Protocol of the Session on May 29, 2008

Nach all den schrecklichen Fällen und Vorfällen der vergangenen Jahre, nach Jessica und all den anderen, nachdem uns der Senat jahrelang immer wieder das Hohelied des dichten Netzes der Hilfeeinrichtungen hier gesungen hat, müssen wir jetzt schon wieder erfahren, dass das System nicht funktioniert hat. Die Schule, der Kinder- und Jugendnotdienst, die Polizei, die Staatsanwaltschaft, alle waren irgendwann mit Morsal und ihrer Familie befasst, aber eine wirksame Hilfe gab es nicht.

Morsal ist über Jahre von ihrer Familie bedroht, geschlagen, getreten, misshandelt, gewürgt worden, ihr ist ein Zahn ausgeschlagen worden, es ist unglaublich. All diese Details und noch viel mehr, was wir inzwischen wissen, waren dem Senat bekannt. Der Fall war der Jugendhilfe bekannt, die Schule wusste Bescheid, die Polizei und der Jugendnotdienst waren immer und immer involviert, aber geholfen hat dem Mädchen am Ende niemand.

Deshalb lautet die zentrale Frage, von der Sie hier abzulenken versuchen: Haben die beteiligten Dienststellen und hat die verantwortliche Behörde alles getan, um Morsal zu schützen oder sind die beteiligten Dienststellen und der verantwortliche Fachsenator mitverantwortlich für Morsals Tod? Der CDU-Senat hat beharrlich und jahrelang die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten nicht genutzt, die ihm zur Verfügung standen, Morsal zu helfen. Sie haben zwangsläufige Schlussfolgerungen nicht gezogen, das ist heute schon offensichtlich. Es ist unvorstellbar, aber Sie haben offensichtlich keinen Zusammenhang zwischen all den bekannten Vorfällen rund um Morsal hergestellt. Es gab nicht einmal eine Fallkonferenz zu dem Mädchen. Sie haben nicht einmal geprüft, ob ein Sorgerechtsentzug überhaupt infrage kommt. Sie haben Morsal, obwohl sie in staatlicher Obhut war, nicht geschützt. Sie haben sie wieder zu ihrer Familie geschickt und damit letztendlich in den Tod.

(Wolfgang Beuß CDU und Farid Müller GAL: Wer hat sie denn geschickt?)

Von Schutzhaft, Frau Machaczek, ist hier nicht die Rede, das ist der falsche Begriff. Senator Wersich hat auf der Landespressekonferenz den Eindruck erweckt, es hätte keine Möglichkeit gegeben, Morsal auch gegen ihren Willen in der Obhut zu behalten, höchstens als Ultima Ratio, denn – der stellvertretende Amtsleiter hat es vorgetragen – es habe ja keine Gefahr für Leib und Leben des Mädchens vorgelegen. Was, wenn nicht Morsals Martyrium, das den Behörden bekannt war, wäre denn ein Fall, bei dem diese Ultima Ratio greifen würde? Beantworten Sie uns bitte diese Frage.

(Beifall bei der SPD und bei Kersten Artus DIE LINKE – Viviane Spethmann CDU: Ha- ben Sie die Antwort?)

Senator Wersich möchte nicht an dieser Debatte teilnehmen, er ist auch erst seit Kurzem Senator dieser Behörde, aber als Staatsrat trägt er schon lange politische Verantwortung.

(Wolfgang Beuß CDU: Das ist unver- schämt!)

Hier wurde nicht alles getan, ein Mädchen vor Gewalttaten zu schützen. Es hat am Ende zu ihrem Tod geführt, dafür trägt Senator Wersich die politische Verantwortung.

(Bettina Machaczek)

Ich will mit einem Zitat von Bürgermeister von Beust schließen, der von dieser Stelle aus gesagt hat:

"Die Gretchenfrage ist doch, welche Verantwortung der- oder diejenige hat, die als Senator oder Staatsrat an der Behördenspitze steht. Das ist die entscheidende Frage der politischen Verantwortlichkeit."

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Kersten Artus und Elisabeth Baum, beide DIE LINKE)

Das Wort bekommt Frau Güclü.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Frau Veit, ich muss mich doch etwas wundern. Hier haben wir es mit einem Fall zu tun, bei dem wir alle bemüht sind, ihn richtig zu analysieren, um zukünftig daraus die richtigen Handlungsschritte abzuleiten, und der Senat hat schnell und auch richtig reagiert.

