Protocol of the Session on December 13, 2001

Und das zeigt sich ja auch darin, dass den Schülerinnen und Schülern der Klassen 1 bis 10 fast ein ganzes Schuljahr am Unterricht im Vergleich zu ihren Vorgängern fehlt. Und wenn wir über PISA reden und die Untersuchung, die sich aus der Analyse der 15-Jährigen von 2000 ergeben,

(Dr. Margret Seemann, SPD: Genau!)

dann sind es die Schüler, die 1990 zur Schule gekommen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS – Angelika Gramkow, PDS: Jawohl! – Dr. Margret Seemann, SPD: Genau. Das ist es. – Zuruf von Jörg Vierkant, CDU)

Von den Kürzungen waren natürlich besonders die Kernfächer in den Klassenstufen 5 bis 10 betroffen. Und ich will auch die Zahlen noch einmal nennen: Deutsch minus 185 Stunden, Mathematik minus 222 Stunden, Naturwissenschaften, Chemie und Physik, insgesamt 370 Stunden. Dafür haben allerdings die Gymnasiasten in den Klassenstufen 11 und 12 in Deutsch und Physik jeweils 148 Stunden und in Chemie 37 Stunden mehr erhalten in ihrem Schülerleben – also, Reduzierung in den Haupt- und Realschulen und Erhöhung an den Gymnasien.

(Angelika Gramkow, PDS: Genau das war es. – Dr. Margret Seemann, SPD: Genau.)

Das ist Chancengleichheit à la CDU.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Das soll nicht mehr so sein.

Und die Altersstruktur der Lehrerinnen und Lehrer wurde durch die Entlassung vor allen Dingen junger Pädagoginnen und Pädagogen so ungünstig verändert, dass wir heute im Bereich der 30- bis 40-jährigen Lehrkräfte ein erhebliches Defizit haben, das Sie mittlerweile selbst beklagen und wo Sie Anträge stellen, diese Landesregierung solle das umgehend korrigieren. In diesem Licht betrachtet, müsste die CDU eigentlich im bildungspolitischen Büßerhemd gesenkten Hauptes durch das Land ziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS – Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der PDS und Dr. Margret Seemann, SPD)

Stattdessen schwingen Sie sich hier auf – und Herr Rehberg ja gestern auch in der Haushaltsdebatte – zu einem rettenden Engel. Also diese Ignoranz auch eigener Verantwortung gepaart mit ungerechtfertigten Schuldzuweisungen ist kaum noch zu überbieten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS – Heike Polzin, SPD: Ja.)

Ihre Vorschläge zur Reform der Schulpolitik in diesem Lande haben wir im Juni vor diesem Hohen Hause diskutiert. Das Fazit war damals, lesen Sie nach: keine neuen Ideen, einseitige Verbesserung wiederum für die gymnasiale Ausbildung zu Lasten anderer Bildungsgänge und kein Wort zur Finanzierung. Trotzdem, Hoffnung auf Besserung stirbt bekanntlich langsam.

Ich höre ja auch den Vorwurf – und das haben Sie nun in Ihrer Rede, Frau Schnoor, trefflich gemacht –, die SPD hat auch Verantwortung gehabt. Richtig. Aber Sie waren doch wohl der größere Partner. Und warum haben Sie sich denn nicht gegenüber Ihrem kleineren Partner durchgesetzt?

(Steffie Schnoor, CDU: Genau deswegen, weil Sie, Herr Bluhm, sich auch nicht durchsetzen.)

