Protocol of the Session on January 26, 2017

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Nicht von uns!)

Die Dimension dieses Erlasses und dessen Auswirkungen sind schon anhand einiger Zahlen dokumentiert worden. Ich will noch zwei nennen, damit man den Umfang der Auswirkungen des Erlasses verinnerlicht. Mit dieser Regelanfrage, die es damals gab, sind 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber systematisch, eben regelhaft, vom Verfassungsschutz auf ihre politische Zuverlässigkeit hin überprüft worden. Das hat einen riesigen bürokratischen Rattenschwanz nach sich gezogen. Es kam zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, entsprechend 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen.

Mit dem Begriff der Verfassungsfeindlichkeit ist man entsprechenden Organisationen und Einzelpersonen richtig auf den Leib gerückt. Ich kann Ihnen sagen: Wenn man sich historisch vertieft, Einzelschicksale nachliest, wenn man auch noch mit Zeitzeugen redet, dann schaudert es einen wirklich. Es geht um Einzelschicksale, deren Existenz dadurch zum Teil vernichtet worden ist, nicht nur die berufliche Existenz. Da kann ich Ihnen nur sagen, meine Damen und Herren: Das lässt einen nicht kalt.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Holger Bel- lino (CDU): Das hat der Willy Brandt gemacht!)

Eines gehört auch zur Wahrheit – dazu komme ich noch, Herr Kollege –: dass dieser Radikalenerlass faktisch überwiegend Aktive des linken Spektrums betroffen hat. Der Radikalenerlass hat bezeichnenderweise, in Anführungsstrichen, nicht etwa, wie man vermuten könnte, zu einer einheitlichen Vollzugspraxis geführt. Im Gegenteil, es gab eine unterschiedliche Vollzugspraxis in den Ländern. Es kam wirklich darauf an, in welchem Bundesland man sich beworben hatte, um Beamter zu werden. Je nachdem, in welchem Bundesland man war, konnte man durchrutschen, oder man hat eben zu den falschen Freunden gehört, man hat zu einer antifaschistischen Bewegung gehört oder bei einer Demonstration eine rote Flagge geschwenkt. Das hat manchmal schon gereicht, um ins Visier der Beobachter zu kommen und entsprechenden peinlichen Nachfragen ausgesetzt zu sein.

Meine Damen und Herren, es folgten für die Betroffenen Diskriminierungen, oft haltlose Verdächtigungen, im schlimmsten Fall das Berufsverbot.

Herr Heinz, weil Sie nonchalant als Jurist angesprochen haben, jedem habe der Rechtsweg offengestanden,

(Günter Rudolph (SPD): Großzügig!)

sage ich Ihnen, für viele hat es langwierige Gerichtsverfahren nach sich gezogen. Ich darf das Beispiel des Lehrers Klaus Lipps erwähnen, der sich durch die Instanzen klagen durfte. Sie als Jurist müssten am genauesten wissen, was es für den Einzelnen bedeuten kann, wenn er sich durch die Instanzen klagen muss. Das kann ganz schön verheerend sein.

(Beifall bei der SPD)

Auch in Hessen waren 130 Personen von dem sogenannten Radikalenerlass unmittelbar betroffen.

Das wurde angesprochen. Da können wir sehr dankbar sein. Das war in der damaligen Zeit noch gar nicht üblich. Der Europäische Gerichtshof hat 1995 der Praxis der Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland einen Riegel vorgeschoben. Es ist sehr wohltuend, dass der Europäische Gerichtshof schon zum damaligen Zeitpunkt eine entsprechend weitreichende und zukunftsweisende Rechtsprechung getätigt hat.

Ich möchte auch ganz klar zu dem Dringlichen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stellung nehmen. Ich muss Ihnen da ganz klar sagen: Dieser Dringliche Entschließungsantrag ist dünn. Er ist wachsweich. In diesem Dringlichen Entschließungsantrag wird nur ein Bedauern kundgetan. Es kommt nicht die Forderung auf, das Ganze aufzuarbeiten.

(Holger Bellino (CDU): Warum haben Sie keinen eigenen gemacht? Wo ist Ihr Antrag?)

Das ist eben genau der Punkt. Man darf hier nicht pauschalieren. Herr Heinz, das haben auch Sie gesagt. Man muss sich einmal die Praxis anschauen. Dazu gehören aber in der Tat die Aufklärung und die Aufarbeitung.

In Ihrem Dringlichen Entschließungsantrag fehlen auch völlig die Konsequenzen, die wir daraus zu ziehen haben. Ich kann Ihnen für die SPD-Mitglieder der Landtagsfraktion nur sagen, dass Ihr Dringlicher Entschließungsantrag, also der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU, enttäuschend und dünn ist. Wir haben da von Ihnen mehr erwartet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Bellino zu?

(Zuruf: Was haben Sie denn vorgelegt?)

Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen. Wir werden dem Antrag der Fraktion DIE LINKE zustimmen.

(Zurufe von der CDU: Aha!)

Ich darf daran erinnern, dass in Niedersachsen erst im letzten Jahr ein gemeinsamer Antrag von Rot und Grün verabschiedet wurde, der die Ziele des Antrags der LINKEN zum Inhalt hatte.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es! – Holger Bellino (CDU): Wo ist denn Ihr Antrag!)

Da hatten die GRÜNEN die Stärke, die Aufarbeitung zu fordern.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie den Antrag überhaupt gelesen?)

Diese Stärke und Größe zeigen Sie hier in Hessen nicht. Das ist eine große Enttäuschung. In Niedersachsen sind Sie bereit, gemeinsam mit uns weiterzugehen. Hier verabschieden Sie gerade einmal einen schmallippigen Dringlichen Entschließungsantrag mit der CDU. Das ist wirklich enttäuschend.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte einen weiteren, für uns wichtigen Punkt benennen. Man kann sich trefflich darüber streiten, ob man, wie in Niedersachsen von den Kollegen der SPD gefordert, einen Beauftragten einsetzt oder ob man, wie es in diesem Antrag vorgesehen ist, eine Kommission einsetzt, die dann natürlich von vielen Schultern getragen werden muss. Man kann mit zivilgesellschaftlichen Gruppen das Geschehen in einer Kommission aufbereiten.

Dazu sagen wir: Das ist ein guter Weg. Vor allen Dingen ist auch der Ansatz gut, dass die Ergebnisse öffentlich dargestellt und in die weitere politische Arbeit einbezogen werden sollen. Wir finden, das ist ein zentraler Punkt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Herr Bellino, Sie haben eben auf Altbundeskanzler Willy Brandt angespielt. Willy Brandt hat in der Tat später eingeräumt, dass er einen Fehler gemacht hat.

(Günter Rudolph (SPD): Ja!)

Willy Brandt hatte die Größe, den Fehler nicht nur zuzugeben, sondern sich auch zu entschuldigen. Er ist ein gutes Beispiel für eine souveräne Politik, die ich aus diesen Reihen dieses Hauses oft vermisse.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Es ist wichtig, dass endlich eine umfassende Aufarbeitung erfolgt. Ich will aber noch einmal ganz klar unterstreichen, dass sich der Hessische Landtag bereits im Jahr 2012 mit diesem unrühmlichen Kapitel in der Geschichte Hessens auseinandergesetzt hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber die Aufarbeitung des Geschehenen steht noch aus.

Ich darf mit einem Zitat des Autors Renzie schließen. Er hat einmal gesagt:

Wer die Fehler der Vergangenheit in der Gegenwart nicht analysiert und korrigiert, muss sich nicht wundern, wenn ihn die Vergangenheit in Zukunft einholt.

Meine Damen und Herren, vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Frau Kollegin Hofmann, vielen Dank. – Als nächster Redner spricht nun Herr Kollege May von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Herr Kollege, bitte, Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, das, was wir eben gehört haben, hat eine unnötige Schärfe in die Debatte hineingebracht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Günter Rudolph (SPD): Schwarz-grüne Vertuschungspolitik!)

Ich glaube, dass wir dem Thema eher mit einer nachdenklichen Tonlage gerecht werden. Das, was Sie Herrn Kollegen Heinz vorgeworfen haben, kann ich so nicht nachvollziehen. Ich glaube, wenn man die Dinge historisch einordnet, heißt das nicht, dass man sich mit den Beweggründen

gemein macht, die die Politikerinnen und Politiker damals zu einer Entscheidung gebracht haben. Vielmehr ist es einfach wichtig, das einzuordnen und zu fragen: „Woher kommt das denn?“, um die Geschichte verstehen zu können.

Deswegen haben wir in unserem Dringlichen Entschließungsantrag dargestellt, dass sich die junge Bundesrepublik vom Terrorismus und vom Extremismus herausgefordert sah. Die Rechtsradikalen zogen in den Landtag von Baden-Württemberg ein. Ich habe die Bomben der Roten Armee Fraktion als Beispiel genannt. Sie waren der Hintergrund dafür, dass die Politik zu dieser Entscheidung kam.

Natürlich ist es im Nachhinein leichter, zu erklären, was vermessen war und was man hätte anders machen sollen. Aber wenn man die Geschichte verstehen will, dann muss man auch auf die Beweggründe der handelnden Personen eingehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Der Beweggrund war, die von Terrorismus und Extremismus bedrohte junge Demokratie verteidigen zu wollen. Ich glaube, die junge Demokratie verteidigen zu wollen, ist ein ehrenwertes Motiv. Aber das ändert nichts an der Tatsache – das können Sie in dem von uns vorgelegten Dringlichen Entschließungsantrag sehen –, dass man natürlich in der Bewertung der daraus folgenden Sachverhalte zu einer ganz anderen Schlussfolgerung kommen kann.

Unser Resümee über die durch den Radikalenerlass herangezogenen Maßnahmen fällt auch ganz anders aus. Das hat auch Herr Kollege Heinz vollkommen zutreffend berichtet. Ich sehe da, ehrlich gesagt, nicht Ihren Angriffspunkt. Etliche Betroffene konnten auf dem Rechtsweg erstreiten, dass die zunächst vorgenommene Bewertung, dass sie für den Staatsdienst nicht geeignet seien, als falsch gewertet wurde. Viele Bürgerinnen und Bürger, die durchaus für den Staatsdienst geeignet gewesen wären, wurden zu Unrecht benachteiligt. Das wurde hier vollkommen zutreffend ausgeführt.

(Günter Rudolph (SPD): Von Herrn Heinz nicht so!)

Deswegen sagen wir GRÜNE ganz klar: Wir bedauern die erlittenen ungerechtfertigten Benachteiligungen der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zutiefst.