Protocol of the Session on November 24, 2016

Europa hat bei dieser Frage nicht gekuscht. Wir sagen eindeutig, was wir davon halten. Auch wenn man sich die Beitrittsverhandlungen anschaut, muss man sagen, dass sie seit einiger Zeit auf der Stelle treten; nicht, weil Europa nicht wollte, sondern weil in der Türkei nur Rückschritte zu beobachten sind.

Für mich ist es ganz klar, wer Mitglied der EU werden will, der muss diese Werte nicht nur anerkennen, sondern er muss sie auch leben. Deshalb glaube ich, dass die Beitrittsverhandlungen so nicht weitergeführt werden können.

Der Gesprächsfaden muss aber unbedingt aufrechterhalten werden. Wir müssen Wege finden, im Gespräch zu bleiben. Der Austausch muss weitergehen. Wir müssen über die Werte reden. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen,

auch mit der türkischen Gemeinde in unserem Land zu reden.

Ich wünsche mir auch, dass wir wieder mit unseren Partnern in Bursa reden können und uns das Gespräch nicht verweigert wird.

Ich wünsche mir eine demokratische Türkei, in der die Menschenrechte geachtet werden, Gerichte unabhängig urteilen, Minderheiten geschützt sind und jeder seine Meinung frei sagen kann.

Ich wünsche mir, dass unsere Partnerschaft mit Bursa einen Beitrag leisten kann, Konfrontation und Verbitterung zu überwinden.

Auch nach der dunkelsten Nacht kommt irgendwann ein neuer Morgen.

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank. – Als Nächste spricht Frau Kollegin Hammann, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer schweigt, der toleriert. Wir im Hessischen Landtag wollen nicht zu dem schweigen, was in der Türkei geschieht. Wir wollen nicht zusehen und zu dem schweigen, was von der Regierung Erdogan auf den Weg gebracht wurde. Denn wir sehen mit großer Bestürzung diese Entwicklung, die zurzeit in der Türkei festzustellen ist.

Aber das heißt auch, dass wir einen Putschversuch missbilligen, und zwar auf das Schärfste. Denn das entspricht nicht demokratischen Prinzipien.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Es rechtfertigt aber auch nicht die repressiven Maßnahmen, die vom türkischen Präsidenten Erdogan ergriffen wurden. Das ist unverhältnismäßig. Dieses Vorgehen ist zu verurteilen. Das sind eklatante Verstöße gegen Grundrechte und Grundpfeiler der türkischen Verfassung, und es verstößt darüber hinaus auch gegen die demokratischen Werte der Europäischen Union.

Es ist nicht hinnehmbar, dass Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftler, Gewerkschaftsvertreter, Intellektuelle und demokratisch gewählte Abgeordnete, Bürgermeister, Bürgermeisterinnen und Zehntausende Beamte, Bürgerinnen und Bürger ohne rechtstaatliche Verfahren entlassen, verfolgt, drangsaliert und verhaftet werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Fast einen Monat nach dem Putschversuch waren 35.000 Menschen festgenommen worden. Verhaftungen sind in der Türkei auf der Tagesordnung. Das setzt sich alles fort.

Ein Viertel der türkischen Richter und Staatsanwälte, also über 3.500, wurde suspendiert. Es wurden 650 Richter und Staatsanwälte festgenommen. Der türkische Innenminister spricht davon, dass 76.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes entlassen wurden. Der Ministerpräsident spricht

sogar von 80.000 Beschäftigten. In Untersuchungshaft befinden sich 20.000 Verdächtige, darunter Polizisten, Soldaten, Mitarbeiter des Justiz- und Verwaltungsapparats.

Dem Außenminister zufolge wurden 300 Mitarbeiter seines Ressorts entlassen, darunter zwei Botschafter. Zahlreiche Einrichtungen und Institutionen wurden geschlossen, beschlagnahmt oder an öffentliche Einrichten übertragen – darunter Schulen, Wohnheime, Stiftungen, Universitäten, Nachrichtenagenturen, TV-Sender, Radiostationen, Zeitungen, Verlage, Vertriebskanäle und Gewerkschaften.

Man muss feststellen, dass sich die Politik Erdogans gegen alle Andersdenkenden richtet, insbesondere gegen die demokratisch gewählten Abgeordneten der HDP. Sie werden verfolgt und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren werden.

(Allgemeiner Beifall)

Freie Meinungsäußerung führt in der Türkei zu Verfolgung. Erdogan nutzt die Zeit nach dem Putsch, um sich aller kritischen Stimmen und aller Andersdenkenden mit einer unglaublichen Zielstrebigkeit zu entledigen.

Auch wir sind über die Situation in Bursa besorgt, unserer Partnerregion in der Türkei. Auch dort sind Verfolgungen und Inhaftierungen Andersdenkender festzustellen. Unter dem Deckmantel des Ausnahmezustandes greifen Willkür und Rechtlosigkeit um sich. Dies alles gefährdet die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union.

