Protocol of the Session on November 15, 2001

(Harry Glawe, CDU: Das muss aber nicht schlecht sein. – Zuruf von Dr. Berndt Seite, CDU)

Das könnte uns Frauen freuen, macht aber auch Sorgen. Gravierender jedenfalls daran ist, die jungen Frauen nehmen die Kinder mit, die geborenen und die ungeborenen. Mit dem Verlust von jungen Frauen verlieren wir im Land Mecklenburg-Vorpommern praktisch doppelt.

(Beifall Karla Staszak, SPD)

Beide Prozesse haben ihre Auswirkungen auf die allgemeine Bevölkerungsentwicklung. Von 1990 bis Ende 1999 nahm die Bevölkerung in unserem Land um circa 175.000 Einwohner ab. Das ist ein Rückgang von 8,9 Prozent. Zum Vergleich: Sachsen verlor 30 Prozent, Sachsen-Anhalt 26 und Thüringen 14. Es gibt Zuwachsraten: Bayern plus 68 Prozent, Brandenburg plus 11 Prozent und Niedersachsen plus 33 Prozent. Glaubt man den Prognosen, dann wird sich bis 2020, das ist hier schon gesagt worden, unser Bevölkerungsanteil um weitere 176.000 Menschen verringern.

Beide Prozesse, die ich vorhin darstellte, haben Auswirkungen auf die Altersstruktur. Der Anteil der Einwohner, die älter als 60 Jahre sind, wird rapide ansteigen. Wir lagen 1990 noch bei 15,7 Prozent, hatten 1999 20,1 Prozent und werden 2020 voraussichtlich einen Anteil von 25,2 Prozent haben. Bei den unter 20-Jährigen sehen wir den umgekehrten Trend. Hatten wir 1990 noch einen Anteil von 28,0 Prozent an der Bevölkerung unter 20 Jahren, so fiel dieser 1999 auf 22,3 und wird 2010 mit circa 14,8 Prozent seinen Tiefstand erreichen. Prognostiziert für 2020 soll er wieder auf 17,5 Prozent steigen.

Wie bedrohlich diese Entwicklung vor allem auch im Rahmen der Bundesrepublik ist, zeigt eine Untersuchung, wonach Deutschland – angenommen, die Entwicklung bleibt so – nach 2020 zu den zehn ältesten Regionen der EU zählen wird. Tun wir nichts, vergreisen wir, oder noch schlimmer, wir riskieren auszusterben.

(Dr. Berndt Seite, CDU: Na, na!)

Meine Damen und Herren, so viel zu den nackten Zahlen, die auf dem Tisch liegen. Die Zahlen können nichts dafür. Da nützt auch ein „Na, na!“ nichts, dass sie so sind, wie sie eben sind.

In der politischen Diskussion werden sie allerdings häufig dazu benutzt, um Schuldige zu suchen und auch Verantwortung zu negieren. Ich glaube, das ist der falsche Weg. Es geht um die Zukunft des Landes, die Zukunft der Menschen, die hier leben und leben wollen. Der Grundansatz jedes politischen Handelns und jeder Entscheidung, ob bundes-, landes- oder kommunalpolitisch, sollte darauf gerichtet sein, die Lebensqualität in unserem Land so zu gestalten, dass die Menschen gern hier bleiben, gern in das Land ziehen und Frauen und Männer einen Sinn darin sehen, Kinder zu bekommen.

(Beifall Dr. Gerhard Bartels, PDS, und Andreas Bluhm, PDS)

Aber machen wir uns bitte bewusst, Kinderzahlen können genauso wenig verordnet werden, wie Abwanderung durch Restriktion zu stoppen wäre.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Ein Denken in Einwohnerzahlen ist statistisch einfach und vor allem übersichtlich. Als Maßstab für Politikqualität halte ich es allerdings mit Blick auf die Langfristigkeit und Komplexität demographischer Prozesse für höchst untauglich. Wir müssen deshalb mehr vom quantitativen zum qualitativen Denken und Handeln übergehen. Denn wir haben doch nach 1990 eins gemeinsam gelernt: Jede Strukturveränderung ist für die demographische Entwicklung bedeutender als die Anzahl der Einwohnerverluste. Ich denke, wir sollten uns an die Ursachen halten und nicht an die Wirkungen. Das bewusste politische Eingreifen auf die Anzahl und die Struktur von Einwohnerinnen und Einwohnern bezeichnen die Demographen eben als Bevölkerungspolitik. Dazu gibt es zwei Wege, um sie zu gestalten, erstens den direkten über Anreize oder Restriktionen und zweitens den indirekten zum Beispiel über sozialpolitische Maßnahmen mit demographischen Effekten oder auch bewusste und unbewusste Unterlassungen, zum Beispiel bei Standortentscheidungen bevölkerungspolitische Komponenten nicht oder doch zu berücksichtigen.

Für mich sind dabei vor allem die langfristigen Wirkungen politischer Entscheidungen und ihre demographischen Folgen von eminenter Bedeutung. Ich meine, wir sind noch nicht sensibel genug, diese Komponenten in unsere Überlegungen einzubeziehen. Um es mit einem Bild aus dem Sport zu beschreiben: Wir müssen über eine lange Strecke in hohem Tempo rudern und dürfen nicht durch sinnlose Sprinteinlagen unsere Kräfte aufs Spiel setzen, um ans gemeinsame Ziel zu kommen. Das heißt nicht, dass nicht bei aktuellen Problemen kurzfristige Maßnahmen notwendig wären, aber auch sie müssen auf ihre perspektivischen Wirkungen geprüft werden. Das Motto sollte heißen: Kontinuität statt Aktionismus.

Meine Damen und Herren, wie bei vielen gesellschaftlichen Prozessen, gibt es in der demographischen Entwicklung eben eine Reihe objektiver, aber auch subjektiver Faktoren. Der Einfluss der Landespolitik auf ihre Gestaltung ist jedoch zu großen Teilen abhängig von den Rahmenbedingungen, die nicht in Mecklenburg-Vorpommern entstanden sind. Wir dürfen deshalb auch nicht so tun, als sei Mecklenburg-Vorpommern eine Enklave, die von bundes- oder europapolitischen Einflüssen verschont bliebe, denn das, was in den letzten zehn Jahren unserem Land an Rahmenbedingungen zugemutet wurde, war für die demographische Entwicklung zumeist kontraproduktiv. Ein besonders schlechtes Beispiel sind die Tarifunterschiede zwischen Ost und West, deren Angleichung offensichtlich in weiter Ferne liegt und die eine wesentliche Ursache für Abwanderung sind.

Wie das wirkt, kann ich an einem kleinen Beispiel belegen. Eine 19-jährige Laborantin kann nach der Lehre, die sie hervorragend abgeschlossen hat, bei uns im Land zwischen zwei Angeboten für einen Arbeitsplatz wählen und da ist sie schon sehr privilegiert:

(Zuruf von Wolfgang Riemann, CDU)

In Schwerin, Herr Riemann, Anfangsgehalt 2.500 DM Brutto ohne weitere Steigerung nach der Probezeit,

Schicht- und Sonntagsdienst im Gehalt enthalten. In Lübeck Anfangsgehalt 3.000 DM Brutto, nach sechs Monaten Probezeit 3.500 DM Brutto (es ist eingetreten) ohne Schicht- und ohne Sonntagsdienst und seit diesem Jahr mit einem betriebseigenen Kindergarten und Elternbeiträgen von 150 DM. Welche Empfehlung, ich frage Sie, welche Empfehlung würden Sie geben, wenn es Ihre Tochter wäre?

(Dr. Berndt Seite, CDU: Nach Lübeck.)

Aber auch die aktuelle Diskussion zu den Abwerbungen von Lehrerinnen und Lehrern oder Polizistinnen und Polizisten in andere Bundesländer fällt uns doch mächtig auf die Füße. Das zwingt uns, eigene Vorschläge und Maßnahmen zusätzlich auf diese äußeren Bedingungen abzustimmen und manchmal auch über die Knüppel zu springen, die uns andere zwischen die Füße werfen.

Zu den objektiven Faktoren dieser Prozesse gehören aber auch die Globalisierung der Wirtschaftsabläufe, die Lebensentwürfe von Menschen, die nicht vorhersehbar und planbar sind, die wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen, die weichen Standortfaktoren und die Offenheit einer Gesellschaft für Zuwanderung und Integration.

Meine Damen und Herren, viel schwieriger als diese objektiven Faktoren sind die subjektiven, das schon deshalb, weil dort mehr Gefühle als Tatsachen die Bewertung bestimmen. Dieses Phänomen kennen wir doch aus dem Bereich der inneren Sicherheit. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen ist schlechter als die objektiv bewertete Situation. Wir sollten uns als Politikerinnen und Politiker davor hüten, eine subjektive Wahrnehmung allein zur Grundlage von Entscheidungen zu machen oder die Ängste der Menschen vordergründig für parteipolitische Profilierungen zu benutzen, die zudem die eigene Verantwortung völlig ignorieren würden.

(Sylvia Bretschneider, SPD: So, wie das die CDU macht. – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Und deshalb lassen Sie mich zur subjektiven Wahrnehmung etwas sagen. Ich möchte das an zwei Faktoren illustrieren:

Abwanderung junger Menschen. Wir wollen, dass sich junge Leute ausprobieren, sich den Wind um die Nase wehen lassen. Es ist dann nicht normal, dass sie sich in die Fremde begeben, sich von ihrem Zuhause trennen, sie sollen und sie sollten sich doch abnabeln. Die spannende Frage ist, ob die Nabelschnur, die sie mit ihrer Heimat verbindet, für immer zerrissen wird oder ob das durch sie fließende Heimatgefühl stark genug ist, um sie später zurückzubringen. Für uns, die wir in der DDR gelebt haben, ist eine grenzüberschreitende Wanderung zudem etwas Neues. Ich kann es nur als Gewinn betrachten, der den Nachteil allemal aufwiegt. Für mich ist auch fraglich, ob die derzeitigen Abwanderungstendenzen außerhalb normaler Gegebenheiten liegen. Wir wissen, dass 30.829 Menschen im Jahr 2000 zu uns ins Land gekommen sind. 40.307 Menschen aber haben unser Land verlassen. 1.786.100 sind in diesem Land geblieben. Wie gestalten wir den Prozess des Gehens und des Kommens oder Wiederkommens so, dass er demographisch und damit gesellschaftlich nützlich ist, und wie sorgen wir für die, die hier bleiben?

Und ein zweites subjektives Moment – Abwanderung und Heimatgefühl –, Mecklenburgerinnen und Mecklenburger, Vorpommerinnen und Vorpommern sind bekann

termaßen ein bodenständiges Volk und unser Land ist doch wirklich ein schönes Fleckchen Erde. Darum muss man sicher mit der Tatsache leben, dass Menschen uns verlassen, weil sie sich aus sehr persönlichen Gründen dafür bewusst entscheiden. Wir dürfen uns allerdings nicht damit abfinden, dass Menschen dieses Land verlassen, weil sie durch ihre wirtschaftliche Situation dazu praktisch gezwungen werden,

(Beifall Dr. Gerhard Bartels, PDS)

denn sie würden bleiben, wenn sie könnten. Der Beweis für diese Bodenständigkeit sind die vielen Pendlerinnen und Pendler, die große Strapazen auf sich nehmen, um in ihrer Heimat zu bleiben. Heimatgefühle und Identität haben offensichtlich eine große Bindungswirkung. Ob diese Bindungen allerdings durch das Internet aufrechterhalten werden können, will ich bezweifeln, denn der Nachteil besteht darin, dass man Familie und Freunde im Gespräch nicht mehr hat, man das Rapsfeld, wenn es blüht, nicht mehr riechen kann und den Baum, der sich in der Jahreszeit verändert, nicht mehr sieht. Es ist mir einfach zu steril.

Was mir Sorge bereitet, ist der subjektive Eindruck zur Bevölkerungsentwicklung im gesellschaftlichen Leben. Es entsteht der Eindruck, die Landesregierung sehe der aktuellen Entwicklung tatenlos zu, und dieser Eindruck wird durch die Opposition in diesem Land massiv verstärkt.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS – Harry Glawe, CDU: Oh, da sind wir noch schuld.)

Das kann die Opposition weiter tun. Ich frage mich jedoch, was dann die gegenteiligen Beteuerungen, man wolle mit dem Thema keine Parteipolitik machen, sollen. Das ignoriert, bedenkt man die Langfristigkeit demographischer Prozesse, ihren maßgeblichen Einfluss in acht Jahren Landes- und Bundespolitik in unserem Land.

(Beifall Dr. Margret Seemann, SPD: Gedächtnisverlust.)

Aber so ist das, wenn man im Jahr 1998 wie Phönix aus der Asche praktisch neu und von allem reingewaschen emporsteigt.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat die Situation erkannt und versucht, darauf zu reagieren und gegenzusteuern. Ich will dabei Beispiele aus drei Bereichen einfach aneinander reihen. Wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch wurden hohe Anstrengungen unternommen, um durch die gezielte Strukturpolitik die industrielle Basis des Landes zu verbessern. Das verarbeitende Gewerbe konnte in den vergangenen Jahren die Talsohle durchschreiten. Die entstandenen neuen Arbeitsplätze werden aber durch die Baukrise aufgefressen. Das Land verstärkt die Förderung von Unternehmen im Hochtechnologiebereich, die gezielte Förderung von Existenzgründerinnen und -gründern, insbesondere eben für junge Frauen.

(Wolfgang Riemann, CDU: Und die Computer bleiben außerhalb der Schulen.)

Das Angebot „Virtuelles Dorf Mecklenburg-Vorpommern“ trägt erste Früchte. Die Standortoffensive der Regierung in Auswertung der guten Erfahrungen und Kooperation bei der BMW-Bewerbung wird fortgeführt. Die Förderung des Tourismus ist ein wesentlicher Standortfaktor und Standortvorteil. Die Arbeitsmarktpolitik wird

auf hohem Niveau weiter betriebsbezogen organisiert und auf Qualifikation ausgerichtet. Das Programm „Jugendund Schulsozialarbeiter“ ist als Einstieg in den ÖBS geschafft und akzeptiert. Jeder Jugendliche, der es will, erhält einen Arbeitsplatz.

(Reinhardt Thomas, CDU: Theoretisch geht es immer vorwärts, praktisch ist es eine Talfahrt.)

Das Programm „Jugend, Arbeit, Zukunft“, Frau Kollegin Bretschneider, ist darauf eingegangen.

Zur Bildung: Mit dem Entwurf des Landeshochschulgesetzes soll die Attraktivität unserer Hochschulen gesteigert werden.

(Wolfgang Riemann, CDU: Das sehen die Hochschulen aber ganz anders.)

Insbesondere soll erreicht werden, dass noch mehr Studierende aus anderen Bundesländern und dem Ausland in Einrichtungen unseres Landes studieren. Und ich bin stolz auf die Einschreibrekorde dieses Jahres zum Beispiel in unserem Land.

(Dr. Berndt Seite, CDU: Ja, da sind gute Leute drunter.)

Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Hochschulen mit der Wirtschaft, insbesondere dem Hochtechnologiebereich, werden verbessert, die Forschung an innovativen und zukunftsträchtigen Projekten wird zielgerichteter unterstützt. Das Konzept zur Regionalschule in Verbindung mit der Rückkehr zum Abitur nach zwölf Jahren verbessert die Qualität und Quantität schulischer Bildung

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

und unterstützt die Sicherung von Standorten trotz zurückgehender Schülerzahlen.

Zur Sozialpolitik: Wir haben

(Wolfgang Riemann, CDU: Wir haben das Erziehungsgeld eingefroren und das Blindengeld. – Zuruf von Harry Glawe, CDU)