Protocol of the Session on February 12, 2014

"Im ASD war die […] Sensibilität für das Wohlbefinden des Kindes schlicht abhanden gekommen."

Mit anderen Worten ausgedrückt: Das Wohl des Kindes war nicht mehr im Mittelpunkt des jugendamtlichen Handelns. Letztendlich war das möglicherweise Yagmurs Todesurteil. Es gab jedenfalls eine Kette von Fehlern und Versäumnissen, und man muss befürchten, dass es in Hamburg weitere Fälle gibt, wo Kinder zu ihren Eltern zurückgeführt werden sollen, obwohl diese ihnen Gewalt angetan oder sie misshandelt haben. Man muss befürchten, dass diese Kinder ganz akut gefährdet sind, wenn sie zu ihren Eltern zurückkehren. Deswegen sind wir ungeachtet aller weiteren Untersuchungen im PUA der Auffassung, dass es fahrlässig wäre, abzuwarten, bis diese parlamentarischen Untersuchungen abgeschlossen sind.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Wir wollen dieses Risiko auf jeden Fall nicht eingehen. Um andere Kinder vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, wollen wir deshalb eine Sofortüberprüfung aller Akten von Pflegekindern und Kindern, die in staatlicher Obhut sind, und zwar bei den Kindern, bei denen gerade jetzt eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie vorbereitet wird. Wir sind der Meinung, dass bei Kindern, die gerade aufgrund von Gewaltanwendung und Misshandlung aus ihrer elterlichen Familie genommen wurden und bei denen der Verdacht besteht, dass erneut Gewalt angewendet werden könnte, der Rückführungsprozess vorerst gestoppt werden muss, und das, bis jeder Zweifel ausgeräumt worden ist. Ich denke, das ist das Mindeste, was getan werden muss, bevor wir zu strukturellen Entscheidungen kommen.

Ebenso wichtig ist aber, dass in bestimmten Fällen, wo Kinder – wie im Fall Yagmur – bereits zurückgeführt worden sind und es vorher Verdachtsmomente auf Gewaltanwendung und Misshandlung gegeben hat, das Jugendamt unverzüglich eine Sofortüberprüfung vornimmt, und zwar persönlich bei den Familien. Das Jugendamt muss diese Kinder in Augenschein nehmen, um sicherzustellen, dass sie nicht wieder Opfer ihrer gewalttätigen Eltern werden. Dies muss unverzüglich geschehen.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei den GRÜNEN)

In Anbetracht der Vielzahl der Mängel und der Fehlentscheidungen, die in den Jugendämtern Bergedorf, Eimsbüttel und Hamburg-Mitte getroffen worden sind, sind diese Forderungen ein Gebot der Vernunft. Wir wollen verhindern, dass weitere

(Vizepräsidentin Barbara Duden)

Kinder unter den Augen des Jugendamts ihren gewalttätigen Eltern hilflos ausgeliefert sind.

Hätte es dieses Antrags der Opposition eigentlich bedurft? Das ist normalerweise klassisches Regierungshandeln. Ich habe es vorhin schon gesagt: Dass man nach solch einem schlimmen Vorfall Sofortmaßnahmen ergreift, ist eigentlich selbstverständlich; Herr Scheele, Sie haben es damals nach dem Tod Chantals auch getan.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Er hätte es doch auch gemacht! Da ist doch gar kein Dis- sens!)

Wir haben das immer unterstützt und für richtig gehalten und sind nun ein wenig verwundert, warum es jetzt fast zwei Monate gedauert hat und erst eines Antrags der CDU bedurfte, bevor hier etwas geschehen ist. Ich glaube, es hätte Ihnen gut zu Gesicht gestanden, das selbst und früher zu tun.

(Beifall bei der CDU)

Mir ist diese Untätigkeit ein Rätsel. Vielleicht ist es aber auch so, dass Sie und Ihre Behörde nach diesem Tod in eine Schockstarre verfallen sind – sei es drum. Ich habe als Signal aufgenommen, dass es hier eine breite Unterstützung in der Sache gibt. Das ist richtig so und das zählt am Ende. Wichtig ist, dass diese Akutmaßnahmen natürlich keine breite Aufklärung der Ursachen und Hintergründe ersetzen, die zu dem Tod des Mädchens geführt haben. Das werden wir an anderer Stelle betreiben, im PUA, wie wir es auch schon besprochen haben. Dort brauchen wir diese umfassende Aufklärung und dort werden wir sie hoffentlich auch gemeinsam leisten. – Danke.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort bekommt Frau Dr. Leonhard.

Sehr geehrte Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich will zu den vorliegenden Anträgen, die uns im Rahmen dieses Tagesordnungspunkts beschäftigen und über die wir auch in der Aktuellen Stunde schon ausführlich gesprochen haben, im Wesentlichen drei Punkte sagen.

Erstens gebe ich Herrn de Vries und der CDU uneingeschränkt recht: Es ist nötig, dass in den Fällen, wo es zu Inobhutnahmen, zu einer Betreuung durch das Jugendamt und schließlich zu einer Rückführung gekommen ist, und in allen Fällen, wo eine Rückführung in die Herkunftsfamilie gerade geprüft wird, noch einmal eine umfängliche Sachprüfung in den verschiedenen Jugendämtern stattfindet, möglicherweise auch durch andere als die bearbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Ich denke, wir haben aus dem Fall Chantal gelernt, dass ein zweiter Blick auf solche Fälle dazu führen kann

darüber haben wir auch im Rahmen der Jugendhilfeinspektion gesprochen –, einen einmal eingeschlagenen Weg noch einmal auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Damit machen wir einen ersten Schritt, und das ist der Grund, warum wir Ihren Antrag unterstützen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist zweitens allerdings so – und vielleicht erinnern Sie sich, Herr Dr. Marquard hat es auf der letzten Sitzung des Familienausschusses gesagt –, dass sich um die sehr herausfordernden Grenzfälle der Jugendhilfe bereits gekümmert wird und die entsprechenden Akten auch bereits geprüft werden. Es ist richtig, dass Sie diesen Antrag stellen, und es ist richtig, dass wir ihn mittragen. Diese Arbeiten passieren ohnehin, es ist also überhaupt keine Frage, dass wir diesen Antrag sofort beschließen.

Ich will drittens noch etwas zum Thema Arbeitsfähigkeit, Bedeutung und Stärkung des ASD sagen. Ich glaube, dass die Forderung, die Allgemeinen Sozialen Dienste mit zusätzlichen Stellen zu stärken – die GRÜNEN haben 65 neue Stellen gefordert –, zurzeit außerordentlich populär ist. Trotzdem glauben wir, dass man sich davon jetzt nicht hinreißen lassen sollte. Die Arbeit im ASD ist sehr anspruchsvoll. Im Rahmen der Aktuellen Stunde wurde ausführlich erläutert, was bereits seit 2011 getan worden ist, um den ASD zu stärken. Es ging um die höhere Eingruppierung – E10 statt E9 – und darum, die bereits 2010 entstandene starke Fluktuation hin zu den Amtsvormündern zu stoppen. Außerdem gibt es in den Bezirken ein Bewirtschaftungsverbot bei den Allgemeinen Sozialen Diensten. Das hat es vorher nicht gegeben. Man muss einmal ganz offen sagen, dass die Allgemeinen Sozialen Dienste viele Jahre lang dazu genutzt wurden, um beim Personalbudget der Bezirksämter zu sparen. Das findet nicht mehr statt. Die Stellenbesetzung ist so hoch wie nie. Gleichwohl wollen wir uns der Frage, ob die Allgemeinen Sozialen Dienste in den Bezirken noch darüber hinaus gestärkt werden müssen, damit die Arbeit in den Jugendämtern besser funktioniert, nicht verschließen. Deswegen überweisen wir Ihren Antrag an den Ausschuss und werden ihn dort im Zusammenhang mit vielen anderen Schnittstellenfragen, die wir dort trotz oder gerade wegen des PUA weiterhin beraten, behandeln. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort bekommt Frau Blömeke.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Überprüfung der geplanten Rückführungen von Kindern zu ihren Herkunftsfamilien ist sinnvoll. Wir unterstützen den Antrag der CDU. In der Tat ist es ein wenig selt

(Christoph de Vries)

sam, dass der Senat nicht selber auf diese Idee gekommen ist. Aber gut, da hilft die Opposition gerne mit Impulsen aus. In diesem Fall ist der Antrag von der CDU gekommen,

(Olaf Ohlsen CDU: Der Impuls!)

das ist in Ordnung. Allerdings habe ich, wie Frau Leonhard auch, heraushören können, dass die Jungendämter schon dabei sind zu überprüfen. Aber es ist gut, wenn aus dem Parlament auch noch einmal dieses Signal kommt.

Wir müssen uns allerdings klar machen, dass diese Maßnahme nur eine Reaktion auf den tragischen Tod eines Kindes ist und als Einzelmaßnahme nicht zu einer grundsätzlichen Verbesserung des Kinderschutzes führt; ich habe es eingangs in der Aktuellen Stunde schon gesagt. Aufklärung kann nur der PUA leisten, der den Kinderschutz grundsätzlich auf den Prüfstand stellen und zukunftsweisend konkrete Maßnahmen formulieren soll, mit denen wir in Hamburg den Kinderschutz verbessern können. Das werden wir, das will ich noch einmal ganz deutlich betonen, auch mithilfe von Sachverständigen und Zeugenbefragungen direkt vor Ort tun.

Ähnlich wie nach dem Tod von Chantal, als sämtliche Akten des Pflegekinderwesens überprüft wurden, stellt sich natürlich die Frage, mit welchen Kapazitäten diese Überprüfung geleistet werden soll. Vermutlich wird das wieder durch die Mitarbeiterinnen in den Jugendämtern geschehen, und wir haben nach der Überprüfung der Akten im Pflegekinderwesen nach dem Tod Chantals gehört, dass in der Zeit, während der die entsprechenden Akten überprüft wurden, die eigentliche Arbeit im Jugendamt nicht mehr geleistet werden konnte. Das war so durchaus zu erwarten, denn Frau Leonhard, da möchte ich Ihnen widersprechen, es ist nicht populär, sondern geradezu notwendig, die Stellenanzahl im Jugendamt aufzustocken. Ich hatte in der Aktuellen Stunde erwähnt, dass bereits jetzt, ohne zusätzliche Aufgaben, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Jugendämtern ihrem Wächteramt gar nicht nachkommen können. Ich hatte erwähnt, dass es Berichte der Innenrevision und der Jugendhilfeinspektion gibt, die Überlastung und Zeitmangel deutlich aufzeigen. Wir haben eine derartige Überlastungssituation, dass es zu kollektiven Überlastungsanzeigen kompletter Jugendämter kommt, die die Sorge haben, den Kinderschutz nicht mehr ausreichend bedienen zu können. Das alles hat aber weder dazu geführt, dass der Senat gehandelt hat, noch, wie ich gehört habe, dass er handeln wird.

Ich möchte Ihnen, Frau Leonhard, an dieser Stelle widersprechen. Auch die Innenrevision hat deutlich gesagt, dass die Dokumentation mit 70 Prozent zu hoch ist. Ich habe das Wort JUS-IT nicht in den Mund genommen, sondern wiedergegeben, was die Innenrevision gesagt hat – ich zitiere –:

"Der hohe zeitliche Mehraufwand für Verwaltungs- und Dokumentationstätigkeiten, die […] 70 Prozent der Tätigkeit im ASD ausmachen, erscheinen der IR sehr hoch. Der restliche Anteil bleibt für die fachlich qualitative Betreuung und Beratung der Kinder, Jugendlichen und Eltern beim ASD."

Und jetzt kommt ein wichtiger Punkt, wie ich finde:

"Hausbesuche seien bei den Familien aus den hier vorgebrachten mangelnden Kapazitäts- und Ressourcengründen in der Regel nicht möglich."

Das ist das Ergebnis, zu dem die Innenrevision in ihrem Bericht gekommen ist. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Ergebnisse der Jugendhilfeinspektion zu sagen, die Forderung nach mehr Mitarbeitern im Jugendamt sei populär, finde ich etwas anmaßend.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist mir wichtig, dass auch im Bericht der Jugendhilfeinspektion festgestellt wird, dass Aktenstudium und Hilfeplangespräche aus Zeitmangel eben nicht stattfinden konnten. An dieser Stelle sei zum wiederholten Male auch auf unsere Anfragen und die Antworten des Senats hingewiesen, in denen der Senat selber zu dem Ergebnis kam, dass ein Mitarbeiter durchschnittlich 90 Fälle bearbeiten muss. Ich weiß sehr wohl, dass der Senator immer wieder ausführt, Fall sei nicht gleich Fall, es gebe Fälle, die weniger anstrengend seien als andere und man müsse das bewerten. Das will ich gar nicht in Abrede stellen, aber die Aussagen, die uns in den letzten drei Jahren erreichen, sind alarmierend. Es ist alarmierend, wenn nicht genügend Hausbesuche stattfinden können, um sich vor Ort mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass es den Kindern gut geht. Da nützen die besten Kontrollvorschriften in den Jugendämtern nichts. Da nützt es auch nichts, die geplanten Rückführungen durch erneutes Aktenstudium zu kontrollieren, wenn wir nicht die Kinder vor Ort in Augenschein nehmen. Kein Schreibtischmitarbeiter ersetzt diese Aufgabe des ASD.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deswegen finde ich es so existentiell wichtig, dass wir jetzt sofort handeln und sofort 65 Stellen schaffen. Das Geld dafür ist in unserem Antrag gegenfinanziert. Damit kommen wir erst einmal dem ersten Druck entgegen und zeigen den Mitarbeitern im ASD, dass wirklich das gesamte Parlament hinter ihnen steht.

Der Senat hat unserer Meinung nach die Warnsignale nicht ernst genommen; das wurde leider von Frau Leonhard eben noch einmal bestätigt. Wir haben gehört, was der Senat meint, alles getan zu haben, aber die Arbeitssituation vor Ort hat sich dadurch nicht konkret verbessert. Ich bin froh,

wenn die Mitarbeiter mehr Gehalt bekommen, aber damit ist eben nicht eine Stelle mehr geschaffen worden.

Die Arbeitssituation in den Jugendämtern hat unserer Wahrnehmung nach in den vergangenen drei Jahren keine hohe Priorität für diesen Senat gehabt. Das ist vor dem Hintergrund, dass wir hier – Herr Yildiz sagte es vorhin – das sechste tote Kind innerhalb von zehn Jahren und das zweite tote Kind innerhalb von zweieinhalb Jahren haben, dramatisch. Ich weiß nicht, Herr Senator, wie viele Warnsignale Sie noch brauchen, wie viele Aussagen, wie viele Berichte, wie viele Überprüfungen, bevor Sie zu der Erkenntnis kommen: Wir müssen jetzt sofort handeln. Das Personalbemessungssystem wird mit Sicherheit zu dem Ergebnis kommen, dass 65 Stellen nicht einmal ausreichend sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Jugendämter brauchen jetzt und schnell und spürbar Entlastung, um den Kinderschutzauftrag zu erfüllen. Daher fordern wir in unserem Antrag die 65 Stellen, und ich hätte mir gewünscht, dass die SPD den Antrag nicht nur überweist, sondern jetzt und hier Tatkraft zeigt und ihm zustimmt. Es reicht einfach nicht, nur die vakanten Stellen aufzufüllen, wir brauchen eine grundsätzliche Erhöhung des Stellenschlüssels. Ich hatte vorhin erwähnt, dass die letzte grundsätzliche Erhöhung dieses Stellenschlüssels unter Schwarz-Grün geschehen ist. Damals haben wir 33 zusätzliche Stellen geschaffen. Das reicht aber nicht, weil die Anforderungen an den ASD weiter gestiegen sind, weil wir immer mehr Familien haben, die Hilfen benötigen, und weil auch die Meldebereitschaft gestiegen ist. Die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge binden natürlich auch Kapazitäten. Wir haben einfach gestiegene Anforderungen an die Jugendämter, und deswegen brauchen wir diese Sofortmaßnahme.

Ich will noch kurz ein Wort zu dem Antrag der SPD und zur Akteneinsicht sagen. Im Sinne der Transparenz finde ich es gut, dass die SPD den Antrag gestellt hat, es allen Parlamentsabgeordneten zu ermöglichen, die Akten einzusehen. Ein bisschen komisch ist das aber schon, wenn ich an das Verhalten von Senator Scheele in den Ausschüssen zurückdenke, wo wir eher vor einer Mauer des Schweigens gestanden haben als vor der Bereitschaft, auch nur irgendetwas zu sagen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber diese Einsicht kommt besser spät als nie. Ich würde die SPD allerdings bitten, noch einmal deutlich zu machen – das wird der Senat auch noch prüfen –, in welcher Form die Akten dieses Parlament erreichen, denn eine Frage hatte ich in der Tat, und die konnte auch die Bürgerschaftskanzlei mir nicht beantworten. Der Bericht der Jugendhilfeinspektion soll jetzt auch das gesamte Parlament

erreichen. Aber da steht nicht, in welcher Fassung er das Parlament erreichen soll. Wenn ich daran denke, mit welcher Verschwiegenheit wir für den Bericht versehen wurden, dann passt das nicht zusammen. Aus diesem Grund haben wir uns erst recht gewundert, wie viele Einzelheiten aus dem Bericht doch in der Presse gelandet sind.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Die haben das bestimmt nicht weitergegeben!)

Unterlagen, die Abgeordnete der Oppositionsfraktionen nicht haben konnten, und auch Informationen aus den Akten von Yagmur, aus den Jugendamtsakten, sind bei der Presse gelandet, wo man sich doch fragen muss, welche Wege diese Informationen wohl gegangen sind.