Wir erwarten von der Türkei, dass rechtsstaatliche Prinzipien und die gemeinsamen Werte der Europäischen Union geachtet und gewahrt werden. Das ist unabdingbar für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Denn klar ist auch: Die Türkei befand sich auf dem Weg in die Europäische Union. Diese Tür ist noch nicht zu. Es ist auch nicht unser Ziel, dass diese Tür zugeht. Vielmehr wollen wir erreichen, dass umgehend eine Politik der Deeskalation beginnt und die Scharfmacherei beendet wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Wir erwarten von der Türkei, dass Menschenrechte und die Meinungsfreiheit beachtet werden. Frei gewählte Abgeordnete müssen ihr Mandat ausüben dürfen. Rechtsstaatliche Verfahren müssen durchgeführt werden. Ich sage auch deutlich: Unsere Gedanken sind bei denjenigen in der Türkei, die sich offen für die Verteidigung der Demokratie einsetzen.

Unsere Aufgabe ist es auch, diese zu stärken und ihnen Hoffnung zu geben, ohne die Kommunikation mit der Regierung außer Acht zu lassen. Wir appellieren daher an die deutsche Bundesregierung, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, in diesem Sinne auch auf die türkische Regierung einzuwirken.

Selbst wenn Erdogan sich nicht von Beschlüssen des EUParlaments beeindrucken lässt – man hat es schon lesen können, dass er sagt, dass ihm das eigentlich egal sei, was dort entschieden wird –, so muss der Dialog mit der Türkei trotzdem aufrechterhalten werden. Denn die türkische Zivilgesellschaft und die Opposition brauchen jetzt mehr denn je unsere Unterstützung.

Wir danken der Landesregierung daher dafür, dass sie die Kontakte nach Bursa, in unsere Partnerregion, hält und auch in diesem Sinne agiert. Wir werden dem Dringlichen

Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, DIE LINKE und der Kollegin Öztürk nicht zustimmen.

(Zuruf von der SPD: Warum?)

Wir könnten ihm inhaltlich zustimmen, weil wir ihn inhaltlich teilen. Jedoch haben wir einen eigenen Antrag mit der gleichen Zielrichtung eingebracht.

(Zurufe von der SPD und der LINKEN)

Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass wir Ihrem Antrag deshalb so nicht zustimmen können. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Zurufe von der SPD: Mann, Mann! – Peinlich!)

Vielen Dank. – Als Nächste spricht Kollegin Wissler für die Fraktion DIE LINKE.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wir werden derzeit Zeuge, wie sich die Türkei in atemberaubender Geschwindigkeit zu einem autoritären Staat entwickelt. Demokratische Grundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit gelten faktisch nicht mehr. Wer sich Erdogan und seiner AKP in den Weg stellt, wird verfolgt und weggesperrt. Seit dem Putschversuch von 15. Juli sind fast 100.000 Staatsbedienstete entlassen worden, unter ihnen zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Es gibt 37.000 Inhaftierte. Es gibt Berichte über menschenunwürdige Zustände in den Haftanstalten und über Folter auf den Polizeistationen.

Über 100 Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen wurden verboten. Zahlreiche Journalisten, Schriftsteller und Gewerkschafter wurden inhaftiert. Demokratisch gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden abgesetzt und verhaftet. All diesen Menschen sollten auch wir deutlich machen: Ihr seid nicht allein, ihr seid nicht vergessen, die Welt schaut auf euch.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und der FDP so- wie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Vorläufiger trauriger Höhepunkt dieser aktuellen Repressionswelle war Anfang dieses Monats die Verhaftung von Parlamentsabgeordneten, darunter die beiden Parteivorsitzenden der oppositionellen HDP sowie des Chefredakteurs und des kompletten Vorstandes der Tageszeitung „Cumhuriyet“.

Wir haben diesen Antrag gemeinsam mit der SPD und der Kollegin Öztürk eingebracht, weil wir es für wichtig halten, dass der Hessische Landtag hier ein Zeichen der Solidarität setzt – mit der HDP, mit den Journalistinnen und Journalisten, mit den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und mit allen demokratischen Kräften in der Türkei.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Unser Antrag orientiert sich an einer Initiative aus Hamburg, wo es gelungen ist, eine fraktionsübergreifende Solidaritätsbekundung zu beschließen. Ich finde, es würde dem

Hessischen Landtag sehr gut anstehen, wenn wir das auch hier täten.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und der FDP so- wie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Wir haben eine Verantwortung. An dieser Stelle will ich natürlich auch die Frage aufwerfen, wie lange die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ihre Politik gegenüber der Türkei fortführen und zu den Vorgängen mit Rücksicht auf das Flüchtlingsabkommen schweigen wollen. Wir sagen: Kündigen Sie endlich diesen schmutzigen Deal mit Erdogan auf. Wir halten ihn für eine Schande für Deutschland und für Europa.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit führt die Türkei im Südosten des Landes einen gnadenlosen Krieg gegen Kurdinnen und Kurden. Die kurdische Stadt Cizre, wo vor wenigen Monaten noch über 100.000 Menschen lebten, liegt in Trümmern. Die historische Altstadt von Diyarbakir ist zerstört. Zehntausende sind auf der Flucht.

Dieser Krieg wird leider auch mit Waffenlieferungen aus Deutschland geführt. Die Bundesregierung hat allein im ersten Halbjahr 2016 Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsexporte in die Türkei im Wert von über 76 Millionen € erteilt. Damit ist Deutschland einer der wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei. Wir sind der Meinung, das muss gestoppt werden. An dieses Land, in dem es praktisch keine unabhängigen Medien mehr gibt, in dem die Justiz gegängelt wird, in dem Polizeiwillkür an der Tagesordnung ist, Menschen unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert werden und die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wird, dürfen keine Waffen geliefert werden.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos))