Protocol of the Session on January 23, 2002

Uns irritieren einige Äußerungen in Ihrem Koalitionsvertrag, um noch einmal gegen das zu sprechen, was Sie gesagt haben.

Sie haben dort Hinweise, dass Sie es richtig finden, Schülerinnen und Schüler stärker vom Gymnasium aus der Orientierungsstufe zu verweisen. Sie haben auch kein Problem damit, zu verstärken, dass Schulen in sehr heterogenen Stadtteilen ausschließlich Kinder aus sozial schwachen Familien aufnehmen. Das geht in die falsche Richtung. Wir werden Ihre Bildungspolitik, für die Sie die Verantwortung tragen, an einer Zahl messen, und das ist die Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten in Hamburg.

(Burkhardt Müller-Sönksen FDP: Das ist Quantität!)

Wir haben die bundesweit höchste Quote von 35 Prozent und PISA sagt uns, das ist nicht zu viel, das ist viel zu wenig. Das ist zu wenig für die Jugendlichen, deren Wahlmöglichkeiten ein Leben lang offen gehalten werden müssen, und das ist auch zu wenig, um im internationalen Wettbewerb qualifizierte Arbeitskräfte bereitzuhalten. Wenn bei Ihnen und bei Äußerungen der FDP und der CDU durchdringt, dass es Ihnen darum geht, Schülerinnen und Schüler von Gymnasien und Gesamtschulen zu vertreiben, dann glaube ich, dass das der falsche Weg ist. Das ist elitär und das ist falsch.

(Beifall bei der SPD)

PISA bestätigt vor allem eines und das halte ich für das Kernproblem des bundesdeutschen Bildungssektors: Wir brauchen eine Qualitätsoffensive. Es muss sichergestellt werden, dass der Unterricht an allen Schulen gut ist, unabhängig von der Schulform. Es muss sichergestellt werden, dass Unterrichtskonzepte systematisch verbessert werden. Es muss sichergestellt werden, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht isoliert hinter der verschlossenen Klassentür machen können was sie wollen und das stellt auch ganz neue Anforderungen an die Schulleitungen. Schule darf nicht die Benachteiligung der Schwächeren fortsetzen und auf der anderen Seite die Leistungsfähigen nicht fördern. Ich glaube, dass es Pädagoginnen und Pädagogen manchmal schwer fällt, aber es müssen Hinweise auf Modernisierung der Organisation Schule aufgegriffen werden.

Dieser Senat hat mit PISA, aber auch mit LAU wertvolle Grundlagen. Auch mit der Reform der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer wurde begonnen. Ein Abspulen alter

Feindbilder halte ich nicht für den richtigen Weg. Wir werden genau beobachten, welche Schritte Sie in der Bildungspolitik eingehen. – Danke.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort hat Herr Drews.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich möchte gleich zu Beginn auf zwei Argumente von Ihnen, Frau Ernst, eingehen, bevor ich auf den Punkt „PISA – Weg aus der Bildungsmisere“ komme, wie es die Aktuelle Stunde heute vom Titel her sagt.

Sie haben eben mit zwei Beispielen deutlich gemacht, dass Sie vieles, was Sie – zumindest in den letzten vier Jahren – verantwortlich in der Schulpolitik, in der Schulbehörde, in dieser Stadt gestaltet haben, nicht begriffen haben und nichts aus dem gelernt haben, was in der PISA-Studie steht. Sie haben zu Recht erwähnt, dass Schulsenatorin Rosemarie Raab zwar die LAU-Untersuchung eingeführt hat, aber Sie haben vergessen zu erwähnen, dass entsprechende Konsequenzen in dieser Stadt nicht gezogen worden sind.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Das ist der erste Punkt und er wird belegt durch die aktuell vorliegende LAU-9-Studie, wenn wir von neun entsprechend vier Jahre abziehen oder die Jahre, als es mit LAU 5 losging, und feststellen, was LAU 9 heute kritisiert, dann werden Sie feststellen, dass in der Tat in wesentlichen Bereichen zum Beispiel Chancengleichheit in unserer Stadt für Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Gruppierungen eben nicht besteht. Das zumindest ist ein Punkt, den PISA bundesweit feststellt. Erschreckenderweise LAU 9 leider auch für Hamburg. Das ist der erste Punkt.

Der zweite Punkt ist, Sie haben eine Qualitätsoffensive gefordert. Jetzt frage ich Sie allerdings, Frau Ernst, wie glaubhaft meinen Sie das? Wie ernst ist Ihnen das, dass Sie insbesondere dieses hier sagen, wo Sie doch nicht vier Jahre, sondern mehr als vier Jahrzehnte die Verantwortung für Schul- und Bildungspolitik in dieser Stadt hatten?

