Protocol of the Session on October 18, 2000

(Vizepräsidentin Kerstin Kassner übernimmt den Vorsitz.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Die zunehmende Differenzierung der Hilfesysteme erfordert in der sozialen Arbeit, der Wohnungslosenhilfe, der lebenslagenorientierten und gemeindenahen Versorgung mit sozialen Diensten und dem frühzeitigen Erkennen von sozialen Brennpunkten eine solide und regelmäßige Datengrundlage. Und wir haben es heute hier schon gehört, gerade im Sozialbereich, denke ich, kommen wir immer wieder auf das Problem zurück, dass uns häufig kompatible Daten fehlen. Und ich gebe auch Herrn Koplin Recht, dass gerade solide Daten die Grundlage für vernünftiges politisches Handeln bilden.

Mit der Machbarkeitsstudie zur statistischen Erfassung von Wohnungslosigkeit liegt seit 1999 erstmals eine umfassende Analyse zu den methodischen Möglichkeiten der amtlichen Statistik vor, die Zahl und die Struktur der von Wohnungsnot beziehungsweise Wohnungslosigkeit betroffenen Haushalte regelmäßig zu erheben. Das Papier, Herr Glawe, das bereits 1995 von der damaligen Bundesregierung zugesagt worden war, aber leider nicht gekommen ist, bietet damit für die Wohnungslosenpolitik von Bund, Ländern und Gemeinden erstmals eine solide Planungsgrundlage. Dies gilt auch für Mecklenburg-Vorpommern. Experten charakterisieren die Studie als Meilenstein auf dem Weg zur Erstellung einer Wohnungsnotfallstatistik. Das Wiesbadener Amt empfiehlt eine laufende statt der bisher praktizierten Stichtagserhebung. Damit würde es erstmals möglich sein, die Verweildauer der Wohnungsnotfälle in sozialen Problemlagen zu quantifizieren. Das Dokumentationssystem einer zukünftigen Wohnungsnotfallstatistik müsse neben der Zählung der Gesamtzahl der Wohnungsnotfälle eine Totalerfassung der gesamten Wohnungsnot auf gesetzlicher Basis sowie die globalen Bedarfs- und Planungsziffern für die Wohnungspolitik beinhalten. Mit den institutionell untergebrachten Wohnungslosen, den unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen und den in unzumutbaren Wohnverhältnissen Lebenden sowie den Asylbewerbern wären damit relevante Gruppen erfasst, die auf dem Wohnungsmarkt als Nachfrager agieren. Vielleicht wird das bald keine Zukunftsmusik mehr sein.

Dabei beginnt die Schwierigkeit der Erfassung von Wohnungslosigkeit mit der Frage, inwieweit man überhaupt gewillt ist, dieses Problem zur Kenntnis zu nehmen. Ein großer Teil der Wohnungslosen ist nicht dauerhaft untergebracht, sondern im Gegenteil, lebt dauerhaft auf der Straße. Dieser Teil ist durchaus erheblich, trotz Kontakt zu den Einrichtungen und Angeboten der Hilfe für Wohnungslose. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass es zwischen einer dauerhaften Unterbringung und dauerhaftem Leben auf der Straße zahlreiche Mischformen gibt und demzufolge ein großer Teil der Wohnungslosen zumindest zeitweise auf der Straße lebt. Damit wird aber noch überhaupt nicht der Anteil der Wohnungslosen ohne jeglichen Kontakt zu den staatlichen Behörden und den Einrichtungen und Angeboten der Wohnungslosenhilfe erfasst. Was ist mit der Dunkelziffer? Ist das nur ein marginales Phänomen ohne Aussagewert für die Mehrzahl der Wohnungslosen oder ist das eher die Regel bei Menschen, die auf der Straße leben? Während zum Beispiel in der uns vorliegenden Unterrichtung der Landesregierung zur Vermeidung und Behebung von Wohnungslosigkeit mit Stichtag 30.06.1999 von 2.182 Wohnungslosen,

darunter 168 ohne Unterkunft, ausgegangen wird, spricht die Landesarmutskonferenz von etwa 1.500 Obdachlosen und 10.000 Wohnungslosen.

Meine Damen und Herren, die Lösung des Problems der Wohnungslosigkeit stellt eine gesellschaftliche Aufgabe ersten Ranges dar. Neben den tatsächlich Betroffenen sind immer weitere Bevölkerungs- und Berufsgruppen direkt und indirekt, auf jeden Fall aber zwingend konfrontiert. Dies beginnt bei den unmittelbar von Wohnungsverlust bedrohten Menschen und geht über die in der praktischen Sozialarbeit für Wohnungslose Tätigen bis hin zur Politik, wie unsere heutige Debatte zeigt.

