Protocol of the Session on October 31, 2001

Die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme versucht, Erinnerungen lebendig und erfahrbar zu machen. Sie stellt sich damit auch den heutigen Formen des Erinnerns. Sie misst sich somit an gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch die Politik muss sich daran messen lassen und sich den Notwendigkeiten stellen. Sie darf Bedarfsgesichtspunkte bei der Planung von Haftanstalten nicht aus dem Auge verlieren. Sie darf aber auch nicht den besonderen und den kulturellen Wert der Gedenkstätte Neuengamme missachten. Sie darf ebenso wenig beides gegeneinander stellen. Hier hat niemand einen Alleinvertretungsanspruch für „richtiges Gedenken“. Hier gilt es, den Ausgleich zwischen politischen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten zu finden.

Die FDP-Fraktion steht hinter der Koalitionsvereinbarung, Gespräche mit den Opferverbänden zu führen, um Einvernehmen zu erzielen,

(Antje Möller GAL: Das Einvernehmen ist schon da!)

ob die Pläne für die Schließung der JVA XII angesichts des Bedarfs an Haftplätzen aufgegeben werden können. Damit folgen wir auch einem Beschluß des FDP-Landesparteitags, der in besonderer Weise auf die Anliegen der Opfer eingeht. Zur Systematik des Nazi-Terrors gehörte die Konzentration und Verwaltung der politischen Gegner. Neuengamme steht auch für die Vielfalt der Opfer und Leidenden dieses Systems. Neben den Menschen, die aufgrund ihrer

(Dr. Holger Christier SPD)

politischen Überzeugung oder ihres Glaubens zu den Opfern dieses Lagers gehörten, mussten hier auch Menschen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe oder wegen ihrer sexuellen Orientierung leiden.

Wohl zum ersten Mal in Deutschland nannte die Gedenkstätte 1965 in besonderer Weise die Roma als Teil der Verfolgten und Ermordeten, 1985 wiederum war die Gedenkstätte die erste, die öffentlich der verfolgten und ermordeten Homosexuellen gedachte. Uns als FDP ist es ein wichtiges Anliegen, die Belange und Interessen aller Opfer, ihrer Verbände und Institutionen in der Gestaltung des ehemaligen KZ-Geländes zu berücksichtigen, und nichts anderes sagt der Koalitionsvertrag.

Die GAL-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich möchte Ihnen raten, auch in der neuen Rolle der Opposition nicht das Gleichgewicht zwischen den politischen Notwendigkeiten und den notwendigen politischen Einmischungen zu verlieren.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive – Barbara Duden SPD: Sie haben nichts begriffen!)

Der Respekt vor den Opfern verbietet es, mit ihrem Andenken Parteipolitik zu machen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Dies gilt für den schwierigen Prozess neuer Bedarfsplanungen für Haftanstalten in Bezug auf die Regierungsparteien, aber es gilt ebenso für das Aufrühren und Aufschlagen von Themen, für die Sie als Grüne eben keinen nur einseitigen und nur allein richtigen Alleinvertretungsanspruch darstellen können. Das Finden einer einvernehmlichen Lösung der politisch Handelnden mit den Opfern und ihren Verbänden, wie auch von der Koalition vorgeschlagen,

(Antje Möller GAL: Sie ist gefunden worden!)

wird uns in der Sache weiter bringen,

(Barbara Duden SPD: Nein, das wird uns nicht wei- terbringen!)

als dieses wichtige Anliegen mit der Scharfzüngigkeit einer Aktuellen Stunde zu verletzen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Bauer.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! In der Sache werde ich deutlich und im Tonfall moderat dieses Thema behandeln.

Eine kleine Vorbemerkung: Wer auch immer hier meint, sei es in der Bürgerschaft, sei es der Zentralrat der Juden oder die Opferorganisation Amicale Internationale, das Alleinvertretungsrecht gepachtet zu haben, zur Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus Stellung zu beziehen, dem sage ich in aller Deutlichkeit: Sie haben es nicht.

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Wer denn? – Vereinzelter Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Ich entstamme einer jüdischen Familie, der unter dem Nationalsozialismus Leid zugefügt wurde, die Opfer zu beklagen hatte. Mein Großvater war jüdischer Arzt, dessen

Praxis, Haus und Grundbesitz von Hitler-Schergen enteignet wurde. Kurz vor seiner Deportation hat er Selbstmord begangen. Meine Mutter ist Halbjüdin. Weitere Familienmitglieder wurden nur von der Nazi-Brut verschont, weil mein Vater Nichtjude und Berufssoldat gewesen ist, dekoriert mit hohen Kriegsauszeichnungen. Meinem Onkel, einem jüdischen Rechtsanwalt, entzogen die Nazis die Zulassung. Er wurde ins KZ Buchenwald deportiert, floh aus diesem, und nachdem er wieder gefasst wurde, wurde er zur Auswanderung nach Amerika gezwungen. Nach Kriegsende kehrte er zurück, wo er am 27. Dezember 1985 das Bundesverdienstkreuz aus der Hand der damaligen Justizsenatorin Eva Leithäuser für seine Verdienste um Verständigung und Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen erhalten hat.

