Protocol of the Session on July 12, 2016

Herr Boddenberg, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, welche Budgets an anderer Stelle zur Verfügung stehen. Auch Sie könnten anfangen, Geld einzusammeln. Der Punkt ist aber, dass Sie das nicht tun. Ihr „großartiges“ Finanzplatzkabinett, das Sie vor ein paar Jahren an anderer Stelle eingerichtet haben, hat doch seit zweieinhalb Jahren nicht mehr getagt. Was Sie hier veranstalten, ist doch lächerlich.

(Beifall bei der SPD)

Ich will auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Denn es geht natürlich nicht nur um den Finanzplatz. Die ökonomischen Auswirkungen werden auch an anderen Stellen eine große Rolle spielen.

Ich will nur einen einzigen industriepolitischen Hinweis geben. Da geht es um Opel. Opel hat im vergangen Jahr 311.000 Fahrzeuge bei einer Gesamtproduktion von 1,1 Millionen in Großbritannien abgesetzt. In zwei Werken mit 3.000 Beschäftigten – das sind immerhin 10 % der Gesamtbelegschaft – wird dort viel Wertschöpfung organisiert. Nach dem Brexit und seinen Konsequenzen wird das eine Baustelle sein. Es geht um deutlich mehr als um den Finanzplatz. Wir werden viele Fragen zu beantworten haben.

Was dieses Thema angeht, bin ich ganz beim Ministerpräsidenten. Der Brexit ist ein ökonomischer, aber auch ein sozialer und kultureller Schaden, nicht nur für Großbritannien, sondern auch für Europa und Hessen. Deswegen ist es richtig, sich damit zu beschäftigen. Wir werden uns sicherlich noch sehr oft damit zu beschäftigen haben.

Ich will drei weitere Punkte ansprechen, bei denen es notwendig ist, etwas in eigener Verantwortung zu machen.

Das zweite Thema ist, auch unsererseits Impulse für die weitere demografische Entwicklung zu setzen. Das will ich ausdrücklich betonen. Denn das Scheitern der Europäischen Union in den letzten Jahren ist vor allem und vorrangig immer ein Scheitern und Versagen des Europäischen Rates, also der Vertretung der National-, der Mitgliedstaaten, die nicht in der Lage waren, zu politischen Verabredungen zu kommen. Deswegen werden wir – auch mit Blick auf die wechselseitige Stimmungsmache nach dem Motto: „Wenn etwas einmal nicht funktioniert, ist immer Brüssel verantwortlich“ – uns an die eigene Nase fassen und fragen müssen, ob wir gelegentlich nicht vielleicht auch selbst dazu beitragen.

(Beifall bei der SPD – Vizepräsident Wolfgang Greilich übernimmt den Vorsitz.)

Den dritten Punkt, der mir wichtig ist, will ich mit ein paar Zahlen einführen, die vor wenigen Tagen öffentlich wurden. Nach den Zahlen des Eurobarometers war es erschreckend, was die Briten über die europäischen Institutionen wissen. In dieser Auswertung sind sie bezüglich ihres Wissens über das, was Europa ausmacht, auf dem letzten Platz. Deswegen ist der Bildungsauftrag ein wesentlicher, und das ist vor allem ein landespolitisches Thema. Ich glaube, dass wir über die Frage des Politikunterrichts in unseren Schulen noch einmal nachzudenken haben.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben zu klären, wie wir die Themen Demokratie und Europa in der Lehrerbildung stärken und wie wir die politische Bildung voranbringen, um die Erfahrungen mit Europa spürbarer zu machen. Ich finde übrigens auch, dass der Schulaustausch gestärkt werden muss, und zwar deutlich über die gymnasialen Bildungsgänge hinaus. Auch mit Blick auf die beruflichen Schulen muss deutlich mehr getan werden. Ich kann mir beispielsweise vorstellen, dass man gerade in der jetzigen Phase über britische Partnerschaften nachdenkt, weil ich der Auffassung bin, dass wir die Brücken nicht abreißen sollten.

Meine vierte Bemerkung ist, dass wir die Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten entschieden aufnehmen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Mathias Wag- ner (Taunus), Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Johanna Burger, eine Deutsche am Londoner Theater, sagte nach dem Brexit wörtlich: „Nach dem Brexit fühle ich mich als Deutsche in England nicht mehr gleichermaßen willkommen.“

In dieser Woche sind Zahlen veröffentlicht worden, die das in erschreckender Weise unterstreichen: 52 % der Menschen in Großbritannien denken, dass sie innerhalb der Europäischen Union frei entscheiden sollten, wo sie leben und arbeiten können; aber nur 36 % denken, dass dieses Recht auch für die Menschen gelten sollte, die gerne in Großbritannien leben und arbeiten möchten. Die rechten Brandstifter und Populisten haben somit schon viel mehr erreicht, als uns manchmal bewusst ist. Sie haben es nämlich geschafft, dass Menschen die eigenen Rechte für wichtiger halten als die der anderen. Deswegen ist es entscheidend, dass wir Neid, Hass und Missgunst entschieden entgegentreten.

(Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

„Nicht in meinem Namen“, „Love not Leave“, „Nichts ist mit der EU vergleichbar“, „We love EU“ – das alles stand auf den Plakaten der jungen Menschen, die nach dem Brexit in London auf die Straße gegangen sind. Diese jungen Menschen wollen in Europa bleiben; wir wollen das auch. Aber nach dieser Entscheidung ist das natürlich deutlich komplizierter geworden.

Die Europäische Union wurde gegründet, um den Frieden bei uns zu stärken. Länder wie Spanien und Portugal wurden ein Teil von uns, um ihre jungen Demokratien zu sichern. Die osteuropäischen Länder wurden ein Teil von uns als Ausdruck ihres neuen Selbstverständnisses – als Gegenentwurf zum Kommunismus. Das sind alles sehr unterschiedliche Gründe. Doch Frieden, Demokratie und Wohlstand sind weiterhin unsere tragenden Säulen. Sie erleben momentan viele Herausforderungen, doch wir können sie meistern. Wir sollten jedoch die Vielfalt und den Zusammenhalt als wichtigste Säule ergänzen, damit unser Haus Europa stabil bleibt.

Herr Präsident, das ist mein letzter Satz: Ich komme gerade aus China zurück. Das ist ein großes Land, das neidisch darauf schaut, was wir mit der Europäischen Union geschaffen haben. Denn gerade Vielfalt und Zusammenhalt sind dort sehr gefragt. John F. Kennedy sagte einmal, das Wort „Krise“ setze sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen: Das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit. – Genau so ist es. Wir sollten die Gelegenheit für eine Neugründung Europas nutzen. Die Verantwortung dafür kann man aber nicht an jemand anderen delegieren. Es ist und bleibt zuallererst unsere eigene Verantwortung. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel. – Als Nächster hat Herr Abg. Wagner für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind bei unserer letzten Plenarsitzung am 23. Juni, also am Tag des Referendums, auseinandergegangen, und wir hatten wohl alle miteinander die Hoffnung, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Wir alle konnten uns nicht wirklich vorstellen, dass Großbritannien in einer Volksabstimmung tatsächlich dafür stimmt, die Europäische Union zu verlassen. Als wir dann am nächsten Tag mit der Meldung wach wurden, mussten wir alle wohl ziemlich in uns gehen. Uns allen war bewusst: Es ist ein tiefer Einschnitt passiert.

Was war bis zu dieser Entscheidung der Auftrag, und was bleibt der Auftrag der Europäischen Union, so wie er im EU-Vertrag niedergelegt ist? Ich zitiere aus diesem EUVertrag: Die „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“.

Dieser Auftrag, der uns weiter einen sollte, hat einen Riss bekommen. Zum ersten Mal, seit ich politisch denken kann – so geht es sicher vielen Leuten meiner Generation –, ist Europa mit diesem Referendum nicht größer, sondern kleiner geworden. Das sollte für uns alle die Verpflichtung sein, die europäische Idee hochzuhalten, für die europäische Idee zu werben und dafür zu sorgen, dass die Vorteile der Europäischen Union allen Bewohnern auf diesem Kontinent klar werden, damit wir weiter an einer tieferen und engeren Europäische Union arbeiten können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Selbstverständlich ist das Votum der Britinnen und Briten zu akzeptieren. Selbstverständlich kann es in den jetzt anstehenden Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich nicht darum gehen, nachzutreten und besonders schlechte Bedingungen für die Kooperation zu vereinbaren. Aber es muss auch klar sein: Es macht einen Unterschied, ob man Mitglied der Europäischen Union ist oder nicht. Es darf auch nicht das Signal gesetzt werden: Man kann die Bedingungen aushandeln und die Vorteile von Europa in Anspruch nehmen, ohne die Pflichten zu akzeptieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Auch hier nehmen wir die Entscheidung des britischen Volkes sehr ernst.

Der Ausgang dieses Referendums – das will ich auch als Vertreter einer Partei sagen, die für direktdemokratische Elemente und mehr Volksabstimmungen ist – sagt auch nichts über den Sinn und Unsinn dieses Elementes aus. Denn es wäre eine Perversion von direktdemokratischen Elementen, wenn wir die Zustimmung oder die Ablehnung davon abhängig machten, wie die Menschen abstimmen. Nein, direktdemokratische Instrumente sind richtig oder falsch – das ist hier im Haus umstritten –, unabhängig davon, wie die Bürgerinnen und Bürger dann tatsächlich abstimmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie der Abg. Nancy Faeser und Thorsten Schäfer- Gümbel (SPD))

