Protocol of the Session on May 18, 2016

Wir LINKE lehnen diesen von Frau Merkel ausgehandelten Deal der Europäischen Union mit der Türkei auch deswegen ab. Ein bürgerkriegsführender Despot darf nicht zum Garanten humanitärer Flüchtlingspolitik erhoben werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Welche absurden Konsequenzen dies auch innenpolitisch hat, zeigt sich, wenn Merkel fordert, diese Vorschrift abzuschaffen, gleichzeitig aber Herrn Erdogan im konkreten Fall den roten Teppich für ein Strafverfahren gegen Herrn Böhmermann ausrollt. Das ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch im höchsten Maße politisch unklug.

(Manfred Pentz (CDU): Ich bin froh, dass Sie politisch immer so klug argumentieren!)

Der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung ist ein Herrschaftsmittel, um Proteste und Kritik zu unterdrücken und kritische Bürgerinnen und Bürger einzuschüchtern. Dafür gibt es in einem modernen Rechtsstaat keine Rechtfertigung mehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt unserer Ansicht nach keinen Grund, weshalb der normale Bürger und die normale Bürgerin strafrechtlich anders als ein ausländischer Staatschef behandelt werden sollten. Das gilt umso mehr, wenn es sich bei dem Staatschef um eine Person mit durchaus zweifelhaftem Demokratieverständnis handelt. Er tritt die Pressefreiheit mit Füßen und demontiert den Rechtsstaat. Auch deshalb müssen wir diese Sonderbehandlung abschaffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Problem in diesem konkreten Fall ist die Majestät Erdogan, der ein nachhaltig gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit, zur Meinungsfreiheit und zur Freiheit der Kunst hat. Das Problem ist die Kanzlerin, die versucht, diesem

Herrn Erdogan, dieser Majestät, gerade alles recht zu machen.

Aktuell versucht Erdogan, die Immunität türkischer Abgeordneter aufzuheben. Das richtet sich vor allem, aber nicht nur gegen Abgeordnete der HDP. Es gibt im Europäischen Parlament eine Petition dagegen. Sie wurde z. B. von Herrn Brok von der CDU und Frau Harms von den GRÜNEN gezeichnet. Sie richtet sich gegen die Aufhebung der Immunität der frei gewählten türkischen Abgeordneten.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns durch einen fraktionsübergreifenden Applaus zeigen: Herr Erdogan, lassen Sie die Finger von den Rechten frei gewählter Abgeordneter.

(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU – Zuruf von der CDU: Ach du liebe Zeit!)

Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen gerne dazu die Chance. Die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Freiheit der Kunst sind nach unserem Grundgesetz höchst zu schützende Güter. Sie stehen in Art. 5 Grundgesetz an prominenter Stelle. Sie werden dort garantiert. Sie sind nicht verhandelbar.

Das vorgesehene Strafverlangen der türkischen Regierung hat bei uns allen zu Recht Befremden ausgelöst. Denn gerade in der Türkei hat man kein besonders gutes Verhältnis zur Presse- und Meinungsfreiheit. Das konnten wir nicht nur in den letzten Tagen und Wochen beobachten.

Wir müssen und sollten hier nicht das Schmähgedicht beurteilen. Es war in eine satirische Gesamtkonstruktion eingebettet. Deswegen war das Zitieren im Bundestag in der letzten Woche seitens eines Mitglieds der CDU auch vollkommen irreführend, von Geschmacklosigkeit ganz zu schweigen.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Das Entscheidende ist die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und auch die Freiheit der Kunst. Meine Damen und Herren, wir dürfen uns durch einen Erdogan nicht vorschreiben lassen, was bei uns im Land Satire ist. Das dürfen wir uns auch von keinem anderen vorschreiben lassen. Dazu hat das Gericht in Hamburg deutlich gesprochen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will die Situation nutzen, um nochmals darauf hinzuweisen, dass in der Türkei 33 Journalisten im Gefängnis sitzen.

(Florian Rentsch (FDP): So ist es!)