(Uwe Grund SPD: Herr Bauer, reden Sie doch zur Sache!)

Auch Ronald Schills Familie wurde von der NaziSchreckensherrschaft nicht verschont. Sein Großvater wurde im KZ Neuengamme als Widerstandskämpfer hingerichtet. Genug der Vorbemerkungen.

Meine Damen und Herren! Es stellt sich immer und immer wieder die berechtigte Frage, warum und weshalb 1948 den regierenden Sozialdemokraten jegliche Sensibilität abhanden gekommen ist, auf dem Gelände eines Konzentrationslagers, einem Ort des Schreckens, des Grauens und der Barbarei, wo zigtausende von Menschen ermordet wurden, eine Strafanstalt zu errichten. Keine der Antworten hat mich bisher restlos überzeugt, auch wenn aus damaliger Sicht einige plausibel wie nachvollziehbar sind. Trotzdem gibt es kein sachliches Argument, das jemals rechtfertigen kann,

(Antje Möller GAL: Das ist gar nicht das Thema!)

auf einem KZ-Gelände eine Strafanstalt zu errichten. Diese unsägliche Geisteshaltung der damals regierenden Sozialdemokratie ist Verhöhnung und Missachtung der Opfer und nicht, dass die Partei Rechtsstaatlicher Offensive, die CDU und die FDP die voll funktionsfähige Justizvollzugsanstalt XII erhalten wollen, weil wir schlichtweg mehr Haftplätze benötigen, aber auch, um einer Überbelegung der Hafträume entgegenzuwirken. Das Strafvollzugsgesetz regelt dieses in Paragraph 146 mit dem Verbot der Überbelegung. In einem demokratischen Rechtsstaat sind die Haftbedingungen menschenwürdig zu gestalten. Die Frage aber, ob Schwerstkriminelle, Kindermörder und -schänder oder Sexualstraftäter dieses für sich in Anspruch nehmen können, stellt sich hier und heute nicht. Hier und heute stellt sich die Frage, was wir mit zu Haftstrafen verurteilten Straftätern machen, wenn bestehende Haftplätze abgebaut werden sollen. Die neue Justizvollzugsanstalt Billwerder wird ja nicht zusätzlich, sondern statt der Anstalt XII gebaut.

(Tanja Bestmann SPD: Eben!)

Soll das etwa heißen, Numerus clausus für Straftäter oder Strafanstalten, Einreihen mit Ziehen einer Nummer in eine Warteschlange oder gar per Losverfahren ab in den Knast? Das kann es nicht sein.

Meine Damen und Herren! Keine, weder die Partei Rechtsstaatlicher Offensive noch die CDU und die FDP wollen den weiteren Ausbau der KZ-Gedenkstätte Neuengamme verhindern. Aber über das Wie unter Beachtung fehlender Haftplätze werden auch wir Verantwortung für die Geschichte und Opfer übernehmen,

(Martin Woestmeyer FDP)

A C

B D

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

das soll heißen, dass der neue Senat schnellstens Gespräche mit jüdischen Organisationen, Opferverbänden und Institutionen aufnehmen und mit Vernunft und Augenmaß eine für beide Seiten tragfähige Lösung finden wird.

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Die gibt es!)

Warten Sie die Gespräche und das Ergebnis dieser Gespräche ab, bevor Sie weiterhin den neuen Senat diskreditieren, ihm die moralische Keule verpassen wollen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Dass wir hier und heute diese Aussprache haben, meine Damen und Herren von der SPD, war nun einmal 1948 das Werk Hamburger Sozialdemokraten. – Danke schön.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Das Wort bekommt Senator Dr. Kusch.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Sie werden verstehen, dass ich vor Ihnen nicht mit großer Entspanntheit und Gelassenheit stehe. Der heutige Tag, die Wahl von Ole von Beust zum Ersten Bürgermeister, meine eigene neue Aufgabe und auch die Perspektive, aus der ich Ihnen nun zum ersten Mal in meinem Leben gegenüberstehe, ist sowohl für mein Berufsleben als auch für meine Teilhabe am politischen Geschehen eine Zäsur, wie ich sie noch nicht erlebt habe.