Als zutreffend erweist sich die in der Forschung vertretene Auffassung, dass das Wissen um die aktuelle Lebenslage Wohnungsloser, um den Prozess, der in diese Lebenslage führte, und das Wissen um die individuellen Formen der Bewältigung und Verarbeitung von Wohnungslosigkeit die Voraussetzung für eine soziale Arbeit ist. Das Problem liegt meines Erachtens in der Praxis der Wohnungslosenhilfe im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse. Insgesamt muss dabei aufgepasst werden – und das meine ich für Gesamtdeutschland –, dass nicht vorrangig am Flickenteppich von Suppe, Turnhalle und Söckchenspende gestrickt wird. Sinnvolle Arbeit mit und für Wohnungslose zu machen ist unter solchen Bedingungen kaum noch möglich.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Der sozialpolitische Kampf gegen Wohnungslosigkeit bleibt dabei auf der Strecke, kostenintensive Folgemaßnahmen statt kostengünstigere Präventionsmaßnahmen wären die Folge.

(Beifall Dr. Manfred Rißmann, SPD)

In einer von der Gesellschaft für interdisziplinäre Sozialforschung in diesem Jahr erstellten Studie wünschen sich 67 Prozent der befragten Wohnungslosen eine feste Arbeitsstelle, wollen sich beruflich orientieren oder streben eine Qualifizierung an. Die berufliche Qualifikation der befragten Wohnungslosen entspricht etwa dem gesellschaftlichen Durchschnitt. 35 Prozent der Befragten sind ältere, von langer Erwerbs- und Wohnungslosigkeit betroffene Personen, die trotz Motivation kaum noch in normale Arbeitsverhältnisse zu integrieren sind. 37 Prozent sind Langzeitarbeitslose mit kurzzeitiger Wohnungslosigkeit, die häufig aufgrund von Alkoholund Drogenproblemen ihre Arbeit verloren haben, aber als hochmotiviert gelten und mit einer positiven Prognose versehen werden. 28 Prozent sind junge Erwachsene, die von kurzer Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen sind.

Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass der Arbeitsplatzverlust wesentlicher Auslöser für die Wohnungslosigkeit ist. Mit zunehmender Dauer leiden darunter Gesundheit und Psyche. Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme haben daher für beide Personengruppen eine präventive Funktion – für die Gruppe der von Wohnungslosigkeit Bedrohten zur Verhinderung des Wohnungsverlustes und für die Gruppe der Wohnungslosen zur Vermeidung weiterer Deprivation während der Wohnungslosigkeit. Dieser Bereich wird in der vorliegenden Unterrichtung leider überhaupt nicht angesprochen, obwohl gerade Maßnahmen der Eingliederung von besonderer Bedeutung sind. Dies gilt meines Erachtens

auch für mehrschwellige Angebote, die sich an den Voraussetzungen der Betroffenen orientieren. So muss bei Drogenproblemen die Abhängigkeitsbewältigung im Vordergrund der Integrationsbestrebungen stehen, an die sich das Angebot von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten anschließt.

Meine Damen und Herren – zumindest diejenigen, die mir hier jetzt noch zuhören –, da es sich bei der vorliegenden Unterrichtung um eine erste Untersuchung zur Wohnungslosenproblematik handelt, stand im Mittelpunkt eindeutig die Wohnungspolitik.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Was ist denn das da bei der CDU für ein Tratschverein?!)

Die Kürze der Zeit, aber auch die dargestellten Probleme bei der Datenerhebung, das wurde hier auch schon deutlich – quantitative und qualitative Daten zur Wohnungslosigkeit liegen flächendeckend nicht vor, mangels Daten mit Phantasie oder unvollständig ausgefüllte Fragebögen –, ließen offensichtlich eine stärkere Verknüpfung von Wohnungspolitik mit Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht zu. Fraglich ist allerdings, ob das Hinzufügen des sozialen Bereiches als Anlage ausreichend ist.

Auch unter der Überschrift „Prävention gegen Wohnungsverlust“ kommen nur zehn Zeilen, die zudem sehr allgemein gehalten sind. Dafür, dass wir uns alle immer einig sind, dass die Prävention bei der Vermeidung von Wohnungslosigkeit die größte Rolle spielt, kommt dieser Punkt mir persönlich etwas zu kurz. Ich schätze die Aktivitäten der Landesregierung, vor allem auch die finanziellen, damit niemand erfrieren muss, wie Herr Minister Holter es in einer Pressemitteilung erklärt hat, sehr hoch. Dennoch, denke ich, geben mir alle Recht, dass es das Ziel sein muss, dass niemand erst wohnungslos wird.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

Sonst reagieren wir nämlich nur noch.

Einen guten Beitrag für Prävention in diesem Bereich leisten zum Beispiel der ASB und die Stadt Hagenow. Vor einigen Jahren wurde eine Arbeitsgruppe Obdachlosenhilfe gegründet, die sich mittlerweile auf die Region ausgeweitet hat. Hierin haben sich auch andere Vereine und Verbände integriert. Gemeinsam wird neben der konkreten Hilfe bei eingetretener Wohnungslosigkeit der Schwerpunkt auf die Prävention, also die Verhinderung von Wohnungslosigkeit gelegt.

