Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Gerade nach dem Redebeitrag von Frau Veit ist mir wieder klar geworden, dass wir zunehmend in dieser Debatte um die Vorsorgeuntersuchungen eine Schräglage bekommen, die dringend korrigiert werden muss.
Durch die Darstellung in den Medien, die aber auch immer von der SPD in der Richtung gefüttert werden, wird der Eindruck erweckt, dass wir nur verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen bräuchten und kein Kind würde mehr Vernachlässigung erleiden oder gar an Vernachlässigung sterben.
Herr Kienscherf, das ist ein sehr verkürzter Lösungsansatz für die komplexe Problemlage, die wir bei Kindesvernachlässigung haben.
Wir müssen uns alle immer klar machen, dass Vorsorgeuntersuchungen keine Wunderwaffe gegen Kindesvernachlässigung sind,
ebenso wenig wie Kinderärzte keine Elternpolizei sein können und auch nicht sollen. Vorsorgeuntersuchungen sind ein Baustein im Maßnahmenkatalog für mehr Kinderschutz, nicht mehr und auch nicht weniger.
Erste Vizepräsidentin Barbara Duden (unterbre- chend): Frau Blömeke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kienscherf?
Dass Vorsorgeuntersuchungen nur ein Baustein im Kinderschutz sind, sollte uns der Fall Lara auch deutlich machen. Der Fall Lara ist eine komplexe Problematik in punkto Kindesvernachlässigung, die nicht nur den Schrei nach Vorsorgepflicht auslösen kann. Ich habe aber zunehmend das Gefühl, dass die Diskussion hier in die völlig falsche Richtung geht.
Lara hatte eigentlich – eigentlich, betone ich – die beste Vorsorge gehabt, die wir uns fachpolitisch wünschen können. Es gab bereits von Geburt an eine Betreuung durch das Jugendamt, es gab eine mehrmals in der Woche stattfindende Familienhilfe. Eine derart intensive Betreuung ist eigentlich mehr wert als jede Vorsorgeuntersuchung in größeren Zeitabständen.
Die Fragen, die wir uns stellen müssen, die auch richtig sind und beantwortet werden müssen, sind doch ganz andere. Das ist zum Beispiel die Frage, ob die Hilfeplanung des Jugendamts Hamburg-Mitte wirklich fachlich richtig angelegt war. Gab es Mängel bei der Durchführung durch den Freien Träger? Warum hat die Familienhelferin nicht bemerkt, dass das Kind immer dünner wurde? Wurden die fachlichen Standards, die übrigens der Bezirksamtsleiter Schreiber nicht erst erfinden musste, sondern die es bereits gibt, eingehalten oder nicht? Bemerkenswert ist auch die Aussage der Mutter, die sagte, sie hätte Lara nicht zum Arzt gebracht, weil sie Angst vor dem Jugendamt hatte. Das sind doch Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Mich wundert, dass Frau Veit sich noch einmal hier hinstellt nach der Sitzung gestern, in der wir gemeinschaftlich mit der Vorsitzenden vereinbart hatten – und den Vorsitz im Ausschuss hat Frau Veit –, das Thema von der Tagesordnung zu nehmen, wenn es keine neuen Erkenntnisse gibt.
Mit den Fragen zu diesem Fall werden wir uns auseinandersetzen und wir werden eine lückenlose Aufklärung machen.
(Kai Voet van Vormizeele CDU: Haben Sie einen Freibrief oder was! – Dirk Kienscherf SPD: Das ist gelogen!)
Erste Vizepräsidentin Barbara Duden (unterbre- chend): Herr Kienscherf und Frau Veit, ich ermahne Sie, zur parlamentarischen Gelassenheit zurückzukehren.
Wir können jetzt hier in parteipolitische Plänkeleien verfallen, aber ich glaube, das ist nicht das, was bei diesem Fall interessiert.
Zurück zu den Vorsorgeuntersuchungen. Unabhängig vom Fall Lara hatte diese schwarz-grüne Koalition bereits einen Antrag eingereicht, die Vorsorgeuntersuchungen mit einem verbindlichen Einladewesen auszustatten. Es geht hier nicht um eine Pflichtteilnahme und auch nicht um Zwangsmaßnahmen, sondern darum, dass wir die Familien identifizieren wollen, die möglicherweise Hilfebedarf und Unterstützungsbedarf haben. Das kriegen wir hin durch ein verbindliches Einladewesen. Früherkennungsuntersuchungen können Hinweise auf mögliche Defizite in diesem Bereich geben. Es ist auch richtig, bislang haben wir nur die U6 und U7 mit diesem verbindlichen Einladewesen ausgestattet.
Ich finde es auch legitim, jetzt zu fragen, ob das ausgeweitet werden soll, vielleicht auf frühere U-Untersuchungen. Aus diesem Grund – deshalb greife ich jetzt auch der Debatte nachher vorweg – sind wir durchaus dafür, im Gesundheitsausschuss eine Expertenanhörung zu diesem Thema zu machen.
Dann würden Sie vielleicht auch die Erfahrungswerte anderer Bundesländer mit aufgreifen, die möglicherweise – wir gehen offen in die Sitzung hinein – auch zu dem Ergebnis kommen, dass Vorsorgeuntersuchungen kein Kinder-TÜV sind und dass viel wichtiger als Vorsorgeuntersuchungen die Angebote der frühen Hilfe sind. Frühe Hilfen wie Familienhebammen, Beratungsangebote, Stärkung der Elternkompetenz, Betreuung durch das Jugendamt, das alles sind Hilfen, die wahrlich nachhaltig sind. Ein Baustein von den Maßnahmen zum Kinderschutz sind die verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen, die uns ebenso wichtig sind wie Ihnen, Frau Veit.
Der Vorwurf, dieser Senat hätte nicht gehandelt, trifft diesen Schwarz-Grün-Senat bestimmt nicht. Wir haben die Anzahl der Familienhebammen verdoppelt und die Anzahl der ASD-Mitarbeiter um insgesamt 40 aufgestockt. Was Sie behaupten, entspringt Ihrer Fantasie.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Tod Laras ist eine weitere Tragödie in der Geschichte unserer Stadt. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist, und sicher auch nicht das letzte Mal, dass ich mit ansehen muss, wie die CDU-GAL-Koalition mit solchen tragischen Fällen umgeht.
Seit mehr als vier Jahren verspricht der Senat vollmundig, eine Regelung zu Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder zu schaffen und Lücken in den Vorsorgeuntersuchungen zu schließen. Ich verweise auf die Worte der ehemaligen Sozialsenatorin Frau Schnieber-Jastram – ich zitiere –:
"… werden wir die Empfehlungen des Ausschusses umsetzen … Ich nenne hier beispielsweise die Initiative, die U1- bis U9-Untersuchung verpflichtend zu machen."
Wir sehen, dass sich rein gar nichts getan hat. Seit dem Tod der kleinen Jessica, der Anlass zu diesen Versprechungen war,
Nennen Sie mir einen Grund, warum man nicht alle Vorsorgeuntersuchungen verpflichtend machen sollte? Mehr als die Kostenfrage werden Sie hier nicht anführen können. Warum werden Sie so geizig, wenn es um die sozial Schwachen in dieser Stadt geht? Wenn aber auch die Vorsorgeuntersuchungen gesetzlich verpflichtend sind, was wir wollen, sollte das nicht dazu führen, dass man die Hilfsangebote streicht.
Senator Wersichs Konzept zeigt – er drückt sich wie üblich bei der CDU in wirtschaftlichem Fachjargon aus –, dass die Hilfen im Bereich des Kinderund Jugendschutzes immer weiter gesenkt wurden. Am Beispiel der kleinen Lara wird die Kostensenkungspolitik des Senators im Kinder- und Jugendbereich deutlich. In seinem Konzept gibt er als Ziel an, die Hilfebezugsdauer zu senken.
Durch die vom CDU-GAL-Senat diktierten Sparmaßnahmen wird großer Druck auf die Hilfe leistenden Träger ausgeübt; diese müssen überall sparen. Dadurch können sie nicht auf alle Einzelheiten der Betreuung achten.
Genau das geschah bei Laras Familie, als die wöchentliche Betreuungszeit von zehn auf fünf Stunden gesenkt wurde und zwischen dem letzten Besuch der Betreuung acht Tage vergingen, bevor Lara verstorben ist.
Kindern erläutern. Trotz erhöhtem Betreuungsbedarf – die Ursachen sollten Ihnen allen bekannt sein – wurde und wird die Anzahl der geleisteten Hilfen gesenkt beziehungsweise soll weiter gesenkt werden.
Unter dem Strich sind das laut Wersichs Konzept mehr als 21 Millionen Euro Ersparnisse am Kindeswohl. Das will er unter anderem durch – ich zitiere –:
"Vermeidung kostenintensiverer Heimunterbringung"… "Geringere Aufwendungen und kürzere Hilfen"… "Reduzierung der Zahl ambulanter Hilfen zur Erziehung"
Meine Damen und Herren des Senats, Herr Wersich! Hören Sie auf, Kinder- und Jugendbetreuung unternehmerisch zu führen. Wir reden hier nicht von Betriebskostensenkungen zur Erhöhung des Profits oder der Effizienz, wir reden hier von dem Wohl der Kinder unserer Stadt.