Ich möchte eines vorwegschicken: Die SPD tut in dem einen Fall jetzt sehr entsetzt. Wir sind alle sehr berührt, dass so ein Fall mitten in unserer Gesellschaft passieren kann, aber ich möchte zu bedenken geben, dass wir auch in Zeiten von SPDRegierungen 1991, 1994 und 1997 abscheuliche Greueltaten erleben mussten, zum Teil vor den Hamburger Frauenhäusern, aber auch in der Nähe von Beratungsstellen, die nicht einmal spezifische Frauenberatungsstellen waren. Es ist ein Problem, mit dem die ganze Gesellschaft zu tun hat, nicht nur wir in Hamburg, und ich werde Ihnen das gleich noch einmal erläutern.

(Dirk Kienscherf SPD: Da sind wir aber ge- spannt, Frau Güclü!)

Meine Kollegin Frau Blömeke wird Ihnen im Anschluss auch noch aus jugendpolitischer Sicht Näheres dazu sagen.

Der Mord hat uns alle tief berührt, ein Mord aus vermeintlicher Ehrverletzung. Natürlich finden wir alle, dass dieses in unserer Gesellschaft keinen Platz haben sollte und trotzdem passiert es. Morsal muss in den zurückliegenden Jahren die Hölle durchlitten haben und war zerrissen zwischen dem patriarchalischen Familienleben – den Bruch mit der Familie hat sie nicht hinbekommen – und dem Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Aber Morsals Schicksal ist nicht das erste in Hamburg und auch nicht in der Bundesrepublik. Er reiht sich ein in eine Kette von langen Greueltaten von 40 sogenannten Ehrenmorden – ich finde diesen Begriff furchtbar – in der ganzen Bundesrepublik in den letzten sechs Jahren. Was kann ein Mord mit Ehre zu tun haben, wir sollten diesen Begriff gar nicht erst verwenden.

(Beifall bei der GAL, der CDU und bei Nor- bert Hackbusch DIE LINKE)

Egal, was das Motiv ist, Mord ist Mord und muss mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden. Aber die Herausforderung, vor der wir stehen, ist, wie gelingt es uns, Prävention zu leisten, wie gelingt es uns, die Familien zu erreichen, wie gelingt es uns, früh mit Jungenarbeit zu beginnen und eine breite Aufklärungsarbeit zu machen. Hier sage ich sehr deutlich: Es darf und kann keinen Kulturrabatt geben. Das sage ich sehr bewusst und das möchte ich hier unterstreichen.

Aber ich möchte auch ein paar andere Zahlen nennen. Nach einem Bericht der EU-Kommission von 2005 sterben in den 15 alten EU-Mitgliedsstaaten jährlich 700 bis 900 Frauen, und zwar durch die Hand ihrer Partner oder Ex-Partner. 2007 waren es in Spanien 71 Frauen, Frankreich ist hier Spitzenreiter. Alle vier Tage wird eine Frau durch Beziehungsgewalt ermordet. Die Arbeit in der Bundesrepublik, die vor 30 Jahren begonnen hat, um genau diese Verbrechen zu bekämpfen, hat erst 2002 durch die Einführung des Gewaltschutzgesetzes eine wirkungsvolle Maßnahme erfahren. Wir wissen aus der ersten Studie des Bundesministeriums von 2002, dass Gewalt ein ziemlich verbreitetes Problem ist, und zwar ein globales Problem.

Wir wissen aber auch, dass in dieser ganzen Debatte – das ist traurigerweise aus der SPD gekommen – sehr schnell pauschale Lösungen gefunden wurden. Die Analysen hießen, das sei ein Problem aus den Migranten-Communitys, es gab eine Diskussion um Erschwerungen von Einbürgerungen, es gab eine Diskussion um Abschiebungen. Das halte ich alles für ziemlichen Populismus,

(Beifall bei der GAL und der CDU)

weil es hier um wirksame Maßnahmen geht, wie Menschen geschützt werden können. Ich möchte noch einmal deutlich sagen: Unser aller Interesse ist es, alle Bürgerinnen zu schützen und solche abscheulichen Taten dürfen in dieser Stadt nicht passieren. Ich finde, der Senat hat hier sehr gut gehandelt.

(Dirk Kienscherf SPD: Das zu sagen ist un- glaublich!)

Der Ansatz, bei Familienkonflikten von einem worst case auszugehen, ist der richtige Ansatz. Es ist endlich ein Paradigmenwechsel, den wir außerordentlich begrüßen, flankiert mit der Einstellung von interkulturellem Personal in den Schulen, die die Möglichkeit haben, Brücken zu den Elternhäusern zu bauen, früh Kontakte zur Jugendhilfe aufzunehmen. Das ist der richtige Weg; ich bin gespannt auf Ihre Alternativen.

Ich bin überzeugt davon, dass parallel dazu der Ausbau der interkulturellen Gewaltberatungsstellen mit den speziellen Unterkunftsmöglichkeiten für die

(Carola Veit)

jungen Frauen der richtige Weg ist. Auf diesem Weg müssen wir konsequent und entschlossen weitergehen. Nur beides zusammen, Prävention und der Schutz von Leib und Leben, sind der richtige Weg.

Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Vielleicht werden wir es nicht schaffen, trotz aller Mühe Einzelfälle zu verhindern, aber ich bin mir sicher, dass die Maßnahmen wirkungsvoll sein werden und es unser aller Pflicht ist, das Risiko, das grundsätzlich global für Frauen besteht, zu minimieren. – Danke schön.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Das Wort bekommt Frau Schneider.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Jeder Mord wird konsequent verfolgt und bestraft. Nun gibt es niemanden in diesem Haus, der das so allgemein, wie das formuliert ist, bestreiten will. Die vielleicht zufällige Häufung schwerer Gewalttaten – es gab nicht nur den furchtbaren Fall Morsal, es gab zum Beispiel ein Ehedrama mit tödlichem Ausgang und es gab andere Gewalttaten – in den letzten Wochen beunruhigt. Sie betrifft uns als Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und sie ist zu allererst Anlass von Trauer um die vernichteten und zerstörten Leben. Jedes Leben ist einmalig.

Allerdings scheint es mir nötig, zu erinnern, dass die Verfolgung und Bestrafung von Straftaten in die Verantwortung von Polizei, Staatsanwalt und Gericht fällt. Unsere Verantwortung, die Verantwortung der Politik und des Parlaments, ist eine andere. Sie setzt auch nicht erst da ein, wo es um die Frage geht, ob die Gesetze ausreichen und angemessen sind. Sie setzt vielmehr viel früher ein, nämlich bei der Frage, was zu tun ist, um Gewalt vorzubeugen und zu verhindern. Was ist erstens zu tun, um die Umstände, die Kriminalität, Aggressionen und Gewalt erzeugen, zu verändern? Zweitens: Welche institutionellen Möglichkeiten können und müssen bereitgestellt werden, um Konfliktbewältigung zu unterstützen und schließlich auch Leben zu retten? Drittens natürlich: Welcher Schutz muss in den konkreten Fällen geboten werden?

Die Ursachen von Aggressionen und Gewalt sind mit Sicherheit vielschichtig. Die Fortexistenz blutiger archaischer Rechtsvorstellungen und ihr Zusammenprallen mit den modernen Lebensweisen gehören dazu. Aber zu den Ursachen gehören auch – jedenfalls nach den wissenschaftlichen Forschungsergebnissen – Diskriminierungserfahrungen junger Migranten. Des Weiteren produzieren die gesellschaftlichen Modernisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse Verlierer und führen dazu, dass Menschen an den sozialen Rand und in ausweglose Situationen gedrängt werden, Situatio

nen, in denen dann vielleicht auch die Mittel fehlen, Konflikte zu bewältigen, zum Beispiel, weil die Partner, die es nicht mehr zusammen aushalten können, sich aus sozialer Not nicht trennen können. Viele, vielleicht die meisten schweren Gewaltdelikte werden in zugespitzten Konfliktsituationen begangen. Politik, die Gewalt vorbeugen und Gewaltdelikte so weit wie möglich verhindern will, muss an diesen vielschichtigen Ursachen ansetzen und die Umstände ändern, die zu Gewalt und Aggressionen führen, und zwar vor allem und zuallererst durch sozial regulierende Maßnahmen, das heißt durch Maßnahmen, die soziale Ausgrenzung beenden, nicht zuletzt auch durch die Bekämpfung jeder Art von Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten und die Stärkung der demokratischen und gleichberechtigten Partizipation aller in dieser Stadt lebenden Menschen. Es geht dann aber auch um die Schaffung beziehungsweise Ausweitung institutioneller Möglichkeiten, damit Beziehungen, die konfliktartig eskalieren, beendet werden können. Kürzungen bei den Frauenhäusern zum Beispiel – wie in der vergangenen Legislaturperiode durchgezogen – sind hierbei absolut kontraproduktiv.

Geradezu verantwortungslos haben die Behörden anscheinend im Fall der getöteten Morsal O. gehandelt. Trifft die Darstellung in "Der Welt" vom heutigen Tage auch nur annähernd zu, dann liest sich die Eskalation des Konflikts über Jahre hinweg wie die Chronik eines angekündigten Todes. Was Sie, Frau Machaczek, gesagt haben, war scheinheilig. Ich zitiere aus dem Paragrafen 230 des Strafgesetzbuchs, in dem es zum Thema Strafantrag heißt – ich mache ein paar Auslassungen:

"Die vorsätzliche Körperverletzung …"

um die es ging –

"… nach Paragraf 223 … [wird] nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält."

(Wilfried Buss SPD: Hört, hört!)

Die Misshandlungen waren bekannt. Das öffentliche Interesse kann überhaupt nicht bestritten werden. Was ist getan worden, um das Leben dieser jungen Frau zu retten? Wir fordern die umfassende Aufklärung der jugend- und familienrechtlichen Maßnahmen und der staatsanwaltlichen Ermittlungen. Wir fordern insbesondere Aufklärung, warum hier nicht nach Paragraf 230 gehandelt wurde. Darüber hinaus will ich dafür plädieren, dass Sie sich alle ernsthaft mit dem von uns in die Diskussion gebrachten Vorschlag befassen – nicht hier, nicht heute, aber vielleicht in den nächsten Wochen –, eine Enquete-Kommission ins Leben zu ru

(Nebahat Güclü)

fen, die sich mit den Ursachen von Gewalt befasst und Anregungen für die Erarbeitung langfristiger Strategien zur Gewaltprävention gibt.

(Beifall bei der LINKEN – Olaf Ohlsen CDU: Normalerweise ist das ein Arbeitskreis!)

Das Wort bekommt Senatorin Goetsch.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Frau Veit, Herr Wersich ist auf der Jugendministerkonferenz.

(Frank Schira CDU: Das weiß sie auch!)

Und es ist selbstverständlich, dass wir hier – wie wir das auch schon gemeinsam auf der Pressekonferenz am Dienstag gemacht haben – die Bereiche, die die Behörde für Soziales und meine Behörde anbetreffen, nicht nur in der Analyse, im Sachstand und in der Aufklärung angehen, sondern – auch sehr schnell am Dienstag in den Bereichen, die uns betreffen – erste Schlussfolgerungen ziehen. Ich werde sie gleich im Einzelnen und im Detail noch einmal aufführen. Wichtig ist dabei aber, dass wir wirklich diese gesellschaftliche Debatte brauchen, die notwendiger denn je ist. Es geht nicht darum, in irgendeiner Form etwas zurückzuhalten oder zu verheimlichen. Deshalb haben die Fraktionen auch die Debatte "Kein kultureller Dispens für Mord" angemeldet. Es ist schon sehr und zutiefst schockierend. Solch ein Mord ist eine Schandtat und diese junge Frau, Morsal, hatte versucht, von dem Recht auf Selbstbestimmung in Deutschland Gebrauch zu machen. Das ist nicht gelungen. Da gibt es jetzt mehrere Gründe für das, was da zwischen Selbstbestimmung und Bindung passiert ist. Es ist richtig, was hier schon mehrfach gesagt wurde: Für einen Mord kann es nie eine Rechtfertigung geben, keine soziale, keine kulturelle und keine religiöse. Mustafa Yoldas, der Vorsitzende des SCHURA, hat in einer Zeitung richtig gesagt – Zitat: