Mit den nachfolgenden Problemen war vor allem die Stadt ĂĽberfordert. Im Kompetenzgerangel innerhalb der Stadt, aber auch mit dem Land blieb das Unterbringungs
problem leider auf der Strecke. Die Einwohner des Stadtteils Lichtenhagen, die mit extremer Alltagskriminalität konfrontiert wurden, fühlten sich vor allem von den Verantwortlichen in Rostock im Stich gelassen. Und zur Ehrenrettung der Bürger, denen bis heute Sympathie für Rechtsradikale unterstellt wird, muss ich betonen, sie protestierten gegen die Zustände vor Ort, gegen die untätige Stadtverwaltung, nicht gegen die Ausländer und schon gar nicht gegen die Vietnamesen.
(Unruhe bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS – Peter Ritter, PDS: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! – Annegrit Koburger, PDS: Die haben nämlich Beifall geklatscht. – Zuruf von Reinhard Dankert, SPD – Peter Ritter, PDS: Warum haben sie denn nicht beim Rathaus protestiert? Wären sie doch mal vors Rathaus gezogen, und nicht vors Asylbewerberheim.)
Der Kompetenzkonflikt mit der Unterscheidung der Zuständigkeit für Asylbewerber und Obdachlose, die im Freien hausten, also zwischen Aufnahme und Verteilung, begünstigte die damalige Zuspitzung der Lage.
Die Lehre von Lichtenhagen – und darüber müssen wir reden – war und ist vor allem: Wir dürfen es nicht erst so weit kommen lassen. Das heißt auch Zuwanderungspolitik ohne Tabus sowie präventive Maßnahmen vor Ort
Auf Druck der Öffentlichkeit wurden nach den rechtsradikalen Krawallen in Lichtenhagen politische und personelle Konsequenzen gezogen und das war gut so. Politiker mussten gehen, Polizisten wurden allerdings aus meiner Sicht zu schnell und pauschal öffentlich verurteilt.
Die Ausschreitungen in Lichtenhagen waren bis dato die längsten und schwersten Krawalle, die deutsche Polizisten zu bewältigen hatten. Die Landespolizei befand sich noch in der Aufbauphase. Der Ablauf und die Dimension der Ausschreitungen war weder vorhersehbar noch abschätzbar.
Auf eines muss man auch hinweisen: Erst die in der NNN vom 19. August 1992 durch einen anonymen Anrufer verbreiteten öffentlichen Drohungen machten Rechtsextremisten im Land auf das örtliche Problem aufmerksam.
Wer anonym in der Presse drohen darf, „Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, machen wir das, und zwar auf unsere Weise.“, der erregt leider die Aufmerksamkeit von Rechtsextremisten. Diese überregionale Sogwirkung konnte niemand, vor allem nicht die Polizei, vorhersehen.
Führer der Rechtsradikalen aus ganz Deutschland organisierten dann die Ausschreitungen gegen Ausländer und auch gegen die Polizei in Lichtenhagen. Sie sind aus meiner Sicht für die Krawalle mit Mordversuch und Brand
stiftung verantwortlich. Leider konnten diese führenden Köpfe der rechtsextremen Szene nicht ermittelt, angeklagt und verurteilt werden.
(Annegrit Koburger, PDS: Wenn man die Videoaufnahmen ausgewertet hätte, hätte man das tun können.)
Demgegenüber sind aber Polizisten sehr schnell und öffentlichkeitswirksam angeklagt worden. Man muss auch noch mal sagen, die Polizei war es, die durch ihr tatkräftiges und entschlossenes Eingreifen die Lage vor Ort mehrfach entspannt hat,
Auf eines darf ich auch aus der Sicht der Polizei hinweisen: Kordus und der Polizeioberrat Deckert sind durch die öffentlichen Vorwürfe rechtlich, beruflich und gesundheitlich zerrieben worden. Das ist doch so, Ansehen und Ruf wurden in einem Maße geschädigt, wie wir es uns, glaube ich, nicht noch mal erlauben sollten,
vor allen Dingen vor dem Hintergrund dessen, was dann passiert ist. Nach den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen lehnte die 1. Große Strafkammer beim Landgericht Rostock schon im Juni 1996 die Eröffnung des Verfahrens gegen den Polizisten ab. Begründung: Die Vorwürfe sind substanzlos. Das wurde vom Oberlandesgericht bestätigt. Bei Kriminaldirektor Kordus endete das Verfahren bereits 1995.
Meines Erachtens gehört es auch, und vor allen Dingen jetzt, wenn wir über Sicherheit reden, zu den Schlussfolgerungen von Lichtenhagen, dass in Fällen der Anklage von Polizisten das Unschuldsprinzip nicht öffentlich unterlaufen werden darf. Beide Polizeibeamte mussten mit einem Karriereknick beziehungsweise Ausscheiden aus dem Polizeidienst sowie mit öffentlicher Diffamierung leben. Ich meine, so dürfen wir nicht mit Polizisten umgehen, die für unsere Sicherheit ihre Gesundheit riskieren, auch wenn einsatztaktische Fehler vor Ort gemacht worden sind.
Nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen ermittelte die Staatsanwaltschaft Rostock insgesamt gegen 257 Personen. 160 Ermittlungsverfahren wurden mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Seit 1992 sind in Rostock relativ schnell 40 Urteile gegen rechte Randalierer gesprochen worden. Offenbar wurden in Rostock – dank des rührigen Generalstaatsanwaltes Alexander Prechtl – im Falle von Lichtenhagen die richtigen Prioritäten gesetzt.
Bei den jetzt vor dem Landgericht Schwerin zu verhandelnden Fällen war die Anklage auch bereits 1995 fertig. Die Staatsanwaltschaft hat immer wieder auf einen Gerichtstermin gedrängt. Daneben gab es noch halbjährlich insgesamt zehn Sachstandsnachfragen. Alexander
Prechtl erinnerte Justizminister Eggert mehrfach daran, dass sich hier im Falle von Lichtenhagen unbedingt etwas tun muss. Damals drohte aber auch noch keine Verjährung wegen Landfriedensbruch. Das Verfahren musste jetzt wegen Verjährung leider gegen den vierten Angeklagten eingestellt werden.
Und in den Relationen zu anderen Verfahren, vor allem auch zu dem Verfahren gegen die genannten Polizisten, ist das aus meiner Sicht ein Justizskandal ersten Ranges.
Da reißt sich die Staatsanwaltschaft im wahrsten Sinne des Wortes den Hintern auf, um die rechtsradikalen Täter von Lichtenhagen vor Gericht zu stellen, und dort liegen die Akten, bis die Sache verjährt ist. Richterliche Unabhängigkeit – ja, aber doch nicht in so einer Zeitspanne. Ob überhaupt das Verfahren anberaumt wird und wann der Richter entscheidet, das kann beim Landgericht Schwerin nicht nur diesem einen Richter überlassen werden. Die Untätigkeit der Justiz hat in diesem Falle auch die drei Angeklagten zu weiteren Straftaten ermuntert.
Wenn Rechtsradikale offenbar hohnlachend aus den Gerichtssälen in unserem Land gehen können, dann gehört das aus unserer Sicht auf den Tisch des Justizministers.
Von den zu erwartenden milden Urteilen nach dem Jugendstrafrecht will ich erst gar nicht reden. Die ständig wiederholte Entschuldigung des zuständigen Richters wegen Arbeitsüberlastung ist aus meiner Sicht unakzeptabel, weil es hier nicht um kleine Straftaten, sondern um versuchten Mord geht, der im Zusammenhang mit den rechtsradikalen Ausschreitungen die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregt hatte.
Die meiner Meinung nach rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ist aber nur die eine Seite der Medaille. Prozessverschleppung ist in Mecklenburg-Vorpommern leider kein Einzelfall mehr. Während im Bundesdurchschnitt 95 bis 98 Prozent der Richter am Arbeitsplatz sind, sind es in Mecklenburg-Vorpommern nur etwa 92 Prozent. Notstand herrschte nicht zeitweise mit nur 75 Prozent Anwesenheit beim Amtsgericht Schwerin, sondern offenbar auch beim Landgericht Schwerin. Es ist Sache des Justizministers, die Richter dorthin zu versetzen, wo Notstand herrscht, beziehungsweise, wenn nötig, neue Richter einzustellen. Dieser Justizskandal hätte verhindert werden können, hätte verhindert werden müssen.
Herr Justizminister Sellering, das ist kein „Ausreißer“, sondern das eklatante Versagen Ihrer Vorgänger Professor Eggert und Dr. Ringstorff.