterung der Tagesordnung um diese Vorlage zu? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Erweiterung der Tagesordnung um diese Vorlage bei Zustimmung der Fraktion der NPD und Gegenstimmen aller demokratischen Fraktionen im Hause abgelehnt.

(Stefan Köster, NPD: Frau Präsidentin, wer entscheidet demokratisch und wer nicht? Ich bitte, dass Sie das ins Protokoll aufnehmen, dass wir dagegen Widerspruch einlegen. – Zuruf von Michael Andrejewski, NPD)

Ich korrigiere meine Ansage: Die Erweiterung der Tagesordnung ist bei Zustimmung der Fraktion der NPD und bei Gegenstimmen der Fraktionen der SPD, CDU, Linkspartei.PDS und FDP abgelehnt.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde. Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Betreuungssysteme im Wandel – Zeitgemäße Initiativen für eine beschützte Kindheit“ beantragt.

Aktuelle Stunde Betreuungssysteme im Wandel – Zeitgemäße Initiativen für eine beschützte Kindheit

Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Frau Polzin von der Fraktion der SPD.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor dem Rostocker Landgericht begann am 30.11.2006 der Prozess gegen die Eltern der heute fünfjährigen Lea-Marie wegen Kindesmisshandlung und gefährlicher Körperverletzung. Vom Vater verprügelt, von der Mutter verbrüht und mit Kalkreiniger verätzt erlitt Lea-Marie Höllenqualen. Die Eltern haben ihre Tochter über vier Jahre hinweg gezwungen, Kalkreiniger und Essig zu trinken. Außerdem gab die 27-jährige Mutter zu, Lea-Marie mit kochendem Wasser übergossen zu haben, um 1.000 Euro von der Unfallversicherung zu erhalten.

Lea-Marie wurde durch die Misshandlung dauerhaft schwer geschädigt. Sie lebt inzwischen bei einer speziell für die Behandlung behinderter Kinder ausgebildeten Pfl egemutter.

Wir fragen uns auch in diesem Fall, wie so etwas in unserer Gesellschaft, vor unseren Augen geschehen kann. In welcher sozialen Katastrophe befi nden wir uns? Das wird erneut mit diesem Fall schmerzhaft vor Augen geführt. Wer hat Schuld? Die Eltern, die Ärzte, das Jugendamt, Nachbarn, Freunde? Die Frage müssen wir uns alle stellen.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen Mitarbeiter des Jugendamtes wegen des Verdachts der unterlassenen Hilfeleistung. Auch werde anhand der Unterlagen geprüft, ob Ärzte, die das Mädchen behandelt haben, belangt werden können, so ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Der Prozess wird am 12. Dezember fortgesetzt. Mitte Januar wird ein Urteil erwartet.

Die Schuldigen müssen gefunden und bestraft werden. Das ist absolut notwendig. Aber enthebt uns das unserer Verantwortung? Ich frage auch: Was ist so krank an dieser Gesellschaft, in der Kinder so leiden müssen?

(Torsten Koplin, Die Linkspartei.PDS: Das ist eine gute Frage.)

Wo haben wir versagt? Was ist zu tun?

Der Fall des zweijährigen Kevin im Oktober dieses Jahres im Bremen warf und wirft genau diese Fragen auf. Seine Leiche wurde im Kühlschrank des 41-jährigen drogenabhängigen Vaters gefunden. Auch Kevin wurde geschlagen und misshandelt. Ein kleiner Junge stirbt unter den Augen der Behörde, die ihn schützen soll. Warnungen gab es von allen Seiten. Pädagogen, Sozialarbeiter, Ärzte, Nachbarn oder die Familienrichterin warnten vor allem nach dem Tod der drogenabhängigen Mutter 2005, Kevin zurück zu seinem Stiefvater zu bringen. Kevin war unterernährt. Er wies Spuren von Misshandlungen auf und war in einem bedenklichen Allgemeinzustand. Das Jugendamt hatte inzwischen auch die Vormundschaft über Kevin erhalten. Trotzdem wurde hier anders entschieden. Er kam zurück zu seinem Vater, der zahlreiche Vorstrafen wegen Beschaffungskriminalität und gewalttätigen Verhaltens hatte und gegen den ein Verfahren wegen Verletzung der Fürsorgepfl icht lief. Wer hat hier versagt, müssen wir uns wiederum fragen.

Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, kennen aus jüngster Vergangenheit ähnliche erschreckende Beispiele, die uns deutlich machen, Kindesmisshandlung oder zumindest Kindesverwahrlosung in den ersten Stadien sind weiter verbreitet, als man wahrhaben will. Mein Optimismus reicht zwar so weit zu sagen, dass diese Fälle mit dem Kalkreiniger eher weniger vorkommen werden, aber nichtsdestotrotz gibt es in zahlreichen Familien Kinder, die täglich einem Martyrium ausgesetzt werden, und wir als Gesellschaft sind in der Regel bei solchen hochkochenden Fällen von den Schlagzeilen der Presse aufgeschreckt. In der Regel neigen wir auch alle, vor allem verantwortliche Politik, dazu, sofort Lösungsansätze zu benennen, die schlagartig von der anderen Seite dementiert, weil nicht brauchbar sind, und dann stehen wir wieder da und haben im Grunde nichts gekonnt.

Dieses Thema ist sehr aktuell, aber ich denke, es ist mehr als diese Spitzen des Eisberges, die uns aufschrecken und als Politik auffordern, grundsätzlich an dieses Thema heranzugehen. Das kann nicht so passieren, wie es lei

der oft genug geschieht: Ein selbsternannter Experte hat einen tollen Ratschlag, der vermutlich nichts weiter ist als Aktionismus, der im Grunde sofort wieder erledigt ist, und man geht zur Tagesordnung über. Ich meine, die Debatte muss angestoßen und sehr gründlich geführt werden.

Unser Ansatz beim Einreichen der Aktuellen Stunde war es keinesfalls, drei Lösungen anzubieten, von denen wir genau wissen, dass sie nicht greifen, denn die Ursachen für diese Dinge sind vielfältig. Wir wissen, es ist ein ganzes Netz von Auslösern, die ermöglichen, dass solche Dinge geschehen, dass wir der Fürsorgepfl icht, der Schutzpfl icht für unsere Kinder als Gesellschaft nur unzureichend nachkommen. Und das, denke ich, sollte uns allen genug Anlass geben, einen anderen Weg zu versuchen, ein Netzwerk, das wirklich die umfassenden Fragen stellt: Woran liegt es? Wie sind die Beteiligten an diesem Prozess mit mehr Kompetenz auszustatten? Wie müssen wir das Grundverständnis in dieser Gesellschaft beeinfl ussen? Denn ich meine, eine solche sittliche Verwahrlosung hat schon im Kopf der Gesellschaft begonnen: wegsehen, sich nicht verantwortlich fühlen, die Verantwortung auf den anderen schieben, hilfl os die Schultern zucken und sich notfalls hinter dem Grundgesetz verschanzen.

(Beifall Udo Pastörs, NPD)

Auch das ist etwas, was ich zunehmend frustriert zur Kenntnis nehme.

Ich habe mir aus diesem Anlass den entsprechenden Artikel 6 aus dem Grundgesetz herausgesucht. Er sagt im Absatz 2: „Pfl ege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pfl icht.“ Hier steht „zuvörderst“, nicht „ausschließlich“. Der letzte Satz ist noch viel bedeutsamer: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Das, meine ich, ist ein Punkt, der uns wieder viel mehr ins Gedächtnis geraten muss und der auch, denke ich, Motor unseres Handelns sein sollte.

Unsere Landesverfassung ist wesentlich konkreter, was die Aussagen zum Schutz unserer Kinder und Jugendlichen anbelangt. Und im Sommer dieses Jahres haben wir gerade den Artikel 14 sogar noch einmal konkretisiert. Im Absatz 1 heißt es: „Kinder und Jugendliche genießen als eigenständige Personen den Schutz des Landes, der Gemeinden und Kreise vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung. Sie sind durch staatliche und kommunale Maßnahmen und Einrichtungen gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung und gegen Misshandlung zu schützen.“ Unsere Verfassung gibt uns als Gesellschaft einen eindeutigen Handlungsauftrag. Und im Absatz 3 wird das noch verstärkt: „Kinder und Jugendliche sind vor Gefährdung ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung zu schützen.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich gehe davon aus, auch Sie haben diese Pressemitteilungen zur Kenntnis genommen, auch Sie sind besorgt über das, was bei uns passiert. Und ich gehe auch davon aus, dass es uns in unserer Kompetenz als Landesparlament gelingen muss, zumindest die Schritte einzuleiten, die ein Gegensteuern bedeuten. Wir können nicht alles beeinfl ussen, aber wir sollten zumindest die Möglichkeiten, die wir haben, sehr offensiv angehen.