Trauen Sie denn der PDS in dieser Frage mehr zu als sich selber?!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS – Heiterkeit bei Dr. Gerhard Bartels, PDS, Angelika Gramkow, PDS, und Dr. Margret Seemann, SPD – Dr. Ulrich Born, CDU: Macht die SPD das heute auch so mit Ihnen? – Zuruf von Dr. Gerhard Bartels, PDS)

Frau Schnoor erklärte vor diesem Haus, es sei vereinbart gewesen, die Stundentafel ab 1996 wieder aufzustocken und die Kürzungen rückgängig zu machen. Warum haben Sie es denn nicht veranlasst beziehungsweise durchgesetzt? Diese Frage haben Sie bis heute nicht beantwortet. Dafür fordern Sie uns nun permanent auf, die Ergebnisse der damaligen Fehlentscheidung endlich zu korrigieren. Ich hoffe sehr, Sie glauben nicht noch selbst daran, denn das wäre mit Schmerzvermeidungsstrategie allein nicht mehr zu erklären.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, noch liegt die Länderauswertung der PISA-Studie bezogen auf das Land Mecklenburg-Vorpommern nicht vor, aber es ist zu vermuten, dass sie wohl nicht besonders gut ausfällt. Sie werden versuchen, uns dafür verantwortlich zu machen.

(Lutz Brauer, CDU: Wen sonst?)

Aber wir alle wissen doch zu gut, dass bildungspolitische Entscheidungen über lange Zeiträume wirken und ihre Ergebnisse erst Jahre später spürbar sind. Das hat für die Verursacher den Vorteil, dass sie meinen, dann ihre Verantwortung leugnen zu können, so, wie Sie das jetzt tun. Aber die jetzigen Schulabgänger sind faktisch das Produkt der Bildungspolitik der zurückliegenden zehn beziehungsweise zwölf Jahre,

(Beifall Dr. Margret Seemann, SPD: Genau so ist es.)

denn sie sind alle nach der Wende eingeschult worden, anders gesagt, es sind auch Ihre Schülerinnen und Schüler, nicht nur unsere, und Sie sollten wenigstens so viel Anstand besitzen, sich auch dazu zu bekennen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Für meine Fraktion ist das Konzept der Regionalen Schule der Beginn und nicht das Ende einer dringend notwendigen Bildungsreform und die Ergebnisse der PISAStudie scheinen zu bestätigen, dass wir damit auf dem

richtigen Weg sind. Die ersten Daten der PISA-Studie legen den Schluss nahe, dass die reiche Industrienation Deutschland, was die Ergebnisse seiner Bildungspolitik und Bildungsfinanzierung betrifft, in keiner Weise seinen Möglichkeiten entspricht. Es wird, ja, Frau Schnoor, nötig sein, die Ergebnisse schonungslos zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen. Und das wird uns durch die PISA-Studie noch mehrere Jahre so gehen, denn glücklicherweise ist dieser Prozess ja nicht 2002 abgeschlossen, sondern wird 2003 und 2006 fortgeführt.

Aber die Ergebnisse dieser ersten Aussagen sind schon beängstigend, denn in den untersuchten Bereichen Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung liegt Deutschland in allen drei Bereichen deutlich – deutlich! – unter dem OECD-Niveau: bei der Lesekompetenz zwischen Rang 21 und 25, bei der mathematischen Grundbildung zwischen Platz 20 und 22 und bei der naturwissenschaftlichen Grundbildung zwischen Platz 19 und 23. Bei den Gesamtausgaben für Schüler von der Einschulung bis zum vollendeten 15. Lebensjahr erreicht Deutschland mit 44.000 Dollar auch nur Mittelmaß.

Für besonders besorgniserregend halte ich die Tatsache, dass bei uns in Deutschland im internationalen Vergleich der Abstand zwischen guten und schlechten Schülern am größten ist. Damit wird die These, es herrsche Chancengleichheit an deutschen Schulen, nicht mehr länger zu halten sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Und, meine Damen und Herren, der Bluhm ist da ja auch nicht allein. Ich möchte zitieren Herrn Professor Lehmann, der einer der wesentlichen Bildungsforscher ist, der mit PISA zu tun hat und auf die Frage der TAZ am 12.12.: „Ist das, was die Pisa-Studie für Deutschland aufgedeckt hat, die Neue Soziale Frage oder die Bildungskatastrophe?“, antwortet: „Es gilt beides. Das absolute Abschneiden der Deutschen ist eine Katastrophe, die uns jetzt zum dritten oder vierten Mal vorgeführt wird.“ So neu ist das alles nicht. „Hinzu kommt, dass unser Schulsystem Nachteile sozialer Herkunft nicht etwa ausbügelt, sondern sie verstärkt.“

(Siegfried Friese, SPD: Richtig.)

Bitter, meine Damen und Herren, bitter! Und das ist für verantwortliche Bildungspolitik natürlich ein Anspruch, Veränderungen einzuleiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Die ersten Auswertungen lassen eine Vielzahl von Faktoren und Bedingungen erkennen, die zu den guten oder schlechten Ergebnissen führen. Keiner der Faktoren allein kann erklären, warum Schulen oder auch die einzelnen Länder besser oder schlechter abschneiden. Es geht um die komplexe Betrachtung des Bildungsprozesses und seiner Ergebnisse.

(Beifall Dr. Margret Seemann, SPD)

Hohe Leistungen werden allerdings von den Ländern erreicht, wo solche Faktoren wie die Ressourcenausstattung der Schulen, Schulpolitik und Schulpraxis, die Unterrichtsmethodiken und ihre praktische Umsetzung sowie die sozialen Ausgangsbedingungen der Lernenden effektiv zusammenspielen. Wie und in welcher Weise sie das

tun und welchen Anteil sie am Ergebnis haben, wird sehr detailliert zu untersuchen sein. Darum möchte ich auch vor pauschalen Bewertungen genauso warnen wie vor pauschalen Erklärungsversuchen und heute schon abzuleitenden absoluten Wahrheiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Ich kann mich allerdings mit Blick auf das öffentliche Echo auch nicht dem Eindruck entziehen, dass einige schon wieder dabei sind, ideologische Schützengräben auszuheben, um das parteipolitische Schlachtfeld der Bildungspolitik vorzubereiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Davor, meine Damen und Herren, kann ich nur warnen, auch wenn es einfach ist zu sagen, daran sind immer die anderen schuld. Davor kann ich nur warnen. Es geht hier nicht um Parteipolitik, es geht um die Zukunft der Kinder in diesem Land.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Wir werden, wenn die Ergebnisse für Mecklenburg-Vorpommern vorliegen, natürlich analysieren und prüfen müssen, was weiterhin künftig zu verändern ist. Und ich gehe auch davon aus, dass wir als Parlament die Auswertung von PISA intensivst begleiten, weil bildungspolitische Debatten in diesem Hohen Haus eine gute Tradition haben, und das soll natürlich auch so bleiben, und das muss auch die Grundlage für künftige Veränderungen sein. Ich gehe davon aus, dass die Analyse Grundlage sein muss, nicht nur das Konzept der Regionalen Schule weiterzuentwickeln, sondern über die Ausgestaltung des gesamten Bildungssystems von der vorschulischen Bildung über die Schule, Berufsschule und Berufsausbildung, über die Hochschulen und die Weiterbildung im Komplex nachzudenken und zu entscheiden,

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

und zwar in drei Hauptrichtungen:

1. Inhalte,

2. die dafür nötigen Strukturen und

3. die dafür nötigen Finanzen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

Ohne die wird es ja wohl nicht gehen. Das stellt allerdings nicht die Ergebnisse, die mit dem Gesetzentwurf vorliegen, in Frage. Es gibt doch offensichtlich einen großen gesellschaftlichen Konsens, dass Reformen dringend notwendig sind. Nun, wir werden damit beginnen. Darum verstehe ich die Stimmen nicht, die von Experimenten oder unausgegorenen Konzepten sprechen. Ich frage Sie und all die Kritiker: Wie korrespondieren denn die Forderungen nach Ruhe an den Schulen oder nach längeren Fristen für die Einführung der Regionalen Schule mit den Forderungen, endlich mit Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen an den Schulen zu beginnen?