(Michael Neumann SPD: Freiwillig!)

Ich will von diesem Teil meiner Gefühle aber nicht weiter sprechen, sondern zu jenem Teil der Gefühle übergehen, die mir viel wichtiger sind, denn jeder, der sich mit den Ereignissen des Dritten Reichs beschäftigt, und ich selber habe das seit meinen Studientagen immer wieder getan, kann nicht bei einer Analyse intellektuellen Inhalts und bei abstrahierten Fakten bleiben. Alles, was man aus diesen zwölf schlimmsten Jahren der deutschen Geschichte erfährt, geht auch ans Gemüt. Von meinen beiden wichtigsten Eindrücken dieses Inhalts will ich Ihnen berichten.

Vor 25 Jahren besuchte ich als Student die Gedenkstätte Yad Vashem. Das meiste, was ich damals gesehen habe, habe ich nicht mehr in Erinnerung, aber ein möglicherweise zunächst unscheinbar wirkendes Dokument ist mir so plastisch vor Augen, als hätte ich es erst vor wenigen Jahren gesehen. Es war eine Art Formular, wie es möglicherweise noch heute bei der Deutschen Bahn verwendet wird. Es war überschrieben mit Deutsche Reichsbahn und hatte das Aussehen einer Art Warenbegleitschein. Es wurde ein Zugtransport mit den üblichen Angaben über Zuglaufzeit, Abfahrts- und Ankunftsorte dokumentiert. Diese Normalität des oberen Teils des Formulars war geradezu in erschütterndem Kontrast zu dem, was unten im Formular stand, nämlich dort, wo nach der Formularvorgabe der Güterinhalt hätte mitgeteilt werden können; da stand nur das Wort „Juden“. In deutscher Sprache mit deutscher Akribie ausgefüllt ein solches Formular zu sehen, wahrzunehmen und davor zu stehen, hat mich mit sehr viel größerer Intensität die Zusammenhänge nachvollziehen und durchdenken lassen zwischen perfekter Administration und verbrecherischer politischer Intention, als mich vermutlich wissenschaftliche Abhandlungen über das Thema beeindruckt hätten.

Zehn Jahre später besuchte ich Auschwitz. Mir hat es bereits nach Betreten des Lagers nicht nur die Sprache verschlagen, sondern ich wusste noch nicht einmal die Begriffe, mit denen ich mir selbst meine eigenen Gefühle klarmachen konnte. Besonders schrecklich war der Anblick einer Art Bildergalerie, die mir unendlich schien, in den Fluren von irgendwelchen Häusern, in denen die Gefangenen eingepfercht waren, eine unendliche Reihe von Bildern vermutlich von allen, die dort getötet wurden. Was aber viel schlimmer war, war der Anblick in einem anderen Raum, nämlich ein riesiger Berg von Kinderschuhen, vor dem ich stand und nicht wusste, was ich empfinden oder fühlen sollte.

An dieses Bild erinnerte ich mich in den letzten Tagen, seit die Diskussion um Neuengamme neu entbrannt ist, mit besonderer Intensität, denn mir wurde klar, dass der Eindruck, den ich von diesem Anblick hatte, von diesem Berg von Kinderschuhen, vermutlich weniger intensiv gewesen wäre, wenn ich dieses in einem Museum in Warschau oder Krakau gesehen hätte. Gerade der Anblick auf den Ort des Grauens hat den Eindruck hinterlassen, den ich bis heute in mir trage.

Aus meiner eigenen Betroffenheit habe ich deshalb auch volles Verständnis dafür, dass die Interessenvertreter der Gedenkstätte Neuengamme die Zweckentfremdung des ehemaligen KZ-Geländes zu Zwecken des Strafvollzugs kritisieren.

(Rolf-Dieter Klooß SPD: Das hat die Bürgerschaft beschlossen!)

Es ist mir ein persönliches Anliegen, das ich mir bereits vor der heutigen Sitzung klargemacht habe, nämlich als Ole von Beust mir angekündigt hat, dass er mich für dieses Amt vorschlagen werde, mit größter Dringlichkeit und größter Intensität das Gespräch mit den Interessenvertretern der KZ-Gedenkstätte zu suchen und sie zu bitten, mit mir gemeinsam – ich selbst war noch nicht in Neuengamme – das KZ-Gelände zu besuchen und, wenn sie dazu bereit sind, auch die beiden Vollzugsanstalten auf dem ehemaligen KZ-Gelände, damit ich mir selbst einen intensiveren Eindruck von den Problemen, den Bedürfnissen und Ansichten der Interessenvertreter verschaffen kann, als ich ihn bisher durch schriftliche Form und Pressemitteilungen bekommen habe.