Protocol of the Session on November 26, 2015

Auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum FlickSkandal aus dem Jahr 1984, das schon länger zurückliegt, macht deutlich, dass die Exekutive – damals die Bundesregierung; das schließt die Landesregierung mit ein – einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht ohne Weiteres Akten unter Berufung auf das Staatswohl vorenthalten darf. Das ist eine weitere Bestätigung der Begrün

dung. Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund für das bisher praktizierte Vorgehen der Landesregierung.

Wir haben Akten, in denen mehrere Blätter fehlen – die übrigens als hoch geheim eingestuft werden. Ich will einmal ein besonders markantes Beispiel herausgreifen: Wir haben Akten, die als geheim eingestuft sind – ich darf jetzt nicht näher auf diese eingehen –, aber darin sind Dokumente, die öffentlich zugänglich sind: Presseberichte und Einladungen zu Sitzungen des Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das zeigt die ganze Absurdität. Die gesamte Akte wird als geheim eingestuft, und wer daraus zitiert, macht sich möglicherweise des Geheimnisverrats schuldig. Damit wird deutlich: Wer ein Interesse an der Aufklärung hat, muss dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags die Akten, die er zur Aufklärung benötigt, ungeschwärzt zur Verfügung stellen. Man darf aber nicht ein solch absurdes Verfahren wählen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Schon gar nicht reicht die allgemeine Berufung auf das Staatswohl aus.

Worum geht es eigentlich in dem Untersuchungsausschuss 19/2? Um die Aufklärung des neunten Mordes einer schrecklichen Terrorserie, der in Hessen stattgefunden hat, aber natürlich auch um die Aufklärung dieser Morde insgesamt. Es geht im ersten Schritt darum, ob Sicherheitsbehörden versagt haben und wie es zu den Morden kommen konnte. Im zweiten Schritt geht es darum, welche Konsequenzen wir daraus ziehen.

Wir haben in den letzten Monaten viel Zeit verplempert, weil Schwarz und Grün viele Zeugen benannt haben, die wir zur Aufklärung überhaupt nicht benötigen. Aber das, was wir bisher herausbekommen haben, ist schon bemerkenswert – von wegen, die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und dem Landesamt für Verfassungsschutz war optimal, und alles war ganz wunderbar.

Natürlich geht es um die Kernfrage, ob in einem Rechtsstaat der Schutz einer Quelle des Verfassungsschutzes über der Aufklärung eines Mordes steht. Das ist eine zentrale Frage. Darüber werden wir uns genau auseinandersetzen, weil wir finden, dass in einem Rechtsstaat die Aufklärung eines Mordes ein elementares Gut ist. Das sind wir dem Mordopfer, der Familie, aber auch der Bevölkerung in diesem Land insgesamt schuldig. Da darf es keine Einschränkungen geben.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Was haben wir bisher schon erfahren? Die Mitarbeiter auf der Führungsebene des Verfassungsschutzes sind schon damals sehr wohlwollend mit Herrn Temme umgegangen. Herr Temme ist der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der am Mordtag fast genau zum Zeitpunkt der Mordtat im Internetcafé war. Es gibt keine schlüssigen Begründungen, warum er da war. Die Mitarbeiter des Landesamtes gehen sehr fürsorglich mit ihm um. Sie fragen ihn während des Telefonats, wie er sich denn fühlen würde. Er war Tatverdächtiger in einem Mord und hätte damals sofort vom Dienst suspendiert werden müssen. Anfang Juni 2006 hatte das Landesamt vor, Herrn Temme wieder in die Dienste des Verfassungsschutzes zurückzuholen. Aus den Akten

und den Vernehmungen konnten wir ermitteln, dass sie ihn für einen der besten Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz halten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Hessische Landtag wurde über diese Vorgänge vom damaligen Innenminister mehrere Monate lang nicht informiert. Erst durch einen Bericht in der „Bild“-Zeitung – man höre und staune – haben die Öffentlichkeit und der Hessische Landtag davon Kenntnis erlangt.

Deswegen: Wenn ein hochrangiger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, möglicherweise sogar der damalige Präsident, sagt, man könne die Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz lahmlegen, indem man eine Leiche danebenlegt, zeigt das: Hier stimmt etwas in der Grundausrichtung – im Verständnis – des Verfassungsschutzes nicht. Das müssen wir aufklären.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Jetzt kommen Schwarz und Grün daher und sagen: Wir machen euch ein großzügiges Angebot. – Das ist das erste grundlegende Missverständnis. Hier geht es nicht um Angebote. Nicht die Landesregierung kontrolliert das Parlament und die Abgeordneten. Nein, meine Damen und Herren, Sie müssen da etwas verwechselt haben. Es ist genau umgekehrt. Der Hessische Landtag kontrolliert diese Landesregierung und ihre Behörden. Das Verhalten, das Sie hier an den Tag legen, deutet auf ein grundlegendes Missverständnis hin.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Was Ihren ziemlich merkwürdigen Antrag betrifft: Was wir im Landtag behandeln, das müssen Sie schon uns überlassen. Ob Ihnen das persönlich passt oder ob in China ein Sack Reis umfällt, ist uns ziemlich egal. Wir entscheiden noch immer, was hier thematisiert und diskutiert wird.

Damit auch das klar ist: Sie unterstellen, dass die bisher vorgenommenen Aktenschwärzungen alle in Ordnung sind. Woher wollen Sie das eigentlich wissen? Haben Sie darüber schon einmal ein Gespräch mit der Landesregierung gehabt? Haben Sie mehr Erkenntnisse als wir? Sie haben bisher gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstoßen. Deswegen können Sie sich nicht hierhin stellen und sagen, alle Aktenschwärzungen sind berechtigt. Das ist ein völlig absurder Vortrag, wie in den Ziffern 1 und 2 Ihres Antrags deutlich wird.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP) – Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

Der hessische Untersuchungsausschuss hat eine Besonderheit. Sowohl die Einsetzung der Untersuchungsausschüsse in Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen und BadenWürttemberg als auch die Einsetzung des ersten und zweiten Untersuchungsausschusses in Berlin wurden einstimmig beschlossen. Das ist der zentrale, elementare Unterschied. So ist es auch gestern in der Debatte der ersten Sitzung des Untersuchungsausschusses in Berlin deutlich geworden. Überschrift: „Aufklären und neuem Rechtsterror vorbeugen“.

Wie sagte der Ausschussvorsitzende Herr Binninger, CDU? Herr Binninger hat eine hervorragende Figur bei seiner Aussage in Wiesbaden gemacht, wie übrigens alle

Obleute der Fraktionen des Bundestages, von der CDU bis zu den LINKEN. Da gibt es nicht die Spielchen und Mätzchen, eine Fraktion auszugrenzen. Er sagte:

In guter Tradition alles einstimmig, und das soll auch das Zeichen dafür sein, dass wir diese wichtige und schwierige Arbeit auch weiterhin parteiübergreifend machen wollen.

Ja, meine Damen und Herren, das ist der Ansatz. Das fordern wir von CDU und GRÜNEN im Hessischen Landtag hier und heute ein.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Wie die grüne Abgeordnete Irene Mihalic gestern in Berlin sagte:

Insbesondere das V-Leute-System, was sich im NSU-Umfeld bewegt hat, da sind für uns sehr, sehr viele wichtige Fragen zu klären.

Der eine oder andere aus derselben Partei sollte sich dies zum Vorbild nehmen, denn die Rolle der V-Leute ist in der Tat eine wichtige. Aber wenn ich nicht an Informationen komme, kann ich nicht aufklären – so einfach ist die Welt. Wenn Zeugen nur geheim vernommen werden können, hat die Öffentlichkeit nicht die Möglichkeit, daran teilzunehmen. Das ist eine der zentralen Fragen.

Durch diese schreckliche Mordserie ist das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert worden. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dieses verloren gegangene Vertrauen zurückzuholen. Wer das behindert, ist schuld, dass diese öffentlichen Diskussionen weitergehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen sage ich: Aufklärung, und zwar uneingeschränkt.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Wir sind schon sehr gespannt darauf, dass der Innenminister seinen Gesetzentwurf zur Reform des Verfassungsschutzes vorlegen wird. Dass das dringend notwendig ist, zeigen die bisherigen Ergebnisse. Auch in einem demokratischen Rechtsstaat braucht ein legitimierter Verfassungsschutz parlamentarische Kontrolle, und zwar eine richtige parlamentarische Kontrolle und nicht so, dass die Abgeordneten gegenüber Behörden als Bittsteller auftreten.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Wissen Sie, was wir nicht mehr hinzunehmen bereit sind? CDU und GRÜNE sprechen in Sonntagsreden von Aufklärung. Montags, wenn der Untersuchungsausschuss zwölf Stunden und länger tagt, wird mit allen möglichen Verfahrenstricks versucht, die Arbeit zu behindern.

Herr Bellino hat bereits gesagt, dass die Arbeit des Untersuchungsausschusses möglicherweise noch drei Jahre dauern kann. Nein, wir wollen in dieser Wahlperiode zu Ergebnissen kommen. Dinge, die da sind, müssen aufgeklärt werden. Wir wollen Konsequenzen ziehen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deswegen: Hören Sie auf mit Ihren Nebelkerzen.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Wir werden das alles juristisch prüfen. Wir sind durchaus erfahren, unsere Rechte durchzusetzen, wo es denn möglich ist. Da haben wir gute Argumente. Es liegt an Ihnen,

zu sagen: Wir wollen die Aufklärungsarbeit gemeinsam ernst nehmen. Das sind wir den Opfern und den Familien schuldig.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das liegt aber auch an Ihnen!)

Die Rolle der GRÜNEN: Wissen Sie, Sie haben sich mehrfach um 180° gedreht. Klären Sie endlich auf. Stellen Sie die Unterlagen diesem Untersuchungsausschuss zur Verfügung. Das ist der Ansatz, den wir wollen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. René Rock (FDP))

Vielen Dank, Herr Kollege Rudolph. – Bevor wir mit der Debatte fortfahren, darf ich für den Fall, dass Sie es nicht mitbekommen haben, für das Protokoll festhalten, dass wir den Antrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, Drucks. 19/2674, an den Ausschuss für Wissenschaft und Kunst überwiesen haben.

Nächster Redner ist der Kollege Bellino, CDU-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Fraktionen haben immer wieder betont, dass dieser Untersuchungsausschuss kein Ausschuss wie jeder andere ist. Mit ihrem Setzpunkt in der Aktuellen Stunde beweisen die Sozialdemokraten aber einmal mehr, dass es sich bei ihnen dabei nur um ein Lippenbekenntnis handelt. Da ist noch nicht einmal etwas von der „Verantwortungsbasis“ zu spüren, von der Fraktionsvorsitzender Schäfer-Gümbel am Dienstag sprach – und das bei diesem Thema.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Ist das Selbstkritik? – Zurufe von der SPD – Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Ich habe im Vorfeld mehrfach ausgeführt, dass eine solche Debatte dem Ansehen des Parlaments insgesamt schadet. Im Untersuchungsausschuss habe ich der Sache wegen immer wieder appelliert, auf Streit über Formalien und auf gegenseitige Unterstellungen zu verzichten. Aber es war vergebens. Schade.

Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Vielzahl von wahrheitswidrigen Unterstellungen in den letzten Monaten und auch heute wieder nehme ich jetzt die Gelegenheit wahr, diese öffentlich zu widerlegen und darzustellen, wie widersprüchlich und kontraproduktiv sich die Opposition verhält, wenn die Kameras ausgeschaltet sind oder wir nichts erwidern können, beispielsweise in Pressegesprächen.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Umgekehrt ist es richtig!)

Ich fange mit dem ersten Vorwurf an: Wir hätten versucht, den Untersuchungsausschuss zu blockieren, ja, zu verhindern.

(Günter Rudolph (SPD): Ha!)

Wahr ist, dass wir Ihnen angeboten haben, gemeinsam einen Text für einen Einsetzungsbeschluss zu erarbeiten, so, wie es in dem Untersuchungsausschuss auf der Bundesebene der Fall war.