Dieses Referendum hat nach der Wahrnehmung meiner Fraktion eines sehr deutlich gezeigt, und das sollte nicht nur Großbritannien, sondern alle Staaten der Europäischen

Union beschäftigen: Ein bisschen Populismus funktioniert nicht. Wenn man die Argumente der Populisten übernimmt, um sich einen Vorteil zu verschaffen und innerparteiliche Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden – auch das hat bei den Tories in Großbritannien eine Rolle gespielt –, muss man sich nicht wundern, wenn die Bürger die Argumente der Populisten glauben, man den Prozess dann nicht mehr steuern kann und ein Ergebnis herauskommt, das wohl auch Herr Cameron nicht vermutet hätte. Meine Damen und Herren, ein bisschen Populismus geht eben nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. Nancy Fae- ser und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Es gibt in Großbritannien eine lange euroskeptische Tradition. Ich darf an Margaret Thatcher erinnern mit ihrem berühmten Ausspruch: „I want my money back“. Das war das Einzige, was ihr lange Zeit zur Europäischen Union eingefallen ist.

Jetzt hat Herr Cameron versucht, einige populistische Argumente zu übernehmen. Es braucht aber nicht die Übernahme der Argumente der Populisten, sondern unser Auftrag muss es sein, eine eigene, eine positive Erzählung von Europa zu liefern, ein klares Gegenbild eines vielfältigen, sozialen und ökologischen Europas zu zeichnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Dieses Referendum hat noch etwas gezeigt, ob uns das gefällt oder nicht: Politik ist niemals alternativlos. Die Britinnen und Briten haben sich für eine Alternative für ihr Land entschieden. Ich finde diese Alternative ausdrücklich falsch, aber es ist eine Handlungsoption gewesen.

Politik ist immer das Angebot verschiedener Handlungsoptionen, verschiedener Alternativen. Wir können die Zustimmung zu Europa, wir können die Europäische Union nicht allein damit begründen, dass sie alternativlos sei, sondern wir müssen dafür werben, dass sie die beste aller denkbaren Alternativen für unser Land und diesen Kontinent ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das Referendum hat ein paradoxes Ergebnis. Ja, die Befürworter des Ausstiegs aus der Europäischen Union haben gewonnen. Aber die eigentlichen Verlierer sind die Populisten in Großbritannien. Denn was haben sie nicht alles vertreten? Was haben sie in dieser Kampagne nicht alles versprochen? „I want my country back“, hat Nigel Farage gesagt, er will sein Land zurück, ihm geht es angeblich um das große Ganze, ihm geht es um die Britinnen und Briten. – Und was sagt dieser gleiche Nigel Farage, dieser Populist, nach der Entscheidung? „I want my life back“. – Es ging ihm also immer um sich und sein Leben, niemals aber um die Interessen der Britinnen und Briten.

Diese Botschaft, dass das das Programm der Populisten ist, wirkt über dieses Referendum hinaus, und das sollte allen Menschen in ganz Europa eine Lehre sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNDEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)

„Take back control“, haben die Populisten gesagt: Wir wollen die Kontrolle zurück. – Was haben sie dann getan, als sie angeblich die Kontrolle zurückbekommen haben?

Sie konnten mit dieser Kontrolle nichts, aber auch gar nichts anfangen. Die Populisten wissen, wogegen sie sind, aber sie haben keine, aber auch gar keine Idee, wofür sie sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, dass dieses Referendum, die Macht von Politik und die Macht der Entscheidung der Bevölkerung bei der Jugend Europas ankommen.

Warum spreche ich von der Jugend Europas? – In Großbritannien hatten wir in den Umfragen und in den Nachreferendumsbefragungen eine Mehrheit für den Verbleib in der Europäischen Union. Wir hatten diese Mehrheit vor allem bei der jungen Generation. Dieses Referendum wäre auch für den Verbleib in der Europäischen Union ausgegangen, wenn eben diese jungen Menschen, die am meisten von Europa profitieren, zur Wahl gegangen wären.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Deshalb lautet die Botschaft für alle jungen Menschen in Europa: Wählen macht eben doch einen Unterschied. Deine Stimme kann etwas entscheiden. Du hast deine Zukunft selbst in der Hand. Mach von diesen Möglichkeiten aber auch tatsächlich Gebrauch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Meine Damen und Herren, dieser Brexit wird selbstverständlich Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation in Großbritannien, in Europa, in Deutschland und in Hessen haben. Dazu gibt es die unterschiedlichsten Untersuchungen – wer am Ende recht hat, weiß man heute nicht. Aber die Gefahr, dass dadurch Wohlstandsimpulse geringer werden, dass Arbeitsplätze verloren gehen, ist unheimlich hoch. Auch das sollten wir deutlich machen: dass mit der Europäischen Union eben auch Chancen auf Wachstum und Arbeitsplätze verbunden sind und dass diese Arbeitsplätze gefährdet sind, wenn wir von diesem europäischen Kurs abweichen.