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Nein, meine Damen und Herren, die Äußerungen von Frau Ernst machen ganz deutlich, dass gerade das, was Sie eben von uns verlangt haben, nämlich das Abschneiden ideologischer Zöpfe, in Ihrem Kopf leider noch nicht fortgedrungen ist.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

So äußert sich PISA zum Beispiel dazu – Stichwort Elitenbildung, was Sie gerade sagten –, dass das Fördern lernschwächerer Kinder und Jugendlicher an den Schulen ein wichtiger Punkt ist. Der ist auch unbestritten von der Kultusministerkonferenz veröffentlicht worden. Sie finden dazu entsprechend qualifizierte Passagen im Koalitionsvertrag der neuen Bürgerkoalition. Aber, Frau Ernst, fördern und fordern sind, um Erfolg in der Schule zu haben und später in der sich ändernden Arbeitswelt motiviert zu sein, doch zwei Seiten der gleichen Medaille. Es geht doch darum, die Schwächeren zu fördern, aber die Starken zu fordern, wo es notwendig ist. Denn PISA sagt auch, was wir bisher schon wussten, dass in Deutschland – und das

(Britta Ernst SPD)

ist erschreckend, wenn Sie sich angucken, auf welchen Plätzen wir von den 32 Industrienationen, die teilgenommen haben, stehen – die Quote derer, deren Lernpotenzial ausgeschöpft sein müsste, katastrophal ausgefallen ist. Überall dort, wo es jetzt schon Schnittstellen zur LAU-9-Studie gibt, müssten Sie eigentlich vor sich selber im Erdboden versinken, wenn Sie hier heute eine Qualitätsoffensive fordern.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der SPD)

Aber, meine Damen und Herren, ich möchte insbesondere auf den Punkt „Weg aus der Bildungsmisere“ kommen. Ich glaube, dass dieser Senat bisher, mit Rudolf Lange im Bildungsressort an der Spitze, wesentliche Entscheidungen getroffen hat, die wichtig sind, unabhängig von PISA.

(Beifall bei Elke Thomas CDU – Ingo Egloff SPD: Was?)

Dazu gehört als Erstes der Ausbau des Ganztagsschulangebotes. Im Koalitionsvertrag steht es. Es hat nicht lange gebraucht, nicht Monate, nicht Quartale, nicht Jahre, so wie die Karawane der alten BSJB bisher die Jahrzehnte weiter zog, nein, ein knappes Vierteljahr nachdem dieser Senat im Amt ist, zwei Monate später sind bereits drei Standorte beschlossen und verkündet. Ich denke, das ist ein ganz wesentlicher Punkt.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Kommen wir zu einem zweiten Punkt. Das ist nur ein wesentlicher Aspekt. Aber ergänzende Aspekte, wie zum Beispiel der Ausbau des Angebotes PROREGIO II in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe, die nachmittägliche Betreuung, sind weitere Punkte, wo der Senat Pflöcke eingeschlagen und gezeigt hat, dass es uns mit der nachmittäglichen Betreuung wichtig ist. Auch hier hat der Senat bekannt gegeben, dass es sechs weitere Standorte in Hamburg geben wird. Das zeigt ganz deutlich, dass wir in diesem Aspekt auf dem richtige Weg sind.

Ich möchte aber zum Abschluss Ihnen, Frau Ernst, noch einen Punkt mit auf den Weg geben, weil Sie sagten, an einer Zahl werden Sie uns messen. Wir haben einen höheren Anspruch und lassen uns selber an höheren Zahlen messen. Wir haben zum Beispiel den Anspruch, die von Ihnen in den letzten Jahren mittlerweile auf 14,5 Prozent dramatisch angestiegene Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber ohne jeglichen Schulabschluss an Real- und Hauptschulen durch eine stetige Differenzierung und einen fördernahen Unterricht gerade auch der lernschwächeren Schülerinnen und Schüler deutlich zu senken.

(Glocke)

Ich komme darauf noch zurück. – Vielen Dank.

Das Wort hat Frau Goetsch.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer auf die Ergebnisse der PISA-Studie einfache Antworten schon exakt weiß, wie ich das hier höre, der hat, glaube ich, wenig Ahnung von Bildungsprozessen, die sich eben nicht in Legislaturperioden rechnen lassen. Ich bezweifle, dass – bis auf einen in diesem Saal – einer schon einmal diese 500 Seiten der PISA-Studie wirklich durchgearbeitet hat.

(Luisa Fiedler SPD: Hier!)

Der eine sitzt in der zweiten Reihe auf der Senatsbank.

Ich bezweifle, dass das wirklich einer gemacht hat. Jeder saugt jetzt mit seinen Spezialitäten seinen Honig heraus und alle meinen, sie hätten Rückenwind, aber mit PISA bläst uns eigentlich der Wind ins Gesicht. Ich denke, wir können erste Einschätzungen geben. Wir können die Studie natürlich auch als Herausforderung an Bildungspolitik, an Schulpolitik und alle Beteiligten sehen. Aber es geht um komplexere Antworten und differenziertere. Vor Schnellschüssen wurde auch schon gewarnt. Populistische Forderungen sind nicht gefragt. Ich glaube, die von allen Parteien geforderten Ganztagsschulen werden ohne Konzept allein überhaupt noch keinen besseren Unterricht gewährleisten.

Im Klassenzimmer wird entschieden, meine Damen und Herren, und PISA zeigt ganz deutlich, dass anscheinend im Unterricht etwas falsch läuft.

(Rolf Kruse CDU: Keine Schnellschüsse!)

In dem Zusammenhang habe ich auch von Schulsenator Lange noch nichts gehört und auch im Koalitionsvertrag nichts gelesen, denn so richtig das Abitur nach zwölf Jahren ist, ist das noch keine Antwort auf PISA. Herr Lange, meinen Sie, dass eine Stunde Mathematik und eine Stunde Deutsch mehr in der fünften Klasse schon die Antwort auf PISA bietet? Frau Freund hat richtigerweise gesagt, dass es um Lesekompetenz geht. Meinen Sie, dass die Schülerinnen und Schüler in Finnland besser abgeschnitten haben, weil sie mehr Unterricht haben? Ich glaube, da müssen wir einmal genauer hinsehen. PISA ist eine breit angelegte Studie oder eine Strategie zur Qualitätssicherung und hat im Jahr 2000 begonnen. Die weiteren folgen 2003 und 2006. Der erste Schritt war, die Lesekompetenz in den Mittelpunkt dieser internationalen Untersuchung zu stellen, und darauf möchte ich eingehen. Professor Baumert, der Leiter der PISA-Untersuchung in Deutschland, sprach letztens im Institut für Lehrerfortbildung noch einmal deutlich von der Abhängigkeit der erworbenen Lesekompetenz für alle Bereiche der schulischen Bildung und für das spätere Berufsleben. Herr Drews, es ist richtig, wer nicht mit Sprache umgehen kann, wird kein erfolgreiches Leben führen können.

(Krista Sager GAL: Die haben ja einen Stoiber!)

Darum geht es. Jugendliche, die entsprechende Fähigkeiten nicht haben, gelten als sogenannte Risikokandidaten: 23 Prozent in Deutschland und sogar 36 Prozent, ein Drittel aller Jugendlichen in Deutschland, haben keine „normalen“ Schulkarrieren. Da müssen wir uns doch fragen, wie wir die Schülerinnen und Schüler erreichen. Lesekompetenz heißt, dass die richtig lesen können, und zwar nicht nur technisch, sondern dass sie es auch verstehen. Plastisch gesagt: Wer nicht lesen kann, kann keine Matheaufgabe lesen, verstehen, rechnen und kann auch nicht im Biologiebuch das Fortpflanzungsverhalten der Ringelnatter nachlesen. Lesekompetenz ist Basiskompetenz und Schlüssel für erfolgreiche Bildungsprozesse. Was wollen Sie, Senator Lange, dafür tun. Bisher habe ich für dieses konkrete Beispiel noch nichts gehört.

(Karl-Heinz Ehlers CDU: Was haben Sie denn ge- tan?)

Ich kann Ihnen aber genau sagen, was inzwischen gemacht worden ist und weitergemacht werden muss. Ich habe hier nicht die perfekten Antworten parat, Schnellschüsse,

(Wolfgang Drews CDU)

(Karl-Heinz Ehlers CDU: Aha, aber Sie tun so!)

wie bei Ihnen, Herr Ehlers.

Zum Beispiel das Projekt „Lesen und Schreiben“ wird in allen Grundschulen durchgeführt, um die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Die Grundschulen arbeiten mit den Hamburger Bücherhallen zusammen, haben zum Beispiel das Projekt „Lesekisten“ entwickelt. Dass diese Maßnahmen effektiv sind, zeigt sich darin, dass es gelungen ist, die Zahl der Kinder mit gravierenden Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten zu halbieren. Das ist bewiesen. Wir haben nur das Problem, dass die Fünfzehnjährigen, die durch PISA getestet worden sind, noch gar nicht in den Genuss des Reformwerks gekommen sind. Bildungsprozesse dauern eben länger. Die Reform der Lehrerausbildung ist schon angesprochen worden und wir wollen weitergehen. Frau Freund hat den Antrag zum „Bildungsjahr 5 plus“, der morgen auf der Tagesordnung steht, angesprochen. Für die GAL steht jedenfalls fest, dass die Vorschläge, die im Koalitionsvertrag stehen, wenig mit PISA zu tun haben. Sie müssen erst nachweisen, dass sich damit die Lesekompetenz der Hamburger Schülerinnen und Schüler tatsächlich verbessern lässt. Oder meinen Sie, mit Notenzeugnissen wird der Unterricht besser?

Ich denke: „Der Befund ist nicht Schicksal!“ So hat es unser Staatsrat, Herr Lange, ausgedrückt. Wir müssen die Ursachen diskutieren. Wir brauchen überlegte und nachhaltige Reformen und keine Symbolpolitik, die ich hier aus Ihren Reihen höre. – Danke.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort hat Herr Woestmeyer.