Auf Weisung Erdogans haben 7.000 Journalisten ihren Job verloren. Lassen Sie uns als Vorbild zeigen, was Freiheit ist und dass wir uns in dieser schizophrenen Situation, obwohl es diesen Paragrafen im Strafgesetzbuch gibt – solange es ihn gibt, muss er selbstverständlich auch angewendet werden –, trotzdem nicht erpressen lassen. Dazu gehört nicht nur ein gewisses Standing, sondern auch, dass wir diesen Paragrafen abschaffen.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der FDP)

Die Rechtslage, in der wir leben, ist anachronistisch. Denn es ist im 21. Jahrhundert völlig unangemessen, ein Sonderstrafrecht für bestimmte Personengruppen festzuschreiben, die in besonderer Weise Gegenstand einer kritischen Berichterstattung oder einer künstlerisch-satirischen Ausein

andersetzung sind. Die präventive Funktion des Strafrechts soll zur Rechtstreue anhalten. Sie darf nicht zur Selbstzensur führen.

Aus all diesen Gründen müssen wir alle Sonderbeleidigungsdelikte unseres Strafgesetzbuches abschaffen. Dazu gehört zuvörderst § 103. Wir dürfen dabei aber nicht stehen bleiben. Es gibt noch mehr Zöpfe abzuschneiden. – Ich bedanke mich.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Kollege Wilken, vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Herr Kollege Grumbach für die SPD-Fraktion. Herr Kollege, bitte schön, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal fragt man sich, was Debatten und ihre Überschriften über eine Gesellschaft aussagen. Wir haben viele ernste Themen: Die bewaffneten Konflikte nehmen zu, und Europa droht zu zerbrechen. Wir haben in Deutschland und Europa eine Rückkehr von nationalistischen Tendenzen und Rechtspopulismus. Die Flüchtlinge der Welt haben Europa ernsthaft erreicht. Oder wir hätten darüber reden können, was zwischendurch geschehen ist. In der Realität sollen 138 Abgeordnete ihrer Rechte beraubt werden, damit sie in einem politischen Strafprozess vor Gericht gestellt werden können.

Was aber macht diese Republik? Sie beschäftigt sich zwei Wochen lang in 1.000 Presseerklärungen mit einem spätpubertären Satireversuch.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich muss ehrlich sagen, wenn sich der Fokus von der Sache zur Form hin verschiebt und wenn in der Form dann noch das eine oder andere anzumerken ist, von dem ich das Gefühl habe, dass es nur um die öffentliche Wirkung geht: Wer das Interview mit Herrn Böhmermann nach der Wiederaufnahme seiner Tätigkeit gehört hat – er sagt darin, er habe noch einmal mit seinem PR-Berater gesprochen und müsse sein Image ändern –, kann auf die Idee kommen, dass die Frage, ob man den § 103 StGB zu einem Landtagsthema macht, auch von einem PR-Berater gekommen ist. Eigentlich sind wir uns alle einig, dass das ein alter Zopf ist, der abgeschafft werden muss.

Ich sage das einmal als Sozialdemokrat: Der § 103 StGB und sein innenpolitisches Pendant sind ursprünglich wegen uns erfunden worden. Es waren die sozialdemokratischen Abgeordneten, die damit geschurigelt werden sollten, weil sie im Parlament immer wieder den Kaiser, die kaiserliche Regierung und das eine oder andere fremde Staatsoberhaupt kritisiert haben. Es waren die sozialdemokratischen Abgeordneten, die unter diesem Paragrafen gelitten haben. Ich habe aber die Hoffnung, dass die FDP das als Wiedergutmachung betrachtet.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Dieser Paragraf war schon aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden. Der freidemokratische Justizminister Thomas Dehler hat ihn 1953 in der Regierung Adenauer wie

der eingefügt, weil die Alliierten ihn herausgeworfen hatten.

(Florian Rentsch (FDP): Warum denn?)

Weil sie die Folgen dieser Art von Gerichtsbarkeit wollten.

Die spannende Frage, die Sie sich stellen müssen, ist, ob Sie an der Stelle Ihre eigene Geschichte einmal ein bisschen aufarbeiten wollen und der deutsche Liberalismus in dem Punkt ein paar kleinerer Korrekturen bedarf.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Es tut mir furchtbar leid, aber es gehört zu meinen Eigenschaften, ein schrecklich gutes Gedächtnis zu haben und das, was ich irgendwo einmal gehört habe, dann auch nachzuprüfen. Das war ein Beispiel dafür.

Der nächste Punkt ist die Frage: Was darf Satire? Ich finde, diese ganzen hoch hehren Debatten liegen, ehrlich gesagt, über der Schwelle dieses Teils der Satire. Satire darf natürlich erst einmal alles, da bin ich bei Tucholsky. Wir haben ihn gerade mit einem Denkmal für Fritz Bauer gefeiert und an den Frankfurter Gerichtsgebäuden die große Inschrift anbringen lassen „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Warum? Weil nicht nur der normale Mensch ein Recht auf seine Würde hat, sondern auch der Verbrecher oder der Diktator. Wer auch immer welchen Text schreibt oder sagt, muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Gehe ich über die Grenzen hinaus, die diese Würde angreift, ja oder nein?

Mit Verlaub: Es ist doch kein Zufall, dass von diesem ganzen längeren Machwerk nur zwei bis drei Sätze übrig bleiben, die etwas mit Politik zu tun haben. Der Rest, der im Prinzip nur eine Herabwürdigung einer Person darstellt, hat das Gericht nicht passiert. Ich finde schon, in einem Zeitalter, in dem Pegida und andere glauben, es sich in jedem Internetforum leisten zu können, Menschen herabzusetzen, sollten wir darauf achten, wer mit welcher Sprache redet. Das ist nicht unsere Verantwortung, das ist die Verantwortung der Autoren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Die spannende Frage ist: Wer kontrolliert eigentlich die Satire? Ich sage: in erster Linie der, der schreibt, kontrolliert sich selbst. Der Kollege, der für das berühmte Lied in „extra 3“ verantwortlich ist, hat dazu relativ schlicht gesagt: Es gibt ein paar simple Spielregeln. Eine der Spielregeln lautet: Satire richtet sich immer gegen die Mächtigen. Sie richtet sich nicht gegen die Schwachen. – Ich will einmal daran erinnern, wie begeistert viele Leute Stefan Raab Beifall geklatscht haben, als er mehrfach schlichte Bürger öffentlich bloßgestellt hat, die nicht in der Lage waren, einen klaren Satz zu sprechen. Ich halte das für einen Punkt, an dem wir darüber reden müssen, dass es Grenzen dafür gibt, wo die Menschlichkeit angegriffen wird. Ich finde, das muss man in dieser Debatte auch sagen.

(Beifall)

Der zweite Punkt ist: Satire darf nicht auf einer Falschbehauptung aufbauen, wenn klar ist, dass das, was sie angreift, nicht wahr ist. Das richtet sich jetzt einmal nicht gegen Herrn Böhmermann, sondern es betrifft die grundsätzliche Frage: Wer kontrolliert was? Der Rest ist erst einmal erlaubt.

Das deutsche Grundgesetz – das ist hier zutreffend zitiert worden – schützt Satire doppelt. Es schützt sie über die Meinungsfreiheit, was der kleinere Schutz ist, und über die Freiheit der Kunst. In der Tat muss man sich dann mit der Frage befassen, wie das Spannungsverhältnis zwischen der künstlerischen Freiheit und der Menschenwürde auszuloten ist.

Wer sich das Urteil zu den Hachfeld-Karikaturen von Franz Josef Strauß angeschaut hat, wird feststellen, dass dort ein engerer Maßstab gezogen wird, als es heute üblich ist. Dort waren die Kooperation und die Verfilzung zwischen Justiz, Unternehmen und der bayerischen Landesregierung als Kopulation dargestellt. Das Gericht hat diese politisch beschreibbare Geschichte schon als über die Grenze hinausgegangen eingestuft. Ich glaube, dass die Debatte heute ein bisschen anders verlaufen würde.

Aber man muss der Debatte Grenzen setzen. Ich finde, auch all diese dummen Tricks, indem man behauptet: „Ich mache jetzt einmal eine Vorrede und sage, das, was ich hinterher sage, ist verboten“ – – Ich würde doch auch nicht sagen: „Janine Wissler, ich weiß genau, dass das, was ich jetzt vortrage, einen Ordnungsruf gibt“ und dann stundenlang Geschichten über dein Privatleben erzählen.

(Clemens Reif (CDU): Oh, oh, oh! – Heiterkeit)