Die Unterbringung wohnungsloser Menschen ist entscheidend für die Chancen der Reintegration in den Arbeitsprozess. Deshalb müssen die drei Bereiche Arbeits-, Sozial- und Wohnungspolitik gleichrangig nebeneinander stehen. Das Absinken während der Wohnungslosigkeit ist katastrophal. Zur Untätigkeit verurteilt verschlechtert sich der Zustand der Menschen dramatisch. Nur eine Vernetzung von Arbeits- und Wohnungs- und Sozialpolitik kann zum gewünschten Erfolg führen und ich denke, wir sind dabei auf dem richtigen Weg. – Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS)

Vielen Dank, Frau Dr. Seemann.

Ich schließe damit die Aussprache.

Kann ich davon ausgehen, dass wir nach der Aussprache die Unterrichtung durch die Landesregierung verfahrensmäßig für erledigt erklären? – Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Petitionsausschusses gemäß § 10 Absatz 2 des Gesetzes zur Behandlung von Vorschlägen, Bitten und Beschwerden der Bürger sowie über den Bürgerbeauftragten des Landes MecklenburgVorpommern, Drucksache 3/1539.

Beschlussempfehlung und Bericht des Petitionsausschusses gemäß § 10 Absatz 2 des Gesetzes zur Behandlung von Vorschlägen, Bitten und Beschwerden der Bürger sowie über den Bürgerbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Petitions- und Bürgerbeauftragtengesetz – PetBüG M-V) – Drucksache 3/1539 –

Das Wort zur Berichterstattung wurde nicht gewünscht.

Im Ältestenrat wurde vereinbart, eine Aussprache nicht vorzunehmen. Wenn es dazu keinen Widerspruch gibt, dann ist das so beschlossen.

Wir kommen hiermit zur Abstimmung.

In Ziffer 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Petitionsausschuss, die in der Sammelübersicht aufgeführten Petitionen entsprechend seinen Empfehlungen abzuschließen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke. Die Gegenstimmen bitte. – Stimmenthaltungen? – Danke sehr. Damit ist die Ziffer 1 der Beschlussempfehlung mit den Stimmen der SPD- und PDS-Fraktion bei Stimmenthaltung der Kollegen der CDU-Fraktion und eines Kollegen der PDS-Fraktion angenommen.

Wer der Ziffer 2 der Beschlussempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Vielen Dank. Die Gegenstimmen bitte. – Stimmenthaltungen? – Danke sehr. Damit ist die Ziffer 2 der Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Kollegen der SPD- und PDS-Fraktion sowie eines Kollegen der CDU-Fraktion bei Enthaltung der übrigen Abgeordneten der CDU-Fraktion und eines Kollegen der PDS-Fraktion a n g e n o m m e n.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 9: Bestellung der Wahlausschüsse gemäß § 26 Absatz 2 Verwaltungsgerichtsordnung und gemäß § 23 Absatz 2 der Finanzgerichtsordnung.

Bestellung der Wahlausschüsse gemäß § 26 Absatz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und gemäß § 23 Absatz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)

Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, CDU und PDS: Bestellung der Wahlausschüsse gemäß § 26 Absatz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und gemäß § 23 Absatz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) – Drucksache 3/1528(neu) –

Meine Damen und Herren, entsprechend einer Vereinbarung im Ältestenrat haben sich die Fraktionen darauf verständigt, gemäß Paragraph 50 Absatz 5 Satz 3 unserer Geschäftsordnung über den Wahlvorschlag offen abzustimmen. Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind. – Das ist offensichtlich nicht der Fall, dann werden wir so verfahren.

Die erforderlichen Sitze für die Vertrauensleute und deren Vertreter wurden nach dem d’hondtschen Höchstzahlverfahren auf die einzelnen Fraktionen verteilt. Danach entfallen auf die Fraktion der SPD jeweils drei Sitze für die Vertrauensleute beider Gremien sowie ebenfalls drei Vertreter für jedes Gremium. Auf die Fraktionen der CDU und PDS entfallen jeweils zwei Sitze in den Gremien und ebenfalls zwei Vertreter.

Entsprechend der Anzahl der zu besetzenden Positionen haben die Fraktionen ihre Vorschläge unterbreitet. Hierzu liegt Ihnen die Drucksache 3/1528(neu) vor, die den interfraktionellen Wahlvorschlag beinhaltet. Darüber lasse ich jetzt abstimmen. Wer also diesem Vorschlag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Vielen Dank. Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Vielen Dank. Ich stelle fest, dass damit alle auf dem interfraktionellen Wahlvorschlag Vorgeschlagenen als Vertrauensleute und deren Vertreter gewählt wurden, und zwar mit den Stimmen aller Mitglieder des Hohen Hauses bis auf zwei Vertreter der CDU-Fraktion.

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluss der heutigen Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung des Landtages für Donnerstag, den 19. Oktober 2000, 9.00 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